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Scharons Geschenk zu Israels Unabhängigkeitstag

Was bedeutet die Verhaftung Barghoutis für den weiteren Konfliktverlauf?

Von Hans Lebrecht, Kibbutz Beit-Oren

Am vorigen Mittwoch (17. April) feierte Israel seinen Unabhängigkeitstag, nach dem jüdisch religiösen (Mond-) Kalender 54 Jahre nach der Ausrufung (damals am 14. Mai 1948) des jüdischen Staates Israel. Am Vorabend des diesjährigen Unabhängigkeitstages verhafteten israelische Spezialeinheiten den in den Untergrund verschwundenen Vorsitzenden der von Jasser Arafat angeführten El-Fatach Organisation und deren paramilitärischen Arm Tansim im Westjordangebiet, Marwan Barghouti. "Ein Geschenk des Sicherheitsgeheimdienstes Schin-Beth zum Unabhängigkeitstag" nannte Scharon die Inhaftnahme Barghoutis. Nun soll er vor ein Militärtribunal gezerrt werden, angeklagt der Führung einer Terrororganisation, welche unter anderem auch "Selbstmord-Mörder" nach Israel entsandte um unschuldige israelische Zivilisten umzubringen.

Gleichzeitig mit dieser zweifelhaften Errungenschaft der Sicherheitsdienste werden Gerüchte aus der kürzlich erweiterten "Sicherheitsküche" Scharons und des berüchtigten Scharfmacher Generalstabschef Mofas in Umlauf gesetzt. Aus diesen Gerüchten geht hervor, dass man erwägt, die von israelischen Panzern und Elitetruppen umzingelten Räume des eingesperrten Palästinenserpräsident Arafat zu "stürmen", die mit ihm eingeschlossenen "Terroristen-Anführer" entweder auf der Stelle zu erledigen, oder, wie Barghouti, zu inhaftieren, um sie vor ein Militärtribunal zu stellen. Was mit Arafat geschehen soll, ob ihn so nebenbei "aus Versehen zu liquidieren", oder ihn nach einem arabischen Buxtehude zu verbannen, steht noch offen.

Wer ist Marwan Barghouti? Auf keinen Fall begann er seine politische Laufbahn als Killer, wie ihn heute die Staatsterroristenchefs Israels hinstellen. Ich kenne ihn noch aus der Zeit, als er einer der hervorstehenden Friedensaktivisten im palästinensischen Lager war und er unzählige Treffen mit israelischen Friedensaktivisten aller politischen Färbungen unterhielt. Wenn er, wie dies die israelischen Scharfmacher heute ihm vorwerfen, einer der schlimmsten Terroristen Anführer wurde, so sollte die Schuld dafür ausschließlich auf die Schultern des äußerst brutal unmenschlichen Besatzerterrors geladen werden. Marwan Barghouti kennt doch die israelischen Folter- und Kerkerzellen aus eigener Erfahrung. Sechs Jahre musste er beide dieser Arten kennenlernen, bevor er damals aus seiner Heimat gewaltsam deportiert wurde. Er spricht seither nicht nur die hebräische Sprache der Unterdrücker, sondern kennt auch ihre Mentalität wie kaum ein anderer palästinensischer Politiker und Widerstandsaktivist.

Dass Barghouti kein faires Gerichtsverfahren zu erwarten hat, ob vor einem Militärtribunal oder der Farce eines zivilen Gerichtshofs, der nach dem in Israel geltenden angeblichen "Verteidigungsgesetz vor Terror und Sicherheitsvergehen" urteilt, sollte klar sein. Wie ich zum Beispiel persönlich während meines eigenen Spionage-Prozesses 1978 erfahren musste, ist nach dieser angeblich zivilen Rechtssprechung nicht der Staatsanwalt verpflichtet, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, sondern der Angeklagte muss selbst seine Unschuld glaubhaft machen. Das ist ein ausgesprochenes faschistisches Diktatur-Gesetz. Ohne mein standhaftes Auftreten vor jenem Gericht, ohne gute Rechtsanwälte und vor allem ohne die weltweite Solidarität mit mir als ehemaliger Anti-Hitler-Untergrund-Aktivist und meiner kommunistischen Partei, wüsste ich nicht was mein Schicksal gewesen wäre.

Nun fragen sich viele in Israel und weltweit, was Scharon und seine Spießgesellen mit Barghouti vorhaben. Nicht wenige in Israel spekulieren, dass die Verhaftung von Marwan Barghouti nur ein politisches Manöver sei, diesen sehr populären Politiker und Widerstandsanführer, der auch noch während der letzten Tage vor seiner Verhaftung seine Meinung klar und deutlich ausgedrückt hatte, für spätere Pläne auszunutzen. Barghouti betonte immer wieder, der gerechte und legitime Widerstand der Palästinenser werde solange weitergehen, solange die israelische Besetzung des Westjordangebietes, einschließlich des besetzten Teils von Jerusalem und des Gazastreifens anhält. Auch die brutalste miliärische Unterdrückun könne daran nichts ändern. Frieden und Einstellung des Widerstandes kann und wird erst dann möglich sein, wenn Israel mitsamt den kolonialistischen Siedlern sich zu den Linien von vor dem Juni 1967er-Krieg zurückziehen wird - so Barghouti in einem weltweit erst vor zwei Wochen ausgestrahlten BBC- und Al-Dschassira-TV-Interview aus seinem Versteck. Einige erfahrene israelische Medienanalytiker (z.B. Gideon Levy im Ha'aretz und Aaron Barnea in Yedioth Agaronoth) spekulieren sogar, ob Barghouti eventuell als ein zukünftiger israelischer Nelson Mandela verhaftet wurde, um einmal, nach "Erledigung" von Arafat, aus dem israelischen Kerker entlassen, die Führung im werdenden Staat Palästina zu übernehmen.

Nicht nur in diesem Zusammenhang, sondern vor allem im Zusammenhang mit den schrecklichen menschenrechtswidrigen, im Laufe der sogenannten "Schutzwall" begangenen Kriegsverbrechen, wird allgemein festgestellt, dass das Scharon-Kabinett einen augenscheinlichen weiteren Rechtsruck durchmacht. Die Aufnahme des neuen Ministers Efal Eytan, der täglich sein politisches Programm der unter der Handelsmarke "Transit" laufenden ethnischen Säuberung des gesamten Gebiets des ehemaligen Palästinas von arabisch-palästinensischen "Eingeborenen" betont, ist nicht von ungefähr. Viele Friedensaktivisten sehen in der "Schutzwall"-Agression eine Vorstufe dieser ethnischen "Transit"-Säuberung. Sowohl Scharon als auch sein Generalstabschef Mofas, der schon durchblicken lässt, dass er in einem zukünftigen Netaniahu-Kabinett gerne "Verteidigungs" Minister werden will, haben dahingehende Äußerungen gemacht, man solle die 1948 und 1967 angefangene Vertreibung zu Ende führen. Nur so könne, nach ihrer Meinung, die Sicherheit Israels und seiner Bürger gewährleistet werden.

Auf diesem Hintergrund sollte auch der Rücktritt des Generaldirektors des Regierungschef Amtes, Uri Schani, eines viel Jahre langen engsten Vertrauten von Scharon, der bisher bei allen Auftreten von Scharon, einschließlich den vertrautesten Begegnungen mit ausländischen, einschließlich USA-Potentaten, Scharon zur Seite stand, betrachtet werden. Sollte dies, wie einige Medien-Kommentatoren bemerken, als ein Anfang vom Ende der Scharon Regierung eingeschätzt werden? Die Frage steht einstweilen noch offen.

Dass in Wirklichkeit mit chauvinistischen Wahnwitzplänen die tatsächliche Zukunft des Staates Israel und seiner Sicherheit aufs blutige Spiel gesetzt wird, wollen die sich als Patrioten aufspielenden Wahnwitzigen nicht wahrhaben. Die Zukunft für Israel in Frieden und Sicherheit liegt doch nicht in von den Bushmännern im Washingtoner Weißen Haus unterstützten militärischen Großmachtfantastereien. Diese Zukunft liegt ausschließlich in einer Politik des Friedens und der Sicherheit für alle Völker des Nahen Ostens, des israelischen wie des palästinensichen und aller arabischen Völker der Region, in einer politischen Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf Grund des gesunden Menschenverstands und der verschiedenen, diesem Thema gewidmeten Beschlüssen der Vereinten Nationen und seines Sicherheitsrates.

Kibbutz Beit-Oren, 21. April 2002


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