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Israel-Palästina: Die blutigste aller bisherigen Wochen

Doch der Druck auf Scharon trägt erste Früchte

Von Hans Lebrecht, Kibbutz Beit-Oren

Ich habe aufgehört die Toten des Nahostkonflikts zu zählen. Nach Medienberichten waren es im Verlauf der vergangenen Woche (4.-10. März) mindestens 214 Palästinenser und 42 Israelis, darunter bewaffnete Widerstandskämpfer und Okkupationsarmee-Offizieren und -Mannschaften, Zivilisten, darunter Frauen, Kinder, Greise auf beiden Seiten. Auf die Provokationen der israelischen Okkupanten folgten Anschläge auf jüdische Siedler und Soldaten in den besetzten Gebieten und auf Zivilisten in Israel und als "Vergeltung" dafür brutale Zwangsmaßnahmen und militärische Invasionen von Elitetruppen und schweren Panzern in palästinensische Orte und dicht bewohnte Flüchtlingslager, Verwüstung anrichtende Raketenangriffe der israelischen Luftwaffe auf palästinensische Städte, und wiederum blutige Selbstmordattentate auf ein ultra-orthodoxes College im Gazastreifen, in West-Jerusalem, Netanjah und und, und nochmals und. Es war die bisher blutigste Woche aller bisherigen immer wieder blutigsten Wochen des seit 17 Monaten andauernden palästinensischen Intifada Widerstandskampfes gegen die Okkupation und des schon ein Jahr langen Versuchs des Scharon-Regimes, diesen mit brutalen militärischen Mitteln und kolonialistischen Unterdrückungsmethoden niederzuschlagen. Wie der bekannte führende Friedensaktivist Uri Avneri dies ausdrückte: Mit seiner ganzen militärischen Vergangenheit als Brigadegeneral versteht Scharon nicht, dass der legitime Guerillakampf eines Volkes nicht mit massiven Militärmethoden einer noch so gut für einen Krieg gegen eine feindliche Armee trainierten und ausgerüsteten Armee, mit Panzern und Luftterror ausgelöscht werden kann. Er solle doch mal das Buch von Mao Ze Tung zur Hand nehmen, um zu lernen, wie ein Guerillakrieg geführt wird und dass ein solcher nicht durch eine Armee erstickt werden kann, meint Avneri. Er machte diese Bemerkung als Antwort auf die Drohung Scharons, die Palästinenser müssten mit allen Mitteln vernichtend geschlagen und vollständig entwaffnet werden, erst dann würden sie um Waffenruhe betteln und zum Frieden bereit sein.

Als ehemaliger antifaschistischer Untergrund-Aktivist gegen das Hitler-Regime kann ich nur hinzufügen, dass den Nazi-Besetzern und Unterdrückern der meisten Völker Europas der brutalste Mordterror gegen die Partisanen "Banditen" und den Widerstand der Völker, nicht einmal die sogenannten "Strafaktionen" der Zerstörung ganzer Dörfer, wie Lidice und Oradour, halfen. Trotz ihrer hochqualifizierten, mit den damals modernsten Waffen aller Gattungen ausgerüsteten Armee wurden sie besiegt und mussten, hoffentlich für immer, von der politischen Bühne abtreten. Allerdings, und das ist heute im Falle des Nahostkonflikts ebenso wichtig wie damals: Die nationalen Befreiungskämpfer wurden durch das Eingreifen der allierten Anti-Hitler Koalition unterstützt und ihnen wurde dadurch zum Sieg, zur nationalen Befreiung von den Nazi Besetzern, zur Wiedererringung ihrer eigenen Staatlichkeit verholfen. Das ruft auch heute eine internationale Schutztruppe für die um ihre nationale Befreiung kämpfenden Palästinenser auf den Plan. In dem die Nazi-Hauptverbrecher verurteilenden internationalen Tribunal wurde - sowohl in den Statuten, als auch den Urteilen - ausdrücklich bestimmt, dass ein Volk, dessen Land militärisch durch die Armee eines anderen Landes besetzt ist, das volle Recht hat, sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (d.h. auch mit Waffen) zu wehren und Widerstand zu leisten.

Scharon, der heutzutage nicht nur auf der internationalen Ebene, sondern auch zuhause in Israel von vielen als traditioneller Kriegsverbrecher bezichtigt wird, soll sich, zusammen mit seinen Arbeitspartei Kabinettskumpanen, das mal hinter die Ohren schreiben. Vielleicht, vielleicht hat er schon den Wind gerochen, der da um ihn herum weht. Zu dem rapide anwachsenden Druck einer zusehends stärker werdenden öffentlichen Meinung in Israel, der von Woche zu Woche größere aktive Teilnehmerzahl verzeichnenden Protestaktionen gegen seine Gewaltpolitik und der Forderung nach Aufgabe der Okkupation und Rückkehr zu den israelischen Grenzlinien von vor 1967, zur Evakuierung der auf palästinensischem Boden eingenisteten jüdischen Siedlungen und unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen mit der gewählten palästinensischen Führung, kommt jetzt auch der auf internationaler Ebene ausgeübte Druck auf ihn. Die weltweite Unterstützung für die Initiative des Saudischen Kronprinzen Abdullah, die Ende dieses Monats auf der Tagesordnung der Gipfelkonferenz der arabischen Staatengemeinschaft in Beirut behandelt werden soll, zu der sich jetzt sogar der USA Außenminisiter Collin Powell sowie die Außenminister der EU Staaten positiv ausgedrückt hatten, zusammen mit der inneren Entwicklung in Israel, taten das Ihrige, um von Scharon plötzlich, wenn auch wahrscheinlich gezwungenermaßen, etwas andere Töne zu hören. Plötzlich drückte er sich dahingehend aus, die Türe des Käfigs, in welchen er den Palästinenserpräsidenten in Ramallah eingesperrt hat, ein wenig, oder eventuell sogar überhaupt zu öffnen.

Wie viele andere Israelis war ich entsetzt auf meinem Fernsehschirm mitansehen zu müssen, wie in den beiden Flüchtlingslagern bei Tul Karm mehr als eintausend Männer im Alter von 14 bis 55 auf einem Platz zusammengetrieben wurden und dann ein Offizier eine "Selektion" nach einem entsätzlichen Vorbild durchführte, einige der Männer nach Hause entließ und andere, einige hundert dieser Menschen, gefesselt und ihrer Oberkleidung entblöst, in ein israelisches Haftlager verschleppen ließ. Und dann kam die großsprecherische Fernsehaufnahme des diese Aktion kommandierenden Generalmajors, der stolz behauptete, "die sich kampflos ergebenden Terroristen" unschädlich gemacht zu haben. Es tat mir richtig gut, gleich danach mich zu den etwa eintausend zählenden, meist der jungen Generation angehörigen Israelis zu gesellen, welche ihre Solidarität mit den "Refusniks", denjenigen Soldaten, die den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, auszudrücken. Sie erstiegen den Felsenabhang des Karmelgebirges, von welchem man Einsicht in das Militärgefängnis Nr 6 hat, in welchem einige dieser Refusniks gerade einsitzen. In Sprechchören und Lautsprechern, auf Transparenten erhoben sie ihre Losungen gegen die Scharonpolitk. Ich beteilige mich an diesen, von der Jesch-Gvul (soviel wie "bis hierher und nicht weiter") Bewegung initiierten Felsberg Aktionen schon seit den ersten Refusniks nach der mörderischen, ebenfalls von Scharon angezettelten Libanon Invasion vor 20 Jahren. Noch nie aber waren so viele Menschen dabei wie dieses Mal, so viele, dass zum ersten Mal sogar die israelischen Medien sich gezwungen sahen, darüber berichten.

Die so krassen, für Israel sich negativ auswirkenden Fernsehreportagen aus den wiedereroberten Flüchtlingslagern, die darin von schwerbewaffneter israelischer Soldadeska angerichteten Verwüstungen und die brutalen Gewaltmaßnahmen gegen Zivilisten, Frauen und Kinder, können nicht länger die von Scharon und seinen Spießgesellen tagein, tagaus propagierte "Arafat-gleich-Bin-Laden"- "Terroristenbekämpfungs"-Theorie aufrechterhalten. Wieweit Scharon allerdings damit gehen wird, ist noch abzuzwarten. Aber kaum einer in Israel nimmt diese plötzliche geringfügige Einsicht wirklich ernst. "Scharon war und bleibt der kriegsverbrecherische Brigadegeneral, der er seit eh und je war, obwohl jetzt im Gewand eines Ministerpräsidenten", vermerkt der Ha'aretz Kommentator Joel Markus.

Kibbutz Beit-Oren (Israel
10. März 2002


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