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Nachlese auf dem Schuk HaKarmel

Israel hat jetzt einen "Haushalt der nationalen Verantwortung", der viele teuer zu stehen kommt

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Zehntausende haben in den vergangenen Sommern in Israels Städten gegen die hohen Lebenshaltungskosten demonstriert. Viele von ihnen wählten die Partei des Politneueinsteigers Jair Lapid, weil sie sich von ihm Abhilfe versprachen. Doch seine Partei, Jesch Atid, nun zweitstärkste Kraft, droht mit einem Sparpaket alles noch zu verschlimmern.

Wenn am Abend die Sonne im Meer vor Tel Aviv versinkt, die Badegäste ihre Habe zusammenpacken und vor den teuren Restaurants ein paar hundert Meter weiter die Dinner-Gäste Schlange stehen, kramt Frau Cohen in einer Kiste voller Früchte. Die Frau um die 35 schweigt lange, während man ihr erklärt, worum es geht, was man von ihr will. dann sagt sie, dass es doch niemanden interessiert, was sie will, und beginnt dann doch zu erklären, warum sie, verheiratete Mutter von zwei Kindern, am Abend eines ganz normalen Werktags auf dem Schuk HaKarmel, dem Großmarkt von Tel Aviv, sich an den Kisten voller Früchten bedient, die vom Tage übrig geblieben sind.

Sie berichtet, wie das Geld, das sie und ihr Mann von der Arbeit nach Hause bringen, nicht ausreicht: Nicht gleichzeitig für die Miete, für Unternehmungen mit den Kindern, die am Wochenende auch mal ins Kino wollen und fürs Essen, das immer teurer wird. Nicht, wenn man nebenbei noch Kredite zu bedienen hat. »Als wir jung waren, hatten wir diese Träume von der eigenen Wohnung, vom Auto«, erzählt sie. »Wir haben auf Pump gekauft, so wie es alle machen. Mein Mann und ich haben studiert, und die Bankberater haben immer gesagt, dass das mit unseren Perspektiven ganz locker klappen wird.«

Falsche Versprechungen, Fehleinschätzungen – an ganz normalen Werktagsabenden versammeln sich hier, auf dem Schuk HaKarmel, ihre Opfer: Juden, Araber, Neueinwanderer, Leute, die im Land geboren sind. Einige Dutzend sind es heute, die Früchte aus den Kisten ziehen und in Einkaufstüten stopfen. Viele der Händler lassen die Kartons mit dem, was am Tage nicht verkauft werden konnte, für die stehen, die kein Geld für Obst und Gemüse übrig haben: »Früher habe ich die nicht verkauften Waren im Müll entsorgt«, sagt einer der Händler, »aber heutzutage fühlt sich das nicht mehr richtig an: In einer Stadt wie Tel Aviv müssen immer mehr Leute jeden Agorot [1] drei Mal umdrehen, und immer mehr kommen gar nicht mehr über die Runden – ohne, dass sie was dafür können.«

Denn die Gründe für die steigende Armut liegen in den meisten Fällen woanders: Der Wohnungsmarkt ist nahezu unreguliert, was dazu führt, dass die Mieten auf immer neue Höchststände steigen. Zehntausende sind in den vergangenen beiden Jahren immer wieder dagegen auf die Straßen gegangen; einige hundert sorgten mit einem riesigen Zeltlager mitten im Finanzdistrikt von Tel Aviv international für Aufsehen.

Besser geworden ist nichts – im Gegenteil: Im Herbst erhöhte die Regierung die Mehrwertsteuer, und sorgte damit dafür, dass die private Finanzkrise endgültig auch in der Mittelschicht ankam.

Daraufhin straften die Wähler bei den Parlamentswahlen im Januar das Wahlbündnis Likud/Jisrael Beitenu ab und machten die Neupartei Jesch Atid (Zukunftspartei) des bisherigen Fernsehmoderator Jair Lapid zur zweitstärksten Kraft und damit zum Zünglein an der Waage; Nun, da die Zukunftspartei in der Regierung und Lapid auf dem Posten des Finanzministers sitzt, müssen sie feststellen, dass »sich im Schafspelz der Wolf mit den Scherenhänden versteckt hat«, wie es neulich ein Kommentator des Militärradios umschrieb.

»Ich habe Angst«, sagt Frau Cohen: »Wenn die in Jerusalem nur einen Teil von dem umsetzen, was sie angekündigt haben, dann wissen wir wirklich nicht mehr weiter.« So soll die Mehrwertsteuer erneut um ein Prozent steigen, soll das Kindergeld gekürzt werden, soll es Beitragssteigerungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung geben – um nur einen kleinen Teil der geplanten Sparmaßnahmen zu nennen. Erstaunlicherweise sollen die traditionell mindestens 130 Prozent betragenden Einfuhrzölle für Luxusgüter und Autos gesenkt werden – was einen Großteil der Einsparungen wieder auffressen wird.

Als einen »Haushalt der nationalen Verantwortung« bezeichnet Lapid den Etat immer wieder und verweist darauf, dass die hohen Staatsschulden zu einer Krise wie in Griechenland führen könnten. Empathie habe in der Politik keinen Platz, erklärte er in einer Rede vor dem Parlament, die zu heftigen Tumulten in den Reihen der ultra-orthodoxen Parlamentarier führte: Man dürfe keine Kinder bekommen, wenn man nicht wisse, wie man sie ernähren soll, warf er den Religiösen vor, deren Wählerschaft traditionell besonders kinderreich ist.

Einer dieser Abgeordneten, Nissim Zeev von der Schas-Partei, sitzt in einem koscheren Café nur einige hundert Meter vom Schuk HaKarmel entfernt. Ein junger Mann in kurzen Hosen ruft ihm zu: »Alles Gute, bloß nicht aufgeben.« Der Politiker schüttelt betrübt den Kopf: »Mir wäre es lieber, wenn Säkulare und Religiöse aus anderen Gründen als aus finanziellen Erwägungen zusammen stehen würden.« Aber Tatsache ist: Es sind Situationen wie diese, die jeden gesellschaftlichen Graben überbrücken.

»Jahrzehnte lang war es Teil des israelischen Projekts, Kinder zu bekommen, für eine jüdische Mehrheit zu sorgen, und es war Konsens, dass der Staat die Menschen dabei unterstützt«, sagt Zeev. »Und nun kommt jemand daher und will ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen. Was sollen die Leute machen? Die Kinder hungern lassen? Es gibt genug gut Verdienende in Israel, die erstaunlicherweise gar nicht belastet werden.«

Es sei ja genau der Plan, die Mittelschicht zu entlasten, hält ein Sprecher Lapids dagegen: »Diese Leute zahlen die Steuern, von denen wir die Geringverdiener unterstützen.« Um das zu belegen, führt Lapid selbst immer wieder das Beispiel einer, allerdings fiktiven, anderen Frau Cohen an: Rikki Cohen und ihr Mann aus Hadera nördlich von Tel Aviv haben in dieser Rechnung um die 20 000 Schekel im Monat zum Leben und kommen damit kaum über die Runden. Dies sei der Durchschnittsverdienst für ein Paar in Israel.

In sich stimmt das. Nur: 70 Prozent der Israelis haben sehr viel weniger zum Leben. Der Grund: Das Amt für Statistik bezieht in die Berechnung des Durchschnittseinkommens auch die Einkommen der wenigen Reichen mit ein, was den Durchschnitt kräftig erhöht.

Sehr viel realistischer ist ein Familieneinkommen wie das von Frau Cohen vom Schuk HaKarmel und ihrem Mann. Die Familie hat alles in allem an die 12 000 Schekel im Monat. Davon müssen 6000 Schekel Miete bezahlt werden – für eine Drei-Zimmer-Wohnung. Die eigenen vier Wände, das Auto – beides musste die Familie aufgeben, als das zweite Kind kam, die besser bezahlten Jobs aber ausblieben.

Übrig blieben 2500 Schekel, die monatlich für den Schuldendienst drauf gehen. Die Alternative wäre, wegzuziehen, an die Peripherie, wo es billiger ist. Nur: Wo soll man da arbeiten?

Während Frau Cohen redet, tritt eine junge Frau Mitte 20 dazu: »Schreiben Sie, dass die Leute sich sehr gut überlegen sollen, ob sie Alijah machen«, sagt sie auf Englisch. Alijah, das ist das hebräische Wort, das die Einwanderung von Juden nach Israel bezeichnet, gefördert vom Staat mit mehreren Milliarden im Jahr. Geld, das es den Neubürgern ermöglichen soll, im Land Fuß zu fassen.

»Nur – wenn die Förderung ausläuft und die eigenen Ersparnisse weg sind, dann wird es ernst«, sagt die Frau: »Niemand sagt den Leuten vorher, dass es verdammt schwierig wird, einen Job zu finden, von dem man leben kann. Man hat ja noch schlechtere Karten, weil man die Sprache nicht gut genug spricht.«

Deshalb wird nun ein anderes hebräisches Wort bekannter: Jeridah – jener Begriff, der die Auswanderung aus Israel beschreibt und der jahrzehntelang ein Schattendasein fristete. 2012 überstieg die Zahl der Auswanderer erstmals seit 1923 die Zahl der Einwanderer.

Eine Option, die auch die Cohens und die junge Amerikanerin am liebsten wählen würden. Doch ihnen bleibt nur der Weg zum Schuk HaKarmel am Abend, wenn die Sonne im Meer versinkt, am Strand die Badetücher zusammengepackt werden und die Reichen zum Dinner gehen.

[1] 100 Aronot sind ein Schekel, das entspricht etwa 21 Eurocent.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 31. Mai 2013


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