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Oktoberkrieg – gefühlter Sieg

Jom Kippur änderte das Kräfteverhältnis zugunsten der arabischen Staaten

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Am Sonntag vor 40 Jahren begann im Nahen Osten der Jom-Kippur-/Oktober-Krieg. Der Konflikt kostete Zehntausende das Leben und veränderte Innen- und Außenpolitik der beteiligten Länder. Die Auswirkungen sind auch heute noch deutlich sichtbar.

Unermüdlich warnen Politiker der israelischen Rechten in diesen Tagen davor, Irans neuem Präsidenten Hassan Ruhani seine Charme-Offensive zu glauben. Der Westen müsse stark bleiben, wachsam, und immer wieder wird daran erinnert, was vor 40 Jahren geschah. Keinesfalls dürfe so etwas noch einmal passieren.

»Wir waren in der Synagoge wie alle anderen auch, als plötzlich jemand nach vorne stürmte und rief, alle Männer sollten sich sofort beim Militär melden«, erinnert sich Benny Begin, Sohn des einstigen Regierungschefs Menachem Begin: »Es war ein Schock, überall war Chaos.« Denn es war der jüdische Versöhnungstag Jom Kippur, an dem die Menschen fasten und keine technischen Geräte benutzen. Regierung und Sicherheitskräfte waren nur minimal besetzt: Die Regierung rechnete nicht damit, dass die Nachbarländer den höchsten jüdischen Feiertag für einen Angriff nutzen würden.

Obwohl die Zeichen, wie man heute weiß, da waren: Vor allem der Militärgeheimdienst hatte vehement vor ungewöhnlichen Truppenbewegungen in Syrien und Ägypten gewarnt. Doch Regierungschefin Golda Meir und Verteidigungsminister Mosche Dajan hatten ihnen keinen Glauben geschenkt: Nach dem erst sechs Jahre zurückliegenden Sechs-Tage-Krieg, in dem Israels Militär das Westjordanland, Ost-Jerusalem, den Gaza-Streifen, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel erobert hatte, glaubten beide, wie viele andere Israelis auch, an die Unbesiegbarkeit der Armee, während die Regierungen der arabischen Welt über Vergeltung gegen die Schmach des Sechs-Tage-Krieges nachsannen.

Im Oktober 1973 bekamen sie sie: Im Laufe des 20-tägigen Konflikts, der mindestens 20 000, möglicherweise bis zu 40 000 Menschen, die meisten davon auf der arabischen Seite, das Leben kostete, schafften sie es, tagelang vorzurücken, bis Israel sein Militär mobilisiert hatte und die Angreifer zurückschlug.

Für Ägypten und Syrien wurde es eine Niederlage, die sich wie ein Sieg anfühlte. Und für Israel ein Sieg, der eine Niederlage war. Die Region war danach verändert. Die arabische Welt wurde selbstbewusster. So beschloss die Organisation Erdöl exportierender Länder, die Ölförderung so lange zu reduzieren, bis die von Israel besetzten Gebiete »befreit« seien, und beschwor damit die Ölkrise von 1973 herauf. Historiker gehen zudem davon aus, dass die Folgen des Krieges auch ein bestimmender Faktor bei der Entscheidung des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat waren, nach Israel zu reisen, und damit den Grundstein für die Friedensverhandlungen von Camp David zu legen.

Denn: Zwar fühlten sich viele im Land als Sieger, wurden Straßen, Plätze, sogar Städte nach dem 6. Oktober benannt. Doch die Kosten des Krieges sorgten, wie auch in Israel, für eine massive Wirtschaftskrise, die auch durch die Unterstützung seitens der Sowjetunion nicht beherrschbar schien. Durch die Verhandlungen mit Israel hoffte Sadat auf eine Annäherung an die Vereinigten Staaten.

In Israel läutete der Krieg derweil den Anfang vom Ende der Vorherrschaft der Arbeitspartei ein. Der Krieg war, wenn auch nicht der einzige, aber doch ein erheblicher Faktor bei der Gründung des Likud-Blocks, dessen erster Vorsitzender Benny Begins Vater wurde – ein Politiker, der bis dahin mit seiner Kleinpartei Cheruth am rechten Rand des politischen Spektrums gestanden hatte. Seitdem ist er, mit kurzen Unterbrechungen, die treibende politische Kraft.

Doch für ein anderes Ergebnis des Krieges zeichnet noch die Arbeitspartei verantwortlich: Den Bau von Siedlungen in den besetzten Gebieten. Sie waren ursprünglich als militärische Anlagen konzipiert. Ziemlich schnell formierte sich allerdings die Siedlerbewegung, in der der militärische, vorübergehende Charakter der Siedlungen hinter einer religiös-nationalistischen Doktrin in den Hintergrund geriet und zum Kernthema des Likud-Blocks wurde.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Oktober 2013

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