Es geht nicht nur um Jerusalem
Im israelisch-palästinensischen Konflikt gibt es keine endgültigen Lösungen
Wie nicht anders zu erwarten, beschäftigt sich das "Friedensgutachten 2001", das vom Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt und der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg in Kooperation mit dem Bonn International Center for Conversion (BICC) und dem Institut für Entwicklung und Frieden in Duisburg herausgegeben wird, schwerpunktmäßig mit der Lage in der Konfliktregion Naher Osten. Margret Johannsen (Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg) lieferte einen Beitrag zur symbolträchtigen Rolle der Stadt Jerusalem bei. Wir dokumentieren im Folgenden daraus einige Auszüge. Auf das Friedensgutachten selbst, das sich außerdem sehr eingehend mit der Bundeswehrreform und der deutschen Rüstungsexportpolitik befasst, gehen wir an anderer Stelle noch gesondert ein.
Zu heilig für den Frieden?
In Jerusalem verschlingt die Vergangenheit die Gegenwart
Von Margret Johannsen
...
... Am 28. September 2000 besuchte der israelische Oppositionsführer Ariel Scharon
unter dem Schutz von Hunderten israelischer Ordnungskräfte den Tempelberg. Auf
die Provokation des Ex-Generals antworteten die Palästinenser nach dem
Freitagsgebet am nächsten Tag mit Steinwürfen gegen das tausendköpfige
Polizeiaufgebot, das in Erwartung von Unruhen in die Altstadt beordert worden war.
Die Polizei schoss scharf. Bei dem nachfolgenden Aufstand starben bis Ende Mai
2001 über 500 Menschen, die meisten von ihnen Palästinenser. An dieser zweiten
Intifada, die nach ihrem Ausgangsort den Namen "al-Aqsa-Intifada" erhielt,
zerbrachen die Verhandlungen, in denen es unter anderem gerade um den
künftigen Status Jerusalems ging.
Der Konflikt um Palästina hat mit dem Ausbruch der zweiten Intifada seine
vieldimensionale Natur erneut offenbart. Seinem Ursprung nach handelt es sich um
einen Konflikt zwischen zwei Volksgruppen, der sich territorialisierte, weil die
zionistische Landnahme seit dem späten 19. Jahrhundert mit dem Ziel
vorgenommen wurde, einen jüdischen Nationalstaat zu errichten. Zu diesem Zweck
gingen die jüdischen Kolonisatoren daran, die arabische Mehrheit in ihrem Land zur
Minderheit zu machen. Die Ideologie der Landnahme und späteren
Staatsgründung, die im Kontext des europäischen Nationalismus und
Antisemitismus populär wurde, beruhte auf ethnisch-religiöser Exklusivität. Sie
unterschied sich von den westlichen Nationalstaatsbildungen in diesem Punkt, weil
letztendlich die religiöse Abstammung den gemeinsamen Nenner für die in aller
Herren Länder verstreuten Juden bildete. Es gab keine andere einleuchtende
Begründung dafür, Palästina als "nationale Heimstätte" für die Juden in aller Welt
zu wählen.
Die Landnahme setzt sich seit 1967 in der jüdischen Besiedlung der besetzten
Gebiete fort. In dieser zweiten Phase der Verdrängung der palästinensischen
Bevölkerung ist das religiöse Element des Konflikts erst recht keine bloße Zutat.
Im Gegenteil markiert 1967 in der Geschichte Israels den Beginn einer
allmählichen Abkehr von dem vormals dominanten säkularen Ideal, das die Religion
der Sphäre des Privaten zuweist. Nationalreligiös motivierte Siedler waren die
Pioniere der Besiedlung unter dem Schutz der Besatzung, und sie scheinen
gegenwärtig bereit, unter widrigsten Umständen auszuharren. Denn "Judäa" und
"Samaria" sind für die Nationalreligiösen Teil von "Erez Israel" - dem Land Israel,
das Gott dem auserwählten Volk einst durch den Bund mit Abraham versprach.
Ihre Besiedlung durch Juden beschleunigt die Erlösung der Welt. Mit einem
solchen Maß an Legitimation, wie es dieses messianische Motiv zu liefern
imstande ist, können weltliche Motive der Kolonisierung nicht aufwarten. Zugespitzt
ausgedrückt dient daher die Religion auch den Säkularen zur Legitimation ihrer
Präsenz im Lande.
Auf arabischer Seite ist ein gleichlaufender Prozess festzustellen. Die
Mobilisierung der antijüdischen Potenziale des Islam - stets latent vorhanden
neben dem heilsgeschichtlich begründeten positiven Akzent in der islamischen
Haltung gegenüber Juden - erfolgte oft im Zusammenhang mit dem
Palästinakonflikt. In der gegenwärtigen Phase des Konfliktverlaufs wächst dem
politischen Islam mit seiner Interpretation des Konflikts als unversöhnlicher
Kontroverse zwischen Gläubigen und Ungläubigen ein wachsendes Maß an
Überzeugungskraft zu. All dies macht Religion noch nicht zum Kern des Konflikts. Aber im Nahen Osten,
wo Religiosität ungebrochener ist und im Alltag eine ungleich bedeutsamere Rolle
spielt als in den weitgehend säkularisierten europäischen Gesellschaften, bietet
sich die sakrale Emblematik zur Darstellung des Interessenkonflikts an.
Nicht von ungefähr hat sich somit der Versuch, den Konflikt um Palästina
vertraglich beizulegen, im Streit über Jerusalem festgefahren. Hier verdichtet sich
der Konflikt und wie durch ein Prisma werden alle seine Schichten und
Dimensionen sichtbar. Und hier ist er wie sonst nirgendwo der religiösen
Darstellung und Wahrnehmung zugänglich. Es nimmt daher nicht Wunder, dass
sich der Streit um den künftigen Status der Stadt schließlich auf die Frage der
Souveränität über die heiligen Stätten zuspitzte. Auf die Rechte an diesem Ort
Brief und Siegel zu erhalten wurde für beide Seiten zu einer Frage von Identität -
und damit des Alles oder Nichts. ...
Die moderne Stadt mit ihren rund 630.000 Einwohnern - in den Worten des
Jerusalemgesetzes von 1980 "vereint die ewige Hauptstadt Israels" - ist de facto
geteilt. In West-Jerusalem leben bereits seit dem israelisch-arabischen Krieg
1948/49 keine Araber mehr. In Ost-Jerusalem führten die Enteignungen arabischen
Grundbesitzes, der staatlich geförderte Wohnungsbau für jüdische Siedler und
administrative Schikanen gegen die palästinensischen Einwohner dazu, dass diese
im traditionellen Zentrum der Westbank heute in der Minderzahl sind.
Jerusalem ist die international nicht anerkannte Hauptstadt Israels.
West-Jerusalem ist fast ausschließlich von Juden bewohnt. In Ost-Jerusalem leben
Juden und Araber, von geringfügigen Ausnahmen abgesehen, in ausschließlich
jüdischen oder arabischen Stadtteilen. Hier entstand ein System vielfältiger
Privilegierungen bzw. Diskriminierungen der beiden Bevölkerungsteile. Ob
Straßenbau oder Kanalisation, ob Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken oder
Sportanlagen - überall, wo staatliche Gelder hinfließen, besteht ein krasses
soziales Gefälle zwischen jüdischen und arabischen Stadtvierteln.
Das Schlüsseldatum für die Hauptstadtfrage ist 1967. Mit der Abtrennung der
Westbank, einschließlich Ost-Jerusalems, von Jordanien wurde die Basis für die
Zweistaatenlösung - ein Staat Palästina neben dem Staat Israel - gelegt. Seit der
palästinensischen Staatsproklamation 1988 erhebt die PLO und mit ihr seit 1994
die palästinensische Autonomiebehörde offiziell Anspruch auf Ost-Jerusalem als
Hauptstadt. In ihrer Politik gegenüber dem besetzten Ost-Jerusalem verfolgten alle
israelischen Regierungen letztlich das gleiche Ziel: Es galt zu verhindern, dass aus
dem Zentrum der Westbank die Hauptstadt eines palästinensischen Staates
würde. Um Ost-Jerusalem von der Westbank zu isolieren, müssen Palästinenser
seit 1991 eine Genehmigung beantragen, wenn sie die Stadt betreten wollen. Mit
zahlreichen checkpoints an den Stadtgrenzen kontrolliert Israel die Einhaltung
dieser Vorschrift. Dennoch ist es Israel nicht gelungen, die Verbindungen
Ost-Jerusalems zur Westbank zu kappen und die Kontrolle über die arabischen
Stadtviertel Ost-Jerusalems zu erlangen. Die Palästinensische Autorität hat hier
parallel zum israelischen einen eigenen Polizeiapparat aufgebaut, der für die
arabischen Bewohner das Gesetz repräsentiert. ...
Im Streit um die Hauptstadt kulminiert der Zusammenprall der beiden
Nationalismen. Für die jüdischen Israelis ist "Yerushalayim" seit über 3000 Jahren,
als König David die jüdischen Stämme einte, die Hauptstadt Israels. Für die
muslimischen Palästinenser ist "al-Quds" das Symbol für den Sieg Saladins über
die Kreuzritter, der den Islam hier 1187 als herrschende Religion wieder einsetzte.
In Jerusalem verschlingt die Vergangenheit die Gegenwart. Diese
Realitätsverschiebung verhindert eine nachhaltige Lösung der Jerusalemfrage. Denn
eine solche ist nur möglich, wenn beide Seiten einander in ihrer gegenwärtigen
Existenz anerkennen und lernen auf diesem kleinen Flecken Erde miteinander
auszukommen. ...
Lösungsvorschläge
Seit Frankreich und Großbritannien 1916 den Nahen Osten in Interessensphären
und Einflusszonen untereinander aufteilten, wurden Dutzende von Vorschlägen für
die Lösung der Jerusalemfrage gemacht. Die geheime Übereinkunft aus dem 1.
Weltkrieg sah für Jerusalem eine internationale Verwaltung vor, ebenso die
Resolution 181 der Vereinten Nationen nach dem 2. Weltkrieg. Über die
Internationalisierung Jerusalems wird heute dennoch nicht verhandelt, weil keine
der Konfliktparteien eine solche Lösung will. Denn in den konkurrierenden
Nationalismen beider spielt Jerusalem als Hauptstadt eine unverzichtbare Rolle.
Dies ist nicht verwunderlich. Bekanntlich üben nationalistisches Gedankengut und
seine Symbole in Zeiten tiefgreifender Identitätskrisen besondere Anziehungskraft
aus. ... Da die Stadt de facto beiden gehört und beide
Nationen dort und nirgendwo sonst ihre Hauptstadt sehen, muss man sie sich
teilen - entweder als gemeinsamen oder als anteiligen Besitz.
In keinem der Pläne seit 1993 - als Jerusalem Gegenstand künftiger
Verhandlungen wurde - findet man ein Plädoyer für die physische Teilung der Stadt
durch Zäune oder Mauern. Hingegen gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen, die
Verwaltung, die Souveränität und sogar die heiligen Stätten zu teilen.
Mit der Formel "Jerusalem - eine Hauptstadt zweier Staaten" wirbt der
"Friedensblock" des israelischen Publizisten Uri Avneri für seine Vorstellung einer
offenen Stadt, in der jeder Bürger zu allen Orten freien Zutritt hat. Die arabischen
und jüdischen Stadtviertel sollen ihre eigenen gewählten Stadträte haben und für
ihre lokalen Angelegenheiten selbst Sorge tragen, mit einem föderativen
Gesamtstadtrat für übergeordnete Aufgaben. Der Vorschlag spiegelt zwar die
gegenwärtige Teilung wider, schafft aber auch Strukturen, um gemeinsame
Anliegen kooperativ zu handhaben. Wo der Alltag organisiert wird, kann
Gemeinsamkeit pragmatisch entstehen.
Die Teilung der Souveränität scheint schwieriger als die der Verwaltung. Diejenigen,
die Jerusalem gerne als Geburtstätte einer völkerrechtlichen Innovation sähen und
sich für die Idee einer gemeinsamen Souveränität beider Staaten in der Stadt
erwärmen können, konzedieren, dass die Lösung der juristischen Probleme -
welches Rechtssystem gilt wo und für wen? - ein beträchtliches Maß an
Kooperationsbereitschaft voraussetzt. Nicht nur die fragile Identität beider Völker,
auch der gescheiterte Versuch, mit dem Oslo-Prozess Vertrauen zwischen den
Völkern aufzubauen, lassen vermutlich eine "reife" Lösung wie die gemeinsam
ausgeübter Souveränität vorerst nicht zu.
Andere plädieren darum für israelische Souveränität in West-Jerusalem bzw. in den
jüdisch bewohnten Stadtvierteln und palästinensische Souveränität in
Ost-Jerusalem bzw. in den arabisch bewohnten Stadtvierteln. Für die Anhänger der
Idee eines ganzen Jerusalems für alle seine Bürger wären derart komplizierte
Grenzziehungen indes gleichbedeutend mit der politischen Zementierung der
heutigen Ghettos.
In den Verhandlungen über Jerusalem schien aber weder die Verwaltungsstruktur
noch die politische Teilung der Stadt entlang den ethnischen Grenzen die Klippe zu
sein, an der die Verhandlungen aufliefen. Zwar gab es keine veröffentlichten
schriftlichen Vorschläge (mitsamt Landkarten) noch hatte man sich am Ende auf
Schlusskommuniqués geeinigt, denen die genauen Gründe für den Abbruch der
Verhandlungen zu entnehmen wären. Indes scheint festzustehen, dass eine
Lösung gemäß einer Empfehlung Avneris nicht in Betracht kam. Der
Friedensaktivist schrieb 1996: "Der religiöse Aspekt ist wohl am einfachsten zu
lösen. Gläubige aller Konfessionen müssten das Recht haben, ungehindert nach
Jerusalem zu kommen, um zu beten, und die heiligen Stätten sollten selbstständig
- und unter Umständen extraterritorial - verwaltet werden." Vorschläge für einen
gesonderten Status der heiligen Stätten gibt es zuhauf. Die vielleicht radikalste
Variante, dem verstorbenen jordanischen König Hussein zugeschrieben, ist die
Idee, für die heiligen Stätten nur die Souveränität Gottes anzuerkennen. Da der
Gott der monotheistischen Buchreligionen unsichtbar ist - und sich Judaismus wie
Islam an das Bilderverbot halten - scheint dieses Modell so einfach wie genial.
Doch die Konfliktparteien wollten Fahnen wehen sehen. Während der sechs
Monate zwischen dem Gipfeltreffen in Camp David und den Verhandlungen in Taba
soll Israel den Palästinensern folgende Rechte über ihre heiligen Stätten angeboten
haben: weitgehende Selbstverwaltung, begrenzte Souveränität, religiöse
Souveränität, symbolische Souveränität, funktionale Souveränität, faktische
Souveränität, Restsouveränität und schließlich horizontal geteilte Souveränität:
Felsendom und al-Aqsa-Moschee auf dem Berg sollten palästinensisch werden;
das Allerheiligste des jüdischen Tempels in der Tiefe hingegen - wie auch die
Klagemauer - israelisch. Arafat lehnte alle Angebote ab. Für weniger als die volle
Souveränität des Staates Palästina über den Haram al Sharif war mit ihm kein
Abkommen zu haben.
Eine israelische Kontrolle über Teile davon hätte nicht nur gegen das religiöse
Dogma verstoßen, wonach der ganze Bezirk (und nicht nur die Moscheen) heiliger
Raum sei, sondern auch in der islamischen Welt Zweifel an der Fähigkeit des
säkularen PLO-Vorsitzenden gesät, ein verlässlicher Hüter der heiligen Stätten des
Islam in Jerusalem zu werden.
Die Teilungslösung wäre zudem wohl auch in Israel durchgefallen. Als Präsident
Clinton sich um die Jahreswende den Vorschlag, zwischen ober- und unterirdischer
Souveränität zu unterscheiden, zu eigen machte, besaß Barak längst keine
Mehrheit mehr - weder in der Knesset noch in der Bevölkerung. Der Wahlkampf war
in vollem Gange, Herausforderer Scharon führte um Längen vor dem amtierenden
Regierungschef. Warum sollte der Palästinenserpräsident Konzessionen bei dem
zugkräftigsten Symbol der nationalen Identität seines Volkes machen, wenn
überhaupt nicht sicher war, dass er damit sein Ziel - einen Staat Palästina mit der
Hauptstadt al-Quds - würde erreichen können?
Es scheint, als überfordere das Konzept gemeinsamer Souveränität über den
Tempelberg zum gegenwärtigen Zeitpunkt beide Seiten. Wenn aber Israel seine
souveränen Rechte nicht vollständig aufgeben kann und die Palästinenser ihre
souveränen Rechte nicht teilen können, so wäre es besser gewesen, das Thema
auszuklammern. Bereits vor dem endgültigen Scheitern der Verhandlungen gab es
Warnungen, dass der Konflikt über die Jerusalemer Altstadt noch nicht lösungsreif
sei. Jerusalems ehemaliger zweiter Bürgermeister Benvenisti schrieb nach dem
Abbruch des Camp David-Gipfels, der Status quo für die heiligen Stätten sei stabil
und pragmatisch, weil die Wirklichkeit temporär und widersprüchlich sei. Suche
man in dieser Lage nach einer endgültigen Lösung, so werde auf einmal zu Streit,
was bisher hingenommen wurde.
In den vielen kreativen Lösungsvorschlägen der Juristen sieht Benvenisti moderne
Alchimisten am Werk. Die von ihnen angestoßene Debatte mag dazu beitragen,
lang gehegte Tabus zu brechen und damit Hindernisse für zukunftsfähige
Kompromisse zu beseitigen. Aber Alchimisten tragen - wie die legendäre Erfindung
des Schießpulvers zeigt - auch ein professionelles Risiko. Nach über 500 Toten in
der al-Aqsa-Intifada muss man inzwischen hinzufügen: Sie tragen es nicht allein.
Auszüge aus: Friedensgutachten 2001, Münster und Hamburg 2001; in der Frankfurter Rundschau vom 7. Juni 2001 war der Beitrag von Margret Johannsen in einer längeren Fassung dokumentiert
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