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Anruf aus der Hölle / A Phone Call from Hell

Kriegsverbrechen wurden zum Tagesgespräch in Israel / War crimes have become a central subject of the public discourse in Israel

Von Uri Avnery

Es gibt eine direkte Telefonverbindung zwischen Himmel und Hölle. Ich kann es beweisen.
Dieser Gedanke kam mir in den Sinn, als ich einen schneebedeckten Gipfel in den italienischen Alpen erklomm, wo ich Gast einer politischen Konferenz war. Die Sonne schien, die Temperaturen waren um null Grad, rund um mich eine atemberaubende Landschaft weißer Berggipfel. Weit unten zogen Hirten mit ihren Herden zu grünen Weiden. Es war wie der Himmel auf Erden.

Plötzlich klingelte das Handy. Der Anruf kam aus Tel Aviv, wo das Thermometer auf 32 und mehr Grad hochkletterte. Die Radionachrichten aus Israel, die ich von Zeit zu Zeit hören konnte, berichteten von Getöteten und Verwundeten, von Angriffen und Vergeltung, von Bomben und Bombardements, von zerstörten Häusern und Deportationen und am Ende von Fabrikschließungen, Massenentlassungen, wirtschaftlichem Desaster. Wirklich die Hölle!

Meine Kollegen zu Hause riefen mich an, um mir von einer aufregenden Entwicklung zu berichten: Anfang August (4.(.) hatte Ha'aretz auf seiner Titelseite eine haarsträubende Sensation veröffentlicht: "Gush Shalom bedroht Offiziere: Wir sammeln Material gegen Euch für Den Haag". (Das war die Original-Schlagzeile auf hebräisch. In der englischen Ausgabe von Ha'aretz war dies etwas milder ausgedrückt)

Den Nachrichten nach - so wurde mir erzählt - hat der Premierminister seinem gehorsamen Diener, dem Generalstaatsanwalt befohlen, ein Strafverfahren gegen uns einzuleiten. Der Justizminister Meir Shitreet, ein drittrangiger Politiker, erklärte uns zur "fünften Kolonne". Der Minister für Kommunikation, Rubi Rivlin, von vielen als Clown betrachtet, erklärte feierlich: "Dies ist Verrat!"

Eine Anzahl von Politikern und Kommentatoren begann mit einer Lynchkampagne. Ausdrücke wie "Verräter", "Informant", "Capo" (die jüdische "Lagerpolizei", die den Nazis in den KZs diente), "Judenrat" (die "jüdischen Komitees" die von den Nazis in den Ghettos ernannt wurden) wurden unbedenklich angewandt.

Für all diese Aufregung gab es einen guten Grund. Anfang dieses Jahres entschied die Friedensbewegung Gush Shalom, wie viele Leute in Israel und im Ausland, daß die Tatsache nicht länger ignoriert werden könne, daß im Lauf der Operationen der IDF (Israelische Verteidigungskräfte) in den besetzten Gebieten Schreckliches geschieht, was sowohl israelisches als auch internationales Recht verletzt. Einiges davon könnten Kriegsverbrechen sein. Wir vom Gush entschieden, daß wir als israelische Bürger, die die Verantwortung für die Taten unserer Regierung und Armee tragen, die Pflicht haben, unsere Stimme zu erheben und eine ernste Mahnung zu äußern. (Vgl. hierzu auch die Stellungnahme von Gush Shalom).

Am 9. Januar hielten wir in einer großen Halle in Tel Aviv eine Konferenz über Kriegsverbrechen ab. Verschiedene Professoren für internationales Recht und zwei ranghohe Offiziere (im Ruhestand) waren die Referenten. Einer der Redner war ein Kriegsheld, der Luftwaffenoberst Ygal Shohat, der über Ägypten abgeschossen wurde und ein Bein verloren hat. Mit vor innerer Bewegung zitternder Stimme rief er seine Kameraden, die Kampfpiloten, auf, illegale Befehle nicht auszuführen, wie z.B. das Bombardieren von Wohnvierteln.

Alle Fernseh- und Radiostationen und die beiden größeren Printmedien ignorierten die Konferenz, zu der sie eingeladen waren. Es war eindeutig, daß alle angeschriebenen Medien sich entschieden hatten, das Problem mit den Kriegsverbrechen unter den Teppich zu kehren.

Das wurde ganz deutlich, als wir der "Stimme Israels", dem vom Staat geführten Radio-Netzwerk, ein bezahltes Inserat vorlegten, das die Soldaten über ihre Pflicht informierte, die Ausführung von "offenkundig illegalen Befehlen" zu verweigern. Es war buchstäblich die Wiederholung des Wortlauts eines Urteils des Militärgerichtes nach dem Massaker in Kafr Kassem im Jahr 1956. Kol Israel weigerte sich, dies zu senden. Wir baten den Obersten Gerichtshof, der Radiobehörde anzuordnen, das Inserat zu senden. Aber der Gerichtshof kam zu dem Schluß, daß er dafür nicht zuständig sei.

Also entschieden wir uns, eine direkte Aktion zu unternehmen. Wir verteilten unter den Soldaten einen Leitfaden, in dem die Verbote nach der Genfer Konvention, die Israel unterschrieben hat, aufgezeichnet waren. Unter diesen waren: Exekutionen ohne Gerichtsurteil ("Liquidationen" genannt), das Schießen auf unbewaffnete Zivilisten, Folter, die Verhinderung von medizinischer Behandlung, das Töten von Verwundeten (genannt: "Bestätigung des Todes"), Aushungern, Deportation.

"Schütze Dich selbst gegen Anklagen im Ausland!" steht im Leitfaden. "Als Soldat in einer Besatzungsarmee bist du besonders der Anklage von Kriegsverbrechen ausgesetzt. Eine strikte Befolgung dieses Leitfadens wird dich vor Verhaftung und Anklage im Ausland bewahren." Der Leitfaden schließt: "Soldat, denk dran! Während deines Militärdienstes, sei es als regulärer Soldat oder als Reservist, mußt du offensichtlich illegale Befehle verweigern. Wenn du Zeuge eines Kriegsverbrechens warst, ist es deine Pflicht dies zu berichten."

Zur selben Zeit sandten wir individuelle Briefe an gewisse Kommandeure und warnten sie davor, daß ihre Aktionen in Zukunft zur Anklage vor einem israelischen oder einem internationalen Gericht führen könnten. (Es gibt keinen Verjährung für Kriegsverbrechen.) In den Briefen bezogen wir uns nur auf in den Medien veröffentlichtes Material, besonders wenn sich Offiziere ihrer Taten selbst rühmten und sich damit praktisch selbst anklagten. Kopien wurden an die Medien gesandt, die diese Information wieder ignorierten, auch an den Obersten Armeeanwalt, der nicht darauf reagierte.

Wir warnten diese ranghohen Offiziere, daß das von uns gesammelte Material einem israelischen Gericht zur Verfügung gestellt würde, falls zu irgend einem zukünftigen Zeitpunkt das Gericht anfangen würde, seine Pflicht zu erfüllen - oder als letzte Möglichkeit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.

Man kann vermuten, daß es einer dieser Offiziere war, der die sensationellen Nachrichten an den Militärkorrespondenten von Ha'aretz gab. Das liberale Blatt, das bis zu diesem Tag fast alle Informationen über unsere Aktionen ignoriert hatte, (wie übrigens fast alle Aktionen der Friedensbewegungen), veröffentlichte diese Geschichte als Hauptsensation auf seiner Titelseite.

Die Folge war eine Flut von Diffamierungen. Über die Telefonleitungen von Gush-Shalom-Aktivisten kamen nur noch Flüche und Todesdrohungen. Die Radio-Talkshows überboten sich gegenseitig, wer den fanatischsten Extremisten vors Mikrofon bringt und Gäste, die ihn anstacheln und offen unterstützen. Gush-Aktivisten wurden plötzlich zu Fernseh- und Radio-Gesprächen eingeladen, wo sie mit Interviewern konfrontiert waren, die sich wie Vernehmer von Gefangenen in irgendeinem Geheimdienstkeller benahmen.

Unser Ziel ist natürlich die Vorbeugung und Verhütung. Wir wollen, daß das Thema den Offizieren und Soldaten bewußt wird. Wir hofften, daß sie und ihre Kollegen das Problem mit den Kriegsverbrechen bei ihren Plänen berücksichtigen, daß dies vielleicht der maßgebliche kleine Punkt ist, der im letzten Augenblick die Entscheidung beeinflußt. Wir hatten uns entschlossen, diesen Gegenstand zu einer öffentlichen Sache zu machen, um so Druck auf die politische und militärische Führung auszuüben.

Gegen den Willen ihrer Urheber diente die Hetzkampagne genau diesem Zweck. Seit einer Woche sind die Kriegsverbrechen zu einem zentralen Thema in der öffentlichen Diskussion in Israel geworden. Kein Offizier oder Soldat kann einer ernsthaften Betrachtung seiner Taten oder Versäumnisse in den besetzten Gebieten ausweichen. Vielen von ihnen wird zum ersten Mal bewußt, was Kriegsverbrechen sind und wie diese womöglich das eigene Leben beeinflussen. Von jetzt an wird dieses Thema nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden.

(Übersetzung aus dem Englischen: Ellen Rohlfs)

Die deutsche Textfassung war am 14. August 2002 in der jungen Welt dokumentiert


A Phone Call from Hell

by Uri Avnery


There is a direct telephone connection between heaven and hell. I can prove it.
The idea crossed my mind last Sunday, when I was climbing to a snow-covered peak in the alpine region of Italy, where I was the guest at a political conference. The sun was shining, the temperature hovered around zero centigrade, around me was a breathtaking landscape of white peaks. Far away below, calm cowherds led their animals to their green pasture. Heaven on earth.

And then the cellular phone rang. The call came from Tel-Aviv, where the barometer was climbing to 32 degrees and above. The radio news from Israel, which I managed to receive from time to time, told of people killed and wounded, attacks and retaliation, bombs and bombardments, demolition of homes and deportations, and, on top of that, factory closures, mass dismissals, economic disaster. A real hell.

My colleagues at home called to tell me about an exciting development: that morning, "Haaretz" had published on its front-page a hair-raising sensation: "Gush Shalom has threatened officers: We collect material against you for The Hague". (This is the original headline in Hebrew. In the English edition of Haaretz, it was slightly toned down.)

Following the news item, I was told, the Prime Minister has ordered his obedient servant, the Attorney General, to start criminal proceedings against us. The Minister of Justice, Me'ir Shitreet, a third-rate politician, declared that we were a "fifth column". The Minister for Communication, Rubi Rivlin, considered by many to be a clown, solemnly asserted that "This is Treason!"

Any number of politicians and commentators started a lynch campaign. Expressions like "traitors", "informers", "Capo" (the Jewish "camp police", which served the Nazis in the concentration camps), "Judenrat" (the Jewish committees appointed by the Nazis in the ghettos) were freely bandied about.

There was, indeed, good reason for all this commotion.
At the beginning of the year, the Gush Shalom peace movement, like many people in Israel and abroad, decided that it could no longer ignore the fact that in the course of the IDF operations in the occupied territories terrible acts, violating both Israeli and international law, were being committed. Some of these appeared to be war crimes. We in the Gush decided that it was our duty, as Israeli citizens who bear responsibility for the acts of our government and our army, to raise our voice and deliver a stringent warning. (See the statement by Gush Shalom).

On January 9 we convened a conference on war crimes in a big hall in Tel-Aviv. Several professors of international law and two senior (retired) army officers were on the panel. One of the speakers was a war hero, air force Colonel Yig'al Shohat, who had been shot down over Egypt and lost a leg. In a voice trembling with emotion, he called upon his comrades, the combat pilots, to refuse to obey illegal orders, such as bombarding civilian neighborhoods.

All the TV and radio stations and the two major newspapers ignored the conference, to which they were invited. It was clear that all of the enlisted media had decided to suppress the issue of war crimes.

That became quite clear when we submitted to Kol Israel, the state-run radio network, a paid ad, informing soldiers about their duty to refuse "manifestly illegal orders" - literally repeating the wording of the judgment of the military court following the Kafr Kassem massacre of 1956. Kol Israel refused to broadcast it. We asked the Supreme Court to order the Broadcasting Authority to air the ad, but the court decided that it was unable to do so.

So we decided to take direct action. We distributed among the soldiers a pocket manual, setting out the prohibitions of the Geneva Convention, which was signed by Israel. Among them: Executions without trial (called "liquidations"), shooting of unarmed civilians, torture, prevention of medical treatment, killing the wounded (called "verification of death"), starvation, deportation.

"Protect yourself against indictment abroad!" the manual said, "As a soldier in an occupation army, you are particularly exposed to indictment for war crimes. Strict adherence to this manual will protect you from arrest and indictment abroad!"

The manual concluded: "Soldier, remember! During your military service, whether on regular or reserve duty, you must refuse manifestly illegal orders. If you have witnessed a war crime, you are duty-bound to report it!"

At the same time we sent individual letters to certain commanders and warned them that their actions might lead in future to their indictment in an Israeli or international court. (There is no statute of limitation on war crimes.) In the letters, we relied solely on material published in the media, especially on boasts made by the officers themselves, who practically incriminated themselves.



Copies were sent to the media, all of whom suppressed the information, as well as to the chief legal officer of the army, who did not take any action.

We warned these senior officers that the material collected by us would be put at the disposal of an Israeli court, if, at any time in the future, the courts start to fulfill their duty, or - as a last resort - to the International Criminal Court in The Hague.

One may assume that it was one of these officers who gave the sensational news to the military correspondent of Haaretz. The liberal newspaper, which, until that day, had ignored all the information about our action (as, indeed, about almost all the activities of the peace movements) did publish this story as the main sensation on its front page.

The result was a deluge of defamation. The telephone lines of Gush Shalom activists were inundated with curses and death threats. The radio talk shows competed with each other over who would bring the most fanatical extremists to the microphone, with the hosts egging them on and openly supporting them. Gush activists were suddenly invited to TV and radio interviews, where they were faced with interviewers who behaved like interrogators of prisoners in some Shin-Beth cellar.

Of all the curses thrown at us, the most instructive was "informers". It belongs to the ghetto vocabulary. When Jews were a defenseless community, helplessly exposed to the cruelty of Gentile authorities, a Jew who denounced another Jew to the Goyim was considered the vilest of the vile. The fact that this word is used today, after 54 years of having our state, when we have one of the most powerful armies in the world, shows that many in our country still live in the world of the ghetto. Verily, it seems that it is easier to get the Jews out of the ghetto than to get the ghetto out of some Jews. The judges of the International Criminal Court look to them like a mob of drunken Cossacks intent on carrying out a pogrom.

Our aim is, of course, prevention. We wanted to raise awareness of this subject among the officers and soldiers. We hoped they and their colleagues would take the war crimes issue into consideration while making their plans, supplying perhaps the feather that would turn the scales at the moment of decision. We were resolved to turn this subject into a public issue, so as to put pressure on the political and military leadership.

Actually, the campaign of incitement unleashed against us did serve this very purpose. For a week now, war crimes have become a central subject of the public discourse in Israel. No officer or soldier could avoid giving serious consideration to his deeds or defaults in the occupied territories. Many of them for the first time became aware of what war crimes are and how they might affect their own lives.

From now on, this subject will not disappear from the agenda.


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