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Israelkritik ist kein Antisemitismus

Von Moshe Zuckermann *

Deutschland und Israel – die schiere Erwähnung der Namen beider Länder in einem Atemzug läßt sofort aufhorchen. Ein leises Unbehagen schleicht sich ein, das sich aus dem mitschwingenden Gefühl einer geschichtlichen Katastrophenverschwisterung speist: Das historisch schuldbeladene Deutschland ist dabei als Täterland, Israel – nicht nur, aber eben auch nachmaliges Erzeugnis der Shoah – als Land der Opfer kodiert. Es mag hier unerörtert bleiben, wie es dazu kam, daß Israel nach der großen Katastrophe des jüdischen Volkes das staatliche Monopol auf die Shoah-Erinnerung beanspruchen und sehr bald nach seiner Gründung auch matrialisieren durfte. Israel begriff sich als Zufluchtsstätte der Überlebenden und wurde von vielen Überlebenden in der Tat auch als solche wahrgenommen; es ist daher müßig, daran zu erinnern, daß eben nicht alle Überlebenden Israel als das Land ihres lebensgeschichtlichen Neubeginns erwählten, wie denn ein Großteil des jüdischen Volkes bis zum heutigen Tag nicht in Israel, sondern in vielen Ländern der "Diaspora" lebt. Klar dürfte freilich eins sein: Von Anbeginn gestalteten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel als das prekäre, durch eine höchst problematische, wenn auch nachvollziehbare Vermengung von Schuldgefühlen, praktischen Interessen und interessengeleiteter Schuldabtilgungs-Ideologie gekennzeichnete Verhältnis, als welches es sich bis zum heutigen Tage manifestiert.

Nun wurde der Staat Israel nicht im geschichtslosen Raum gegründet, sondern es wählte sich schon in seiner zionistischen Vorgeschichte ganz bewußt das Territorium zu seiner Errichtung aus, welches es ihm ermöglichte, geschichtliche Kontinuität durch Anknüpfung an biblische Zeiten vorzugeben. Da aber dieses Territorium, trotz aller nachhaltigen ideologischen Bekundungen des Zionismus, mitnichten unbevölkert war, als man es zu kolonisieren begann, zeitigte das, was sich als Schuldabtragung "der Welt" gegenüber dem jüdischen Volk ausnehmen mochte, ein großes, an den Palästinensern begangenes historisches Unrecht, mithin den bis heute währenden Nahostkonflikt. Man muß nicht mit dem moralisierend pathosgeschwängerten Spruch, daß die (jüdischen) Opfer zu Tätern geworden seien, aufwarten, um dennoch die Tragik der Konstellation zu erkennen (und anzuerkennen), daß die Notwendigkeit, nach der Shoah einen Staat für die Juden zu errichten, mit der Katastrophe des palästinensischen Volkes bezahlt wurde. Wer dies bewußt ignoriert oder vorbewußt verkennt, mag sich mit dem guten Gefühl herumtragen, seiner (schuldbeladenen) Verantwortung "den Juden" gegenüber Genüge zu tun, darf indes nicht beanspruchen, die Logik des blutigen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern angemessen begriffen, geschweige denn beurteilt zu haben.

Historisches Unrecht contra heutigem Unrecht

Dies gilt umso nachhaltiger seit 1967. Denn nicht nur betreibt Israel seit über vierzig Jahren ein gewalt- und repressionsdurchwirktes Okkupationsregime in den von ihm im 1967er Krieg eroberten Gebieten, allen voran im Westjordanland, sondern das von ihm in diesen Territorien über Jahrzehnte errichtete Siedlungswerk, das mittlerweile zu einer Art Staat im Staat herangewachsen ist, treibt Israel in eine Sackgasse, die es ihm weder ermöglicht, eine emanzipative Friedenpolitik im Sinne der Zwei-Staaten-Lösung zu betreiben, noch in perspektivloser Stagnation zu verharren, wenn es nicht den binationalen Staat, der das Ende des Zionismus zur Folge haben müßte, objektiv befördern möchte. Israel fügt also nicht nur den Palästinensern unermeßliches Leid zu, sondern es erstickt mittlerweile an der eigenen Politik, weiß mithin selbst nicht mehr, wie es mit den selbsterzeugten Zuständen umgehen soll. Wer Israels Politik heutzutage kritisiert, darf sich also nicht nur als Parteigänger der unterdrückten Palästinenser begreifen, sondern sich nicht minder auch als besorgter Sachwalter wirklicher israelischer Interessen fühlen. Schon lange treibt nicht wenige Bürger Israels die Ahnung um, daß Israel vor sich selbst gerettet werden müsse, wenn es historisch überdauern soll.

Die hohe israelische Politik und die von ihr mitbestimmte öffentlichen Debattenkultur des Landes wollen davon für gewöhnlich freilich nichts wissen. Kritik an Israels Politik, auch dort, wo sie sich gegen offensichtliches Unrecht und eklatante Völkerrechtsverletzungen richtet, werden immer schon, besonders aber in den letzten Jahren rechter Regierungskoalitionen, als Antisemitismus abgeschmettert. Das Ideologische dieser Reaktion erweist sich an den unhaltbaren Verknüpfungen, die dabei gemacht werden: Der sich aus dem Nahostkonflikt speisende Antizionismus arabischer Länder wird auch denen, die Israels Politik kritisieren (und sich somit wie von selbst auf die palästinensische Seite schlagen), automatisch zugeschrieben, vor allem, wenn die israelkritischen Stimmen aus Europa kommen. Denn Europa als Kontinent der Shoah kodiert sich vielen Israelis immer noch als antisemitisch. Was also den Arabern/Palästinensern als Resultat des politischen Territorialkonflikts mit Israel zugeschrieben wird – nämlich Antizionismus –, wird im Zusammenhang mit Europäern von vornherein als tendenziell antisemitisch eingestuft. Antizionismus und Antisemitismus gerinnen somit vielen Israelis und nichtisraelischen Juden zu einem Einheitsbrei, den sie nun instrumentalisieren, um die in der Sache berechtigte Kritik an Israels Politik abzuwehren, wobei der Vorwurf des Antisemitismus zumeist wenig mit dem realen Antisemitismus zu tun hat.

"Antisemitismus" wird zum Kampfbegriff

Es ist müßig, nachzuweisen, daß Antizionisten (mitunter auch Israelkritiker) zwar von Antisemitismus angetrieben sein können, Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israel jedoch strikt voneinander zu unterscheiden sind, wenn man nicht in die Falle hineintappen möchte, den Antisemitismus-Vorwurf heteronom zu funktionalisieren. Antizionistisch eingestellte (orthodoxe oder kommunistische) Juden sind nicht ihrer Gesinnung wegen schon antisemitisch; ausgepichte Antisemiten können sich ohne weiteres als prozionistische Israelfreunde erweisen; Israelkritiker – jüdisch oder nicht – dürfen den Anspruch erheben, nach dem Sachgehalt ihrer Kritik und nicht anhand fremdbestimmter Zuschreibungen beurteilt zu werden. Müßig ist es aber deshalb, dies Selbstverständliche immer wieder hervorzuheben, weil der Antisemitismus-Vorwurf längst schon zur ideologischen Waffe verkommen ist, mit der jegliche Kritik an Israel entschärft werden soll, wenn sie ans Eingemachte geht: an die nicht mehr von der Gesamtausrichtung des zionistischen Staates zu trennende Politik, welche nicht nur das an den Palästinensern begangene historische Unrecht perpetuiert, sondern den zionistischen Staat selbst in den historischen Abgrund treibt. Mit dem Antisemitismus argumentierende Israelapologeten verkennen dabei vollends, daß sie einer Politik das Wort reden, die deshalb als antizionistisch zu werten ist, weil sie den geschichtlichen Fortbestand des zionistischen Staates, mithin des gesamten zionistischen Projekts im innersten in Frage stellt.

Israel vor sich selbst retten

Deutsche sehen sich in diesem Zusammenhang dem spezifischen Problem ausgesetzt, daß sich ihre Israel-Wahrnehmung von vornherein neuralgisch einfärbt. Weil sie objektiv mit der Bürde einer historischen Last behaftet sind, erweist sich ihr Zugang zu Israel zumeist als projektiv: Da Deutsche an den Juden schuldig geworden sind, ist der Umgang mit "den Juden" dahingehend tabuisierend fetischisiert, daß man "den Juden" als Nachkommen der Opfer und "ihrem Land" a priori als "Land der Opfer" zu begegnen hat. Dies hat viel mit der Befindlichkeit der Projizierenden, wenig aber mit realen Juden, geschweige denn mit dem realen Israel zu tun. Und so schließt sich ein Teufelskreis: Weil Juden, Zionisten und Israel als identisch kodiert werden, werden auch Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik gleichgesetzt. Die gehorsame Befolgung dieser Koordinatenmatrix geht stets mit eigenbefindlichem Realitätsverlust einher. Jeglicher Versuch, sich dieser automatischen Befolgung zu widersetzen, sieht sich indes der Drohung des fremdbestimmten Antisemitismus-Vorwurfs aus¬gesetzt. Es gehört im heutigen Deutschland einiger Mut dazu, das reale Israel als das Land der Okkupationspolitik wahrzunehmen. Somit gehört auch nicht minderer Mut dazu, das zionistische Land vor sich selbst retten zu wollen.

* Dr. Moshe Zuckermann, Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Von Moshe Zuckermann ist kürzlich das Buch erschienen: "Antisemit!" - Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Promedia-Verlag Wien


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 2, März/April 2011

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