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Staatsräson verpflichtet

Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes in Israel: Gewerkschaftsbund Histadrut ist die Stabilität des Netanjahu-Kabinetts wichtiger als die Interessen der eigenen Mitglieder

Von Raoul Rigault *

Israels Regierung steht wegen des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten, des starken Einflusses der ultrarechten Vaterlandspartei Yisrael Beiteinu von Außenminister Avigdor Lieberman, des Embargos des Gazastreifens und wegen des blutigen Piratenakt gegen die »Freedom Flottilla« international erheblich unter Druck. Da ist sozialer Friede im Innern notweniger denn je. Eben dieser war Anfang des Monats jedoch ernsthaft in Gefahr, denn für den 4. November hatte der Gewerkschaftsbund Histadrut die 750000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu einem Generalstreik aufgerufen.

So weit wollte es die Histadrut-Führung dann doch nicht kommen lassen. Am 2. November wurde eine Übereinkunft erzielt und die Ruhe an der Heimatfront gesichert. Den Preis dafür zahlen die Beschäftigten, denn das neue Tarifabkommen bleibt weiter hinter den Forderungen zurück. Statt 10,5 soll es für die nächsten dreieinhalb Jahre nur 6,25 Prozent mehr Geld geben. Aufs Jahr gerechnet bedeutet das ein Plus von mageren 1,8 Prozent bei einer Inflationsrate, die im September bei 2,4 Prozent lag. Ein Ausgleich für die Einbußen des vergangenen Jahrzehnts findet nicht statt. Nach Berechnungen der linksliberalen Tageszeitung Haaretz hatte der Gewerkschaftsbund im öffentlichen Sektor während dieser Zeit Einkommenserhöhungen von zwölf Prozent erreicht. Wie aus den Berichten des Zentralen Statistikbüros (CBS) hervorgeht, stiegen die Lebenshaltungskosten allerdings allein seit dem letzten Tarifabkommen im März 2004 um 17,5 Prozent.

Weiterhin prekär bleibt die Lage für die untersten Einkommensgruppen, denn Anfang Juli hatte das Kabinett eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns für Vollzeitbeschäftigte mit 186 Stunden im Monat von aktuell 3850 Neuen israelischen Schekel (770,63 Euro) binnen fünfzehn Monaten auf 4600 NIS (920,75 Euro) mit großer Mehrheit abgelehnt, weil das angeblich zu einer »höheren Arbeitslosigkeit« führt. Die Histadrut-Führung um Ofer Eini vergab mit dem jetzigen Dumpingabschluß auch die Chance, durch eine offensivere Tarifpolitik die Regierung in der Frage der Geringverdiener unter Zugzwang zu setzen. Es ist aber offenbar die neue Leitlinie der Gewerkschaftsbürokratie, Kernstücke der Wirtschafts- und Sozialpolitik von Netanjahu widerstandslos zu akzeptieren. So wurden die jüngsten Privatisierungsvorhaben und die geplante Verschärfung des Arbeitslosenrechtes nach dem angelsächsischen »Workfare«-Modell sofort als unabänderliche Tatsachen hingenommen.

Dieses Verhalten hat im wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen spielt bei dieser Neigung zur Staatsräson der strikt zionistische Charakter der bereits im Dezember 1920, also lange vor dem Staat Israel, von sozialdemokratischen Vertretern der Siedlerbewegung gegründeten Allgemeinen Föderation der Arbeit eine bedeutende Rolle. Daran hat auch die Tatsache nichts geändert, daß inzwischen 170000 der rund 670000 Mitglieder Araber sind. Im Gegenteil, gerade sie zählen zu den Hauptbetroffenen von Armut und Hungerlöhnen in einem relativ reichen Land. Der zweite, nicht minder wichtige Grund sind die persönlichen Ambitionen und Beziehungen ihres Vorsitzenden. Politische Beobachter unterschiedlichster Herkunft stimmen darin überein, daß Ofer Eini mit diesem Tarifabkommen seinen Wechsel in ein Ministeramt vorbereitet hat.

Ein solcher Karrieresprung ist nichts Ungewöhnliches, schließlich avancierte Histadrut-Gründer David Ben Gurion zum »Vater der Nation« und bekleidete mit einer kurzen Unterbrechung von 1948 bis 1963 den Posten des Premierministers. Einis Vorgänger Amir Peretz brachte es immerhin zum Verteidigungsminister und Mitverantwortlichen für den zweiten Libanon-Krieg im Sommer 2006. Noch nie wurde der Wechsel aber durch einen solchen Ausverkauf der Mitgliederinteressen erreicht.

Verständlich wird diese Offenheit für die Anliegen des Großkapitals bei einem Blick auf die personellen Verflechtungen der Gewerkschaftsspitze. So sind Einis Sohn und sein Bruder leitende Angestellte von Israels führendem Geschäftsmann Nochi Dankner, zu dessen IDB Holding Corporation Ltd. auch der Düngemittel- und Pestizidhersteller Makhteshim Agan zählt. Trotz dieser Verbindung betätigte sich Eini als Verhandlungsführer der Arbeiter des zum Verkauf stehenden Unternehmens. Von den 1500 Makhteshim-Beschäftigten werden zweihundert binnen Jahresfrist frühverrentet. Der Rest darf noch bis 2017 weiterarbeiten. Dann wird die Produktion nach dem Verkauf an ChemChina ins Reich der Mitte verlagert, und die Übriggebliebenen werden mit Abfindungen von rund 28000 Schekel (5600 Euro) pro Kopf nach Hause geschickt.

* Aus: junge Welt, 23. November 2010


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