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Schuld sind nur die anderen

Ein Interview mit dem israelischen Botschafter in Deutschland und unser Kommentar dazu

Zunächst das Interview aus der Frankfurter Rundschau im vollen Wortlaut:

"Wir sind verpflichtet, diesen Weg zu gehen"

Der Gesandte Israels in Deutschland, Mordechay Lewy, über die Zukunft des Friedensprozesses im Nahen Osten


Frankfurter Rundschau: Wie kann der Friedensprozess fortgesetzt werden?

Mordechay Lewy: Man muss jetzt in anderen Zeitkategorien denken. Es muss einiges Gras wachsen, bis die Enttäuschung in Israel so weit abgeklungen ist, dass auch die Regierung, wer immer sie auch stellen mag, die richtige Artikulation findet, um diesen Friedensweg weiter zu beschreiten. Wir sind nach wie vor verpflichtet, diesen Weg zu gehen. Wir wissen aber noch nicht, nachdem Yassir Arafat die Karten neu mischen wollte, ob an dem Punkt, an dem nach Camp David II aufgehört wurde, wieder angeknüpft werden kann.

Müssen völlig neue Wege beschritten werden?

Es ist uns klar, dass wir uns die Palästinenser nicht wegwünschen können. Genauso, wie sie uns nicht ins Meer werfen können, werden wir sie nicht in die Wüste schicken können. Oslo könnte in den meisten seiner Ansätze weitergeführt werden. Ich glaube zwei Dinge haben bislang standgehalten, bei jeder israelischen Regierung: Es muss zu einem territorialen Kompromiss kommen. Das heißt, keine Seite wird ihre Forderung zu 100 Prozent umsetzen können. Man wird in den noch strittigen Fragen eine gemeinsame Lösung finden müssen. Und das Zweite: Die Palästinenser sind nach wie vor unser Friedenspartner. Die Frage aber, ob Yassir Arafat als Person auch weiterhin unser Verhandlungspartner bleiben kann, wird nach diesen gewalttätigen Unruhen von sehr vielen Israelis bezweifelt.

Oslo strebt zwei Staaten an. Wäre eine bi-nationale Lösung auch eine Variante?

Nein, nein. Ich glaube, die Gewalttätigkeit, die unermesslichen psychologischen Schaden bei den Israelis hervorgerufen hat, zeigt, dass im Grunde die Idee von zwei Völkern in einem Staat begraben werden muss. Sie stand ja ohnehin nie hoch im Kurs. Aber wir müssen ein Minimum an Koexistenz wahren, wobei auch vertrauensbildende Maßnahmen wichtig sind. Andererseits überlegt man in Israel, wie man sich von einem palästinensischen Gebilde, Staat möchte ich noch nicht sagen, abkoppeln könnte. So dass die Gefahr solcher Gewalttätigkeiten in Zukunft - und keiner sagt uns, dass sie nicht wieder möglich sind, wenn Arafat und den Palästinensern die Verhandlungsführung nicht mehr gefällt - minimiert werden kann.

Sie haben gesagt, in Israel ist die Angst sehr groß. Woher kommt das Gefühl?

Die Gewalttätigkeiten haben zu einer großen Enttäuschung geführt. Nach Oslo hatten wir gehofft, dass die Belagerung Israels durch die Araber endlich zu Ende geht. Aber plötzlich wurde uns soviel Hass entgegengebracht, und wir sahen uns in die Lage wie vor 40 Jahren versetzt: Uns bedrohte ein Meer von Menschen - und übrigens nicht nur Palästinenser, sondern auch die arabischen Massen, die unter der Fahne Jerusalem stark für Palästina mobil machten. Dabei hat Israel ja nie im Leben vor, seine militärische Stärke gegen die Palästinenser voll auszuschöpfen. Und ich glaube, auch die Palästinenser haben es missverstanden und als israelische Schwäche verstanden, dass wir uns aus Südlibanon vereinbarungsgemäß nach Resolution 425 zurückgezogen haben. Sie haben uns diesen Schritt als Schwäche ausgelegt. Bei uns hat die Heiligkeit des Lebens Vorrang und der Staat muss die Sicherheit seiner Bürger garantieren. Unter den Palästinensern existiert eine ganz andere Kategorie, die Heiligkeit des Bodens und der Ehre hat Vorrang. Wo dann auch Opfer riskiert werden, um sie anschließend als Märtyrer feiern zu können.

Wie wirken in Israel die Angriffe gegen jüdische Einrichtungen in Europa?

Ich glaube, das trägt dazu bei, dass die Israelis sich noch isolierter fühlen. Weil Palästinenser und andere Araber versuchen, Konfrontationen, die gar nicht nach Europa gehören, hier auszufechten.
Aus: Frankfurter Rundschau, 20.10.2000

Hart und uneinsichtig

Unser Kommentar

Die Frankfurter Rundschau führte ein Interview mit dem israelischen Botschafter in Deutschland, Mordechay Lewy. Was dabei heraus kam, konnte man in der Ausgabe vom 20. Oktober 2000 lesen: Von "Enttäuschung in Israel" ist da die Rede, die erst einmal "abklingen" müsse, bevor wieder an richtige Verhandlungen zu denken ist. Es finden sich Schuldzuweisungen an die Adresse der Palästinenser - ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass das Vorgehen der israelischen Streitkräfte während der Oktoberunruhen möglicherweise überzogen gewesen sein könnte. Der Repräsentant der palästinensischen Autonomiegebiete, Yassir Arafat, wird indirekt beschuldigt, die Unruhen geschürt und geleitet zu haben; unverblümt wird somit der eigenen Regierung nahegelegt, mit Arafat nicht weiter zu verhandeln. Schließlich wird an das Gefühl erinnert, von einem "Meer von Menschen" - Palästinensern und Arabern - "belagert" und "bedroht" zu werden und diese Bedrohung wird mit einem dezenten Hinweis auf das militärische Machtpotenzial Israels beantwortet, wenn Lewy darauf verweist, dass Israel sich bisher noch nie veranlasst gesehen habe "seine militärische Stärke gegen die Palästinenser voll auszuschöpfen". Lewy vergisst dabei nur die Kriege, die Israel gegen seine Umgebung geführt und gewonnen hat, und die Gebietseroberungen im Gefolge dieser militärischen Siege. Und Lewy übersieht die über 100 Toten, die während der letzten drei Wochen auf palästinensischer Seite zu beklagen sind - überwiegend Jugendliche!

Für die Betroffenen muss es wie Hohn klingen, wenn Lewy von der "Heiligkeit des Lebens" spricht, die auf israelischer Seite "Vorrang" vor allem anderen genieße. Demgegenüber würden die Palästinenser nur die "Heiligkeit des Bodens" kennen, dem sie alles andere unterordnen und dafür auch Todesopfer in Kauf nehmen würden. Das ist ein Denken nach Kolonialherrenart: Erst nimmt man den Besiegten das Land und dann wirft man ihnen noch vor, dieses Land zu wichtig zu nehmen. Es ist fast wie im sprichwörtlichen Alltagsleben: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Die Geisteshaltung, die aus den Antworten von Lewy spricht, bereitet Sorgen, dass der "Friedensprozess" seit Oslo von israelischer Seite vielleicht doch nur mit halbem Herzen betrieben und nur unter dem sanften Druck des befreundeten Auslands (insbesondere der USA und Europas) in Gang gehalten wurde. Beim Lesen des Interviews stellt sich unwillkürlich der Eindruck ein, Israel ist der ganzen arabisch-palästinensischen Plage so überdrüssig, dass man sich das Übel möglichst schnell vom Halse schaffen möchte, oder, in Lewys Worten, man möchte sich von dem palästinensischen "Gebilde" (ein "Staat" soll es nicht werden) ein für allemal "abkoppeln".

Wenn diese Haltung Staatsdoktrin in Israel sein sollte und zudem die Mehrheitsmeinung der israelischen Bevölkerung ausdrücken sollte, dann kann einem um den Frieden im Nahen Osten wirklich nur bang werden.
Pst

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