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"Ein Angriff kann jeden Moment stattfinden"

Im Schatten des US-Wahlkampfes: Netanjahu und Barak planen Krieg gegen Iran. Militär hat Bedenken. Gespräch mit Michael Warschawski


Michael Warschawski (62) lebt in Jerusalem. Er ist Marxist, Antizionist und Mitbegründer des Alternative Information Center (AIC). Seine Analysen erscheinen u.a. in Le Monde diplomatique, auf ZNet und im Monthly Review. Wegen Unterstützung der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) wurde er 1989 zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt.


Seit Monaten steht die Drohung eines Luftangriffs Israels gegen iranische Atomanlagen im Raum. Wie konkret ist die Kriegsgefahr?

Sehr konkret, ein solcher Angriff kann jeden Moment stattfinden. In der Tageszeitung Haaretz schrieb der Sicherheitsexperte Alon Ben David schon am 16. Juli, daß er für Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak beschlossene Sache sei, es werde noch vor den US-Präsidentschaftswahlen im November zugeschlagen. Nur Generalstabschef Benny Gantz könne das noch verhindern. Ich bezweifele allerdings, daß sich der mit einer demokratisch gewählten Regierung anlegen wird.

Ist ein solcher Angriff nicht vom militärischen Gesichtspunkt aus absurd?

Zweifellos. Er würde das iranische Atomprogramm maximal um ein oder zwei Jahre zurückwerfen – das jedenfalls schätzen israelische wie ausländische Sicherheitsexperten. Er würde aber mit Sicherheit dazu führen, daß sich das Streben des iranischen Regimes nach Vergeltung verhundertfacht – ein Angriff wäre also eine eher selbstmörderische Aktion.

Setzt sich in solchen Fällen nicht selbst bei stramm rechten Kriegshetzern am Ende doch die Rationalität durch?

Darauf würde ich nicht wetten. Die Geschichte liefert viele Beispiele irrationaler Führer, die selbstmörderische Entscheidungen trafen und ihre Völker in die blutigsten Tragödien stürzten. Es gibt nur einen Weg, eine so verrückte Politik zu ändern: Sie müssen von der Macht entfernt werden. Aber ich bezweifele, daß das der israelischen Bevölkerung noch rechtzeitig klar wird.

Es mangelt aber auch in Tel Aviv nicht an kritischen Stimmen, wie unlängst ein gemeinsamer Brief diverser Schriftsteller zeigte ...

Den haben viele bekannte Persönlichkeiten unterzeichnet, wie Amos Oz, Yoram Kaniuk, Sami Michael oder Dorit Rabinian. Die wichtigste innenpolitische Opposition gegen einen Angriff kommt jedoch vom Sicherheitspersonal – auch aus dem Generalstab. Früher haben die Streitkräfte die politische Führung des Landes in militärische Abenteuer getrieben – zum ersten Mal in der israelischen Geschichte geschieht es jetzt umgekehrt.

Es gibt allerdings auch immer mehr Stimmen, die als Bedingung für einen Angriff fordern, daß die USA mitmachen. »Nicht ohne die Amerikaner angreifen!«, ist zur Losung zahlreicher Politiker und Kolumnisten geworden.

Wird Washington Druck auf Netanjahu und Co. ausüben, auf einen Angriff zu verzichten?

Die Frage ist doch, wer Druck auf wen ausübt. Sind die USA der Hund, der mit dem israelischen Schwanz wedelt, oder versucht der israelische Schwanz – wie in der Vergangenheit geschehen – mit dem amerikanischen Hund zu wedeln? Man sollte sich das vielleicht besser als Monster mit zwei Köpfen vorstellen – einer größer, der andere kleiner. Netanjahu und Barak sehen die nächsten Monate als günstige Gelegenheit, weil die USA weitgehend mit dem Wahlkampf beschäftigt sind.

Gibt es denn in der israelischen Bevölkerung Widerstand gegen diese Politik?

Der ist ziemlich schwach. Mitte August habe ich während meines Urlaubs in Galiläa viele Leute auf das Thema Krieg angesprochen. Während die Mittel- und Oberschicht eher nach Griechenland, in die Türkei oder in die Toscana fährt, trifft man dort vor allem die normalen Lohnabhängigen, weil es für sie erschwinglich ist. Abgesehen von jenen, die meinten: »Laß die Politik, du bist im Urlaub!«, waren fast alle für einen Präventivschlag.

Seit zwei Jahren gibt es in Israel Massendemonstrationen gegen Sozialabbau. Haben die denn nicht dazu geführt, daß sich bei den Menschen ein etwas kritischeres Bewußtsein herausgebildet hat?

Die Protestbewegung des Sommers 2011 hatte viele Hoffungen geweckt. Die sind aber eher in Verzweiflung umgeschlagen, wie die öffentlichen Selbstverbrennungen von ­Moshe Silman und Akiva Mafi im Juli zeigen. Der 57jährige Silman war ein bekannter Aktivist, er ist das tragische Symbol für das Scheitern dieser Hoffnungen: Für die Mehrheit der Menschen hat sich die soziale und finanzielle Lage weiter verschlechtert.

Interview: Raoul Rigaul

* Aus: junge Welt, Samstag, 1. September 2012

Berlin gegen Israels Angriffspläne

Die Bundesregierung drängt Israel, auf einen Militärschlag gegen den Iran zu verzichten. Vizeregierungssprecher Georg Streiter sagte am Freitag in Berlin, die Bundesregierung sei überzeugt, der Konflikt lasse sich nicht militärisch lösen. Er wollte allerdings nicht einen Bericht der israelischen Tageszeitung Haaretz bestätigen, Merkel habe vor zehn Tagen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu telefonisch gebeten, »zum gegenwärtigen Zeitpunkt« keinen Alleingang zu unternehmen und die iranischen Atomanlagen nicht anzugreifen.

In der Frankfurter Rubndschau vom 1. September war zu lesen, dass die israelische Zeitung Haaretz am Vortag berichtet habe, Bundeskanzlerin Merkel habe vor zehn Tagen bei Netanjahu angerufen um darzulegen, "dass der Diplomatie in Kombination mit verschärften Wirtschaftssanktionen mehr Zeit gegeben werden müsse". Netanjahus Büro wollte diesen Bericht weder bestätigen noch dementieren. Die FR weiter: "Haaretz zufolge zeigte sich merkel besorgt über die Konsequenzen eines möglichen Angriffs auf den Iran."




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