Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Es geht nicht nur um Jerusalem

Im israelisch-palästinensischen Konflikt gibt es keine endgültigen Lösungen

Wie nicht anders zu erwarten, beschäftigt sich das "Friedensgutachten 2001", das vom Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt und der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg in Kooperation mit dem Bonn International Center for Conversion (BICC) und dem Institut für Entwicklung und Frieden in Duisburg herausgegeben wird, schwerpunktmäßig mit der Lage in der Konfliktregion Naher Osten. Margret Johannsen (Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg) lieferte einen Beitrag zur symbolträchtigen Rolle der Stadt Jerusalem bei. Wir dokumentieren im Folgenden daraus einige Auszüge. Auf das Friedensgutachten selbst, das sich außerdem sehr eingehend mit der Bundeswehrreform und der deutschen Rüstungsexportpolitik befasst, gehen wir an anderer Stelle noch gesondert ein.

Zu heilig für den Frieden?

In Jerusalem verschlingt die Vergangenheit die Gegenwart

Von Margret Johannsen


...
... Am 28. September 2000 besuchte der israelische Oppositionsführer Ariel Scharon unter dem Schutz von Hunderten israelischer Ordnungskräfte den Tempelberg. Auf die Provokation des Ex-Generals antworteten die Palästinenser nach dem Freitagsgebet am nächsten Tag mit Steinwürfen gegen das tausendköpfige Polizeiaufgebot, das in Erwartung von Unruhen in die Altstadt beordert worden war. Die Polizei schoss scharf. Bei dem nachfolgenden Aufstand starben bis Ende Mai 2001 über 500 Menschen, die meisten von ihnen Palästinenser. An dieser zweiten Intifada, die nach ihrem Ausgangsort den Namen "al-Aqsa-Intifada" erhielt, zerbrachen die Verhandlungen, in denen es unter anderem gerade um den künftigen Status Jerusalems ging.

Der Konflikt um Palästina hat mit dem Ausbruch der zweiten Intifada seine vieldimensionale Natur erneut offenbart. Seinem Ursprung nach handelt es sich um einen Konflikt zwischen zwei Volksgruppen, der sich territorialisierte, weil die zionistische Landnahme seit dem späten 19. Jahrhundert mit dem Ziel vorgenommen wurde, einen jüdischen Nationalstaat zu errichten. Zu diesem Zweck gingen die jüdischen Kolonisatoren daran, die arabische Mehrheit in ihrem Land zur Minderheit zu machen. Die Ideologie der Landnahme und späteren Staatsgründung, die im Kontext des europäischen Nationalismus und Antisemitismus populär wurde, beruhte auf ethnisch-religiöser Exklusivität. Sie unterschied sich von den westlichen Nationalstaatsbildungen in diesem Punkt, weil letztendlich die religiöse Abstammung den gemeinsamen Nenner für die in aller Herren Länder verstreuten Juden bildete. Es gab keine andere einleuchtende Begründung dafür, Palästina als "nationale Heimstätte" für die Juden in aller Welt zu wählen.

Die Landnahme setzt sich seit 1967 in der jüdischen Besiedlung der besetzten Gebiete fort. In dieser zweiten Phase der Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung ist das religiöse Element des Konflikts erst recht keine bloße Zutat. Im Gegenteil markiert 1967 in der Geschichte Israels den Beginn einer allmählichen Abkehr von dem vormals dominanten säkularen Ideal, das die Religion der Sphäre des Privaten zuweist. Nationalreligiös motivierte Siedler waren die Pioniere der Besiedlung unter dem Schutz der Besatzung, und sie scheinen gegenwärtig bereit, unter widrigsten Umständen auszuharren. Denn "Judäa" und "Samaria" sind für die Nationalreligiösen Teil von "Erez Israel" - dem Land Israel, das Gott dem auserwählten Volk einst durch den Bund mit Abraham versprach. Ihre Besiedlung durch Juden beschleunigt die Erlösung der Welt. Mit einem solchen Maß an Legitimation, wie es dieses messianische Motiv zu liefern imstande ist, können weltliche Motive der Kolonisierung nicht aufwarten. Zugespitzt ausgedrückt dient daher die Religion auch den Säkularen zur Legitimation ihrer Präsenz im Lande.

Auf arabischer Seite ist ein gleichlaufender Prozess festzustellen. Die Mobilisierung der antijüdischen Potenziale des Islam - stets latent vorhanden neben dem heilsgeschichtlich begründeten positiven Akzent in der islamischen Haltung gegenüber Juden - erfolgte oft im Zusammenhang mit dem Palästinakonflikt. In der gegenwärtigen Phase des Konfliktverlaufs wächst dem politischen Islam mit seiner Interpretation des Konflikts als unversöhnlicher Kontroverse zwischen Gläubigen und Ungläubigen ein wachsendes Maß an Überzeugungskraft zu. All dies macht Religion noch nicht zum Kern des Konflikts. Aber im Nahen Osten, wo Religiosität ungebrochener ist und im Alltag eine ungleich bedeutsamere Rolle spielt als in den weitgehend säkularisierten europäischen Gesellschaften, bietet sich die sakrale Emblematik zur Darstellung des Interessenkonflikts an.

Nicht von ungefähr hat sich somit der Versuch, den Konflikt um Palästina vertraglich beizulegen, im Streit über Jerusalem festgefahren. Hier verdichtet sich der Konflikt und wie durch ein Prisma werden alle seine Schichten und Dimensionen sichtbar. Und hier ist er wie sonst nirgendwo der religiösen Darstellung und Wahrnehmung zugänglich. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich der Streit um den künftigen Status der Stadt schließlich auf die Frage der Souveränität über die heiligen Stätten zuspitzte. Auf die Rechte an diesem Ort Brief und Siegel zu erhalten wurde für beide Seiten zu einer Frage von Identität - und damit des Alles oder Nichts. ...

Die moderne Stadt mit ihren rund 630.000 Einwohnern - in den Worten des Jerusalemgesetzes von 1980 "vereint die ewige Hauptstadt Israels" - ist de facto geteilt. In West-Jerusalem leben bereits seit dem israelisch-arabischen Krieg 1948/49 keine Araber mehr. In Ost-Jerusalem führten die Enteignungen arabischen Grundbesitzes, der staatlich geförderte Wohnungsbau für jüdische Siedler und administrative Schikanen gegen die palästinensischen Einwohner dazu, dass diese im traditionellen Zentrum der Westbank heute in der Minderzahl sind.

Jerusalem ist die international nicht anerkannte Hauptstadt Israels. West-Jerusalem ist fast ausschließlich von Juden bewohnt. In Ost-Jerusalem leben Juden und Araber, von geringfügigen Ausnahmen abgesehen, in ausschließlich jüdischen oder arabischen Stadtteilen. Hier entstand ein System vielfältiger Privilegierungen bzw. Diskriminierungen der beiden Bevölkerungsteile. Ob Straßenbau oder Kanalisation, ob Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken oder Sportanlagen - überall, wo staatliche Gelder hinfließen, besteht ein krasses soziales Gefälle zwischen jüdischen und arabischen Stadtvierteln.

Das Schlüsseldatum für die Hauptstadtfrage ist 1967. Mit der Abtrennung der Westbank, einschließlich Ost-Jerusalems, von Jordanien wurde die Basis für die Zweistaatenlösung - ein Staat Palästina neben dem Staat Israel - gelegt. Seit der palästinensischen Staatsproklamation 1988 erhebt die PLO und mit ihr seit 1994 die palästinensische Autonomiebehörde offiziell Anspruch auf Ost-Jerusalem als Hauptstadt. In ihrer Politik gegenüber dem besetzten Ost-Jerusalem verfolgten alle israelischen Regierungen letztlich das gleiche Ziel: Es galt zu verhindern, dass aus dem Zentrum der Westbank die Hauptstadt eines palästinensischen Staates würde. Um Ost-Jerusalem von der Westbank zu isolieren, müssen Palästinenser seit 1991 eine Genehmigung beantragen, wenn sie die Stadt betreten wollen. Mit zahlreichen checkpoints an den Stadtgrenzen kontrolliert Israel die Einhaltung dieser Vorschrift. Dennoch ist es Israel nicht gelungen, die Verbindungen Ost-Jerusalems zur Westbank zu kappen und die Kontrolle über die arabischen Stadtviertel Ost-Jerusalems zu erlangen. Die Palästinensische Autorität hat hier parallel zum israelischen einen eigenen Polizeiapparat aufgebaut, der für die arabischen Bewohner das Gesetz repräsentiert. ...

Im Streit um die Hauptstadt kulminiert der Zusammenprall der beiden Nationalismen. Für die jüdischen Israelis ist "Yerushalayim" seit über 3000 Jahren, als König David die jüdischen Stämme einte, die Hauptstadt Israels. Für die muslimischen Palästinenser ist "al-Quds" das Symbol für den Sieg Saladins über die Kreuzritter, der den Islam hier 1187 als herrschende Religion wieder einsetzte. In Jerusalem verschlingt die Vergangenheit die Gegenwart. Diese Realitätsverschiebung verhindert eine nachhaltige Lösung der Jerusalemfrage. Denn eine solche ist nur möglich, wenn beide Seiten einander in ihrer gegenwärtigen Existenz anerkennen und lernen auf diesem kleinen Flecken Erde miteinander auszukommen. ...

Lösungsvorschläge

Seit Frankreich und Großbritannien 1916 den Nahen Osten in Interessensphären und Einflusszonen untereinander aufteilten, wurden Dutzende von Vorschlägen für die Lösung der Jerusalemfrage gemacht. Die geheime Übereinkunft aus dem 1. Weltkrieg sah für Jerusalem eine internationale Verwaltung vor, ebenso die Resolution 181 der Vereinten Nationen nach dem 2. Weltkrieg. Über die Internationalisierung Jerusalems wird heute dennoch nicht verhandelt, weil keine der Konfliktparteien eine solche Lösung will. Denn in den konkurrierenden Nationalismen beider spielt Jerusalem als Hauptstadt eine unverzichtbare Rolle. Dies ist nicht verwunderlich. Bekanntlich üben nationalistisches Gedankengut und seine Symbole in Zeiten tiefgreifender Identitätskrisen besondere Anziehungskraft aus. ... Da die Stadt de facto beiden gehört und beide Nationen dort und nirgendwo sonst ihre Hauptstadt sehen, muss man sie sich teilen - entweder als gemeinsamen oder als anteiligen Besitz.

In keinem der Pläne seit 1993 - als Jerusalem Gegenstand künftiger Verhandlungen wurde - findet man ein Plädoyer für die physische Teilung der Stadt durch Zäune oder Mauern. Hingegen gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen, die Verwaltung, die Souveränität und sogar die heiligen Stätten zu teilen.

Mit der Formel "Jerusalem - eine Hauptstadt zweier Staaten" wirbt der "Friedensblock" des israelischen Publizisten Uri Avneri für seine Vorstellung einer offenen Stadt, in der jeder Bürger zu allen Orten freien Zutritt hat. Die arabischen und jüdischen Stadtviertel sollen ihre eigenen gewählten Stadträte haben und für ihre lokalen Angelegenheiten selbst Sorge tragen, mit einem föderativen Gesamtstadtrat für übergeordnete Aufgaben. Der Vorschlag spiegelt zwar die gegenwärtige Teilung wider, schafft aber auch Strukturen, um gemeinsame Anliegen kooperativ zu handhaben. Wo der Alltag organisiert wird, kann Gemeinsamkeit pragmatisch entstehen.

Die Teilung der Souveränität scheint schwieriger als die der Verwaltung. Diejenigen, die Jerusalem gerne als Geburtstätte einer völkerrechtlichen Innovation sähen und sich für die Idee einer gemeinsamen Souveränität beider Staaten in der Stadt erwärmen können, konzedieren, dass die Lösung der juristischen Probleme - welches Rechtssystem gilt wo und für wen? - ein beträchtliches Maß an Kooperationsbereitschaft voraussetzt. Nicht nur die fragile Identität beider Völker, auch der gescheiterte Versuch, mit dem Oslo-Prozess Vertrauen zwischen den Völkern aufzubauen, lassen vermutlich eine "reife" Lösung wie die gemeinsam ausgeübter Souveränität vorerst nicht zu.

Andere plädieren darum für israelische Souveränität in West-Jerusalem bzw. in den jüdisch bewohnten Stadtvierteln und palästinensische Souveränität in Ost-Jerusalem bzw. in den arabisch bewohnten Stadtvierteln. Für die Anhänger der Idee eines ganzen Jerusalems für alle seine Bürger wären derart komplizierte Grenzziehungen indes gleichbedeutend mit der politischen Zementierung der heutigen Ghettos.

In den Verhandlungen über Jerusalem schien aber weder die Verwaltungsstruktur noch die politische Teilung der Stadt entlang den ethnischen Grenzen die Klippe zu sein, an der die Verhandlungen aufliefen. Zwar gab es keine veröffentlichten schriftlichen Vorschläge (mitsamt Landkarten) noch hatte man sich am Ende auf Schlusskommuniqués geeinigt, denen die genauen Gründe für den Abbruch der Verhandlungen zu entnehmen wären. Indes scheint festzustehen, dass eine Lösung gemäß einer Empfehlung Avneris nicht in Betracht kam. Der Friedensaktivist schrieb 1996: "Der religiöse Aspekt ist wohl am einfachsten zu lösen. Gläubige aller Konfessionen müssten das Recht haben, ungehindert nach Jerusalem zu kommen, um zu beten, und die heiligen Stätten sollten selbstständig - und unter Umständen extraterritorial - verwaltet werden." Vorschläge für einen gesonderten Status der heiligen Stätten gibt es zuhauf. Die vielleicht radikalste Variante, dem verstorbenen jordanischen König Hussein zugeschrieben, ist die Idee, für die heiligen Stätten nur die Souveränität Gottes anzuerkennen. Da der Gott der monotheistischen Buchreligionen unsichtbar ist - und sich Judaismus wie Islam an das Bilderverbot halten - scheint dieses Modell so einfach wie genial.

Doch die Konfliktparteien wollten Fahnen wehen sehen. Während der sechs Monate zwischen dem Gipfeltreffen in Camp David und den Verhandlungen in Taba soll Israel den Palästinensern folgende Rechte über ihre heiligen Stätten angeboten haben: weitgehende Selbstverwaltung, begrenzte Souveränität, religiöse Souveränität, symbolische Souveränität, funktionale Souveränität, faktische Souveränität, Restsouveränität und schließlich horizontal geteilte Souveränität: Felsendom und al-Aqsa-Moschee auf dem Berg sollten palästinensisch werden; das Allerheiligste des jüdischen Tempels in der Tiefe hingegen - wie auch die Klagemauer - israelisch. Arafat lehnte alle Angebote ab. Für weniger als die volle Souveränität des Staates Palästina über den Haram al Sharif war mit ihm kein Abkommen zu haben.

Eine israelische Kontrolle über Teile davon hätte nicht nur gegen das religiöse Dogma verstoßen, wonach der ganze Bezirk (und nicht nur die Moscheen) heiliger Raum sei, sondern auch in der islamischen Welt Zweifel an der Fähigkeit des säkularen PLO-Vorsitzenden gesät, ein verlässlicher Hüter der heiligen Stätten des Islam in Jerusalem zu werden.

Die Teilungslösung wäre zudem wohl auch in Israel durchgefallen. Als Präsident Clinton sich um die Jahreswende den Vorschlag, zwischen ober- und unterirdischer Souveränität zu unterscheiden, zu eigen machte, besaß Barak längst keine Mehrheit mehr - weder in der Knesset noch in der Bevölkerung. Der Wahlkampf war in vollem Gange, Herausforderer Scharon führte um Längen vor dem amtierenden Regierungschef. Warum sollte der Palästinenserpräsident Konzessionen bei dem zugkräftigsten Symbol der nationalen Identität seines Volkes machen, wenn überhaupt nicht sicher war, dass er damit sein Ziel - einen Staat Palästina mit der Hauptstadt al-Quds - würde erreichen können?

Es scheint, als überfordere das Konzept gemeinsamer Souveränität über den Tempelberg zum gegenwärtigen Zeitpunkt beide Seiten. Wenn aber Israel seine souveränen Rechte nicht vollständig aufgeben kann und die Palästinenser ihre souveränen Rechte nicht teilen können, so wäre es besser gewesen, das Thema auszuklammern. Bereits vor dem endgültigen Scheitern der Verhandlungen gab es Warnungen, dass der Konflikt über die Jerusalemer Altstadt noch nicht lösungsreif sei. Jerusalems ehemaliger zweiter Bürgermeister Benvenisti schrieb nach dem Abbruch des Camp David-Gipfels, der Status quo für die heiligen Stätten sei stabil und pragmatisch, weil die Wirklichkeit temporär und widersprüchlich sei. Suche man in dieser Lage nach einer endgültigen Lösung, so werde auf einmal zu Streit, was bisher hingenommen wurde.

In den vielen kreativen Lösungsvorschlägen der Juristen sieht Benvenisti moderne Alchimisten am Werk. Die von ihnen angestoßene Debatte mag dazu beitragen, lang gehegte Tabus zu brechen und damit Hindernisse für zukunftsfähige Kompromisse zu beseitigen. Aber Alchimisten tragen - wie die legendäre Erfindung des Schießpulvers zeigt - auch ein professionelles Risiko. Nach über 500 Toten in der al-Aqsa-Intifada muss man inzwischen hinzufügen: Sie tragen es nicht allein.

Auszüge aus: Friedensgutachten 2001, Münster und Hamburg 2001; in der Frankfurter Rundschau vom 7. Juni 2001 war der Beitrag von Margret Johannsen in einer längeren Fassung dokumentiert

Zur Israel-Seite

Zurück zur Seite "Regionen"

Zurück zur Homepage