Naher Osten: Eine endlose Tragödie
Vom Ministaat zum Protektorat: Israels politische Ziele in Palästina
Der nachfolgende Artikel erschien in drei Teilen am 10., 11. und 12. Juni 2002 in der "jungen welt" unter dem Titel "Vom Ministaat zum Protektorat: Israels politische Ziele in Palästina"
Von Yacov Ben Efrat, Haifa
Teil I
Mit dem Krieg, den Israel beschönigend »Operation Schutzschild« nennt,
sollten Fakten geschaffen werden, die die
Natur der zukünftigen Vereinbarungen mit den Palästinensern bestimmen
sollten. Die israelische Invasion hat die PA
(Palästinensische Autonomiebehörde) in der Westbank zerstört. Die
»A-Zonen«, in denen die PA die Kontrolle über die
Sicherheit hatte, wurden faktisch in »B-Zonen« verwandelt, in denen die
Sicherheit in den Händen Israels liegt. Damit
hat Israel den wesentlichen Teil der Verträge von Oslo rückgängig
gemacht.
Das Ansehen der PA ist seit Jahren, besonders aber während der 19 Monate
der Intifada, gesunken. Mit seinem
Eindringen in die A-Zonen und der Eliminierung der organisatorischen und
sicherheitstechnischen Infrastruktur der PA
hat Israel jetzt Stellung bezogen: Die einzige Funktion, die es der PA
in der Westbank noch einräumen will, ist die eines
symbolischen politischen Ansprechpartners für künftige Verhandlungen.
Eine Grundvoraussetzung von Oslo war, daß die palästinensischen
Sicherheitskräfte als Israels Agenten in den Gebieten
wirken würden, um Israel selbst und seine Siedlungen zu beschützen. Am
Ende hat Israel verstanden, daß die PA damit
nicht dienen kann. Die Intensivierung der Selbstmordattentate in der
letzten Zeit hat viele Menschenleben gekostet und
Israel einen schweren wirtschaftlichen Schaden zugefügt, und damit die
Moral seiner Bürger gesenkt. Jeder derartige
Angriff drängte Israels Regierung zu drastischen, entschiedenen
Maßnahmen.
Zu Anfang wollte die PA nicht mit den Selbstmordattentaten in Verbindung
gebracht werden. Israel gab Yassir Arafat
Zeit, den Widerstand niederzuschlagen, jedoch ohne Erfolg: Mit der Zahl
der Selbstmordattentate stieg auch deren
Popularität unter den Palästinensern. Die PA verlor in den
Volksbewegungen Fatah, Islamischer Jihad und Hamas an
Boden.
Die PA trieb ein doppeltes Spiel: Einerseits gab sie ihrer Verbundenheit
mit Oslo und den amerikanischen
Vermittlungsbemühungen (Mitchell und Tenet) Ausdruck. Andererseits
vermied sie es, gegen die Organisationen, die für
die Selbstmordattentate verantwortlich waren, vorzugehen, um ihre
Popularität nicht aufs Spiel zu setzen. Statt dessen
konzentrierte sie sich auf den nutzlosen Versuch, die israelische
Regierung der Nationalen Einheit
auseinanderzubringen. Da ihr der israelische Premierminister Ariel
Scharon jeglichen politischen Erfolg verweigerte,
erklärte die PA, sie könne ihrem Volk keine Hoffnung auf eine friedliche
Lösung bieten; folglich gäbe es keinen Grund,
den Kampf einzustellen. Arafat glaubte, eine Eskalation des Konflikts
könne die Erfüllung von Scharons Wahlversprechen
von »Land und Sicherheit« verhindern; die Israelis würden Scharons
Scheitern erkennen und die Arbeitspartei würde die
Koalition verlassen.
Diese Einschätzung erwies sich als vollkommen falsch. Statt dessen
gelangte die israelische Öffentlichkeit zu der
Überzeugung, Arafat unterstütze den Terrorismus. Einige ihrer
standhaftesten israelischen Alliierten in der Arbeitspartei
kehrten der PA den Rücken. Viele, die Scharon wegen seiner Rolle im
Libanon-Feldzug verdammt hatten, zeigen jetzt für
seine Motive, die Westbank zu verwüsten und eine weitere Tragödie über
das palästinensische Volk zu bringen,
Verständnis.
Für die PA war es bequem, den Konflikt zu personifizieren und sich auf
Scharon als den Übeltäter zu konzentrieren.
Nichtsdestotrotz sind die wirklichen Ursachen der Gewalt die Verträge
von Oslo selbst. Die gegenwärtige Intifada
begann als Ausdruck des Zorns der palästinensischen Bevölkerung gegen
Oslo und gegen beide Partner: Israel und die
PA. Es ist daher kein Wunder, daß sich die Anführer der
Palästinensischen Autonomiebehörde bemüht haben, diesen
Zorn vollständig auf Israel umzulenken. Doch in Oslo haben sie das
Schicksal ihres Volkes selbst in die Hände von
Israelis wie Scharon gelegt.
Scharons Strategie
Der Nebel, der über die Invasion der palästinensischen Städte durch
Israel gelegt wurde, machte es zunächst schwer,
die Ziele dieser Operation zu bestimmen. Israel behauptete, es sei dort
eingerückt, um »die terroristische Infrastruktur«
zu zerschlagen. Doch noch während die Invasion im Gange war, räumte
Verteidigungsminister Ben Elieser ein, daß Israel
bestenfalls eine Atempause von einigen Monaten erreichen werde. Aber
wenn die Militäroperation den Terror nicht
ausrotten konnte, was war dann ihr Ziel? Rache am palästinensischen
Volk, das Israels Angebote in Camp David
zurückgewiesen und mit Selbstmordattentaten erwidert hatte? Oder wollte
Scharon Yassir Arafat deportieren und eine
neue Führung erschaffen? War die Eliminierung der PA das Ziel?
Im Nachhinein können wir die israelischen Ziele deutlicher erkennen: 1.
Die palästinensischen Milizen, über die die PA die
Kontrolle verloren hat, sollten vernichtet werden. 2. In der Bevölkerung
sollte Angst und Schrecken verbreitet und 3. in
der Westbank ein Machtvakuum geschaffen und jede Spur der PA eliminiert
werden.
Bezeichnenderweise stand der Gazastreifen nicht auf dem Programm. Die
erste Stadt, in die Israel einmarschierte, war
Ramallah, wo Arafat belagert und isoliert wurde. In Nablus und Dschenin
hingegen drang Israel ein, um die
Widerstandsorgansationen zu zerschlagen, die dort vollkommen frei hatten
operieren können. Die meisten der
Selbstmordattentäter stammten aus diesen Städten.
Die Belagerung von Arafats Hauptquartier in Ramallah war Teil des
Vorhabens, die PA (außer als symbolischen
Ansprechpartner) auszulöschen. Gleiches gilt für die Sprengung der
Gebäude der PA in der Westbank. Die Eroberung des
Center for Preventive Security in Betunia war besonders bezeichnend.
Dies war das Machtzentrum Jibril Rajoubs, des
früheren Lieblings der Israelis und der CIA, gewesen. Indem Israel gegen
dieses Gebäude vorging, machte es klar, daß
es nicht die Absicht hat, sich jemals wieder auf organisierte
palästinensische Sicherheitskräfte zu verlassen, zumindest
nicht in der Westbank. Die Armee drang in zahlreiche Büros der PA, wie
z.B. die Palästinensische Rundfunkbehörde, das
Bildungsministerium und das Büro für Statistik, ein und zerstörte sie
systematisch. Doch auch die Büros ziviler
Einrichtungen, wie der Internationalen Bank Palästinas, blieben nicht
verschont. Jeden Computer, den die Armee zu
Gesicht bekam, räumte sie weg. Die systematische und umfassende Art
dieser Überfälle zeigt, daß diese nicht gegen den
Terrorismus, sondern gegen die gesamte institutionelle Basis der PA
gerichtet waren.
Israel hat auch Mustafa Barghouti festgenommen, einen der führenden
Köpfe der Intifada, der die Fatah und ihren
militärischen Flügel, die Tansim, in der Westbank befehligt. Diese
Festnahme ist ein weiterer Beweis dafür, daß Israel
keine palästinensischen Organisationen mehr tolerieren wird, die Israel
herausfordern oder der PA neues Leben
einhauchen könnten. Israel hat die Lehren aus der Symbiose zwischen PA
und Fatah gezogen. Die Operationen der
Fatah, der politischen Organisation Arafats, haben der Palästinensischen
Autonomiebehörde den bereits erwähnten
Spielraum gegeben. Da sie an Oslo gebunden war, konnte sie Israel nicht
den Krieg erklären. Jedoch konnte die Fatah in
Form der Al-Aqsa-Brigaden Angriffe ausführen, die Arafats Popularität
erhöhten und die Passivität der PA ausglichen.
Trotz der systematischen Zerstörung und des Chaos, das Israel über die
Westbank gebracht hat, hat es die
palästinensischen Führer dort als symbolische politische Ansprechpartner
auf ihren Plätzen belassen. Es hat Arafat als
Feind definiert, ihm aber nicht den Krieg erklärt. Mit anderen Worten,
Israel hat die militärischen und administrativen
Flügel der PA gestutzt, aber die Verbindungen zu jenen, die formell
immer noch zu dem Osloer Abkommen stehen, nicht
gekappt.
Uzi Dayan, Chef des israelischen Rats für Nationale Sicherheit,
bestätigt dies: »Selbst wenn man mit jemandem kämpft
und ihn herausfordert, heißt das, es gibt einen Ansprechpartner, an den
man diese Forderungen richtet. Es wäre ein
Fehler, die PA als Ansprechpartnerin zu eliminieren, denn in diesem Fall
würden dreieinhalb Millionen Leute zum
Ansprechpartner. Sich auf eine Situation einzulassen, in der wir über
die Palästinenser herrschen und ihre Leben
verwalten, wäre auf lange Sicht ein großer Fehler.« (Yediot Aharanot,
Wochenendbeilage, 26.04.2002)
Der Status von Gaza
Während es über die Westbank hergefallen ist, hat Israel die
PA-Strukturen in Gaza in Ruhe gelassen. Um die
Bedeutung dieses Vorgehens zu begreifen, müssen wir uns die
ursprüngliche Formel der Verträge von Oslo ins
Gedächtnis rufen: »Gaza und Jericho zuerst!« Am Ende der ersten Intifada
bestand in Israel ein Konsens, sich aus Gaza
zurückzuziehen. Die Frage der Westbank war komplexer. Dort hat Israel
strategische Interessen, insbesondere in bezug
auf Jordanien, wo es die Fortsetzung der Monarchie sicherstellen möchte.
Ein souveräner palästinensischer Staat in der
Westbank würde die Zukunft dieses Königreichs bedrohen, dessen Bürger in
der Mehrheit Palästinenser sind.
Das Problem der Zukunft der Westbank bereitete dem israelischen
Premierminister Yitzhak Rabin während der gesamten
Auseinandersetzungen über eine zukünftige Vereinbarung Kopfzerbrechen.
Er hätte es vorgezogen, das
palästinensische Gebiet in zwei Herrschaftsbereiche aufzuteilen: einen
unter Arafat in Gaza und den zweiten unter
Faisal Husseini und der »internen« Führung (d.h. jene, die die
Palästinenser in Madrid 1991 vertreten hatten) in der
Westbank. Diese Machtteilung sollte beide schwächen - sie sollten
abhängig voneinander und von Israel sein.
Während der Konferenz in Madrid 1991 hat Arafat - aus Tunis - die
Teilung der Macht, wie Rabin sie im Sinn hatte,
zurückgewiesen. Zumindest in dieser Hinsicht ließ man ihn gewähren.
Faisal Husseini wurde bestraft, indem ihn Arafat
von den Machtzentren fernhielt. Heute, nachdem Arafat bei der Umsetzung
der Bedingungen von Oslo gescheitert ist,
wird er in Ramallah belagert. Neun Jahre später sieht er sich also einer
Option gegenüber, wie sie Rabin gleich zu Beginn
vorgeschlagen hatte.
Der Konsens hinter Scharons Plan
PA-Funktionäre behaupten gern, daß Scharon die Gebiete wiedererobern und
zu den Tagen direkter Besatzung
zurückkehren möchte. Das ist reine Demagogie. In diesem Fall hätte
Scharon nicht zusammen mit der Arbeitspartei eine
Regierung der Nationalen Einheit gebildet. Zum Zeitpunkt der
Regierungsbildung sah sich Scharon der neuen Intifada
gegenüber. Das Ergebnis war eine Notregierung, die auf den Absichten und
Prinzipien beruht, die von der Mehrheit der
politischen Strömungen Israels geteilt werden.
Scharons derzeitige Politik reflektiert die Lehren, die er aus der
Libanon-Invasion 1982, die mit großen Verlusten und
letztlich mit dem Rückzug endete, gezogen hat. Er hat begriffen, daß er
seine Aktionen mit den Vereinigten Staaten
koordinieren muß. Bei George W. Bush hat er zu seinem Glück ein offenes
Ohr gefunden. Scharon hat auch begriffen, daß
er, um seine Politik gegenüber den Palästinensern umsetzen zu können,
unbedingt die Arbeitspartei als Alliierte braucht.
Und Scharon hat gelernt, daß er sich nicht der Vision hingeben darf, er
werde die gesamte Landkarte neu zeichnen. Er
weiß, daß er sich auf ein einziges strategisches Ziel konzentrieren muß,
wenn er das palästinensische Problem auf eine
Weise lösen will, die Israel die Oberhand beläßt.
Israels letzte Aktionen laufen auf Kriegsverbrechen hinaus - dafür gibt
es jede Menge Beweise -, aber das
palästinensische Volk steht nicht vor einem Bevölkerungstransfer wie
1948. Auch sieht es sich nicht einer Annexion der
1967 durch Israel besetzten Gebiete gegenüber. Wenn man von einer
Katastrophe sprechen will, dann hat diese 1993
stattgefunden, als die Führung des palästinensischen Volkes dessen
Rechte gegen großzügige Schmiergelder verkauft
hat.
Allerdings steht das palästinensische Volk heute einem israelischen
Premierminister gegenüber, der seine militärische
Überlegenheit und zerstörerische Macht nutzt, um wohldefinierte
politische Ziele zu erreichen. Diese genießen die
Zustimmung sowohl der USA als auch der Arbeitspartei, der Allierten
Scharons. Man ist sich einig, daß die PA als Partner
im Oslo-Prozeß ausgedient hat. Denn sie ist nicht mehr in der Lage, als
Gegenleistung für einen schwachen
palästinensischen Staat die strategischen Interessen Israels zu
bedienen.
Vom Timing her schien Israels Eindringen eine spontane Reaktion auf den
Selbstmordanschlag am Pessachfest in
Netanya. Das ist falsch. Es war das Ergebnis eines detaillierten Plans,
der entwickelt wurde, nachdem andere
Maßnahmen zur Niederschlagung der Intifada gescheitert waren.
Der Countdown für die Invasion hatte bereits im Juni 2001 begonnen, als
über zwanzig Israelis beim
Selbstmordanschlag vor der Diskothek des Delphinariums in Tel Aviv ums
Leben kamen. Von da an brachte Israel mit
wenig Rücksicht auf Opfer in der Bevölkerung auch Kampfmittel zum
Einsatz, die vorher nicht zur Anwendung gekommen
waren, wie z.B. Panzer und Flugzeuge, und liquidierte zunehmend lokale
Anführer. Die Botschaft an die Palästinensische
Autonomiebehörde war deutlich: »Wenn ihr eurer Aufgabe, Ordnung zu
halten, nicht nachkommt, tun wir es - dabei ist
uns jedes Mittel recht.« Diese israelischen Aktionen unterminieren die
Autorität der Palästinensischen Autonomiebehörde
und vergrößern das Chaos in den Gebieten. Entsprechend ist dort der
Einfluß bewaffneter Banden, die nicht der PA
unterstehen, gewachsen.
Während der Eskalation reduzierten die Vereinigten Staaten ihre Rolle
darauf, im letzten Augenblick
Vermittlungsversuche zu unternehmen, so z.B. den George-Mitchell-,
George-Tenet- oder den Anthony-Zinni-Plan. Sie
akzeptierten und übermittelten Israels Forderung, daß als Voraussetzung
für den Eintritt in Verhandlungen zunächst die
PA die Intifada beenden müsse. Doch der wachsende Haß der Palästinenser
auf Israel und Amerika brachte die PA
zwischen Hammer und Amboß, zwischen den Druck des Weißen Hauses und den
Zorn ihrer Bevölkerung.
Wer füllt das Vakuum?
Die Entscheidung, die PA zu vernichten, traf Israel, nachdem andere
Versuche bereits fehlgeschlagen waren. Sie ist nicht
leicht, denn es wird ein Vakuum geschaffen, daß mit einem neuen Regime,
anstelle des in Oslo geschaffenen, gefüllt
werden muß.
Scharon hat die Unvermeidlichkeit eines palästinensischen Staats schon
lange erkannt. Das hat er mehrfach gesagt. Aus
seiner Sicht führt der Weg zu diesem Staat jedoch über langwierige
Zwischenstationen, die es den USA und Israel
ermöglichen werden zu beurteilen, ob die Palästinenser bereit sind,
friedlich unter Israels Vorherrschaft zu leben und
seine besonderen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.
Wer wird die verschiedenen Stationen entwerfen und für die Schließung
des Machtvakuums sorgen? Nach Scharons
Vorstellungen sollte dies eine weitere internationale Konferenz tun, wie
jene 1991 in Madrid. Man könnte sie »Madrid II«
nennen. Auf dieser Konferenz sollen die arabische Welt und die
internationale Gemeinschaft Scharons Plan absegnen.
Solche Unterstützung ist notwendig, um die palästinensischen
Unterhändler zu stärken, denen ihre Einwilligung trotz
des Schadens, den die Rechte ihres Volkes dadurch nehmen, abgepreßt
werden wird.
Die geographische Dimension von Scharons Plan läßt sich aus den
israelischen Aktionen bei der kürzlichen Invasion
ableiten. Anscheinend soll Gaza die zentrale Domäne der
Palästinensischen Autonomiebehörde werden. Die dortigen
Siedlungen könnten geräumt werden. Die Westbank ist etwas vollkommen
anderes. Sie wird von Israel mit einer
Sicherheitszone umgeben werden, in der es seine Armee stationiert. Diese
Zone wird das Jordantal, das Gebiet um
Hebron und die größten Siedlungsblöcke umfassen. Die palästinensischen
Gebiete werden dann durch schmale Streifen
miteinander verbunden sein. »Madrid II« wird die Art der Regierung in
diesen Gebieten bestimmen.
Teil II
Vor dem 11. September hat US-Präsident George W. Bush die Region auf
Distanz gehalten. Arafat wollte, daß Bush sich
einmischt, und setzte - wie bei seinem Versuch, die israelische
Regierung zu spalten - auch hier auf Eskalation, inklusive
Selbstmordattentate. Diese sollten dem frischgebackenen Präsidenten
zeigen, was ohne sein Einschreiten geschehen
könnte.
Auch das war eine Fehleinschätzung. Bush weigert sich immer noch, Arafat
ins Weiße Haus einzuladen (in dem er zu
Zeiten Clintons quasi zur Familie gehörte). Trotz des Drucks, den Arafat
mit Hilfe Saudi-Arabiens und Ägyptens entfaltete,
hat der US-Präsident seine Position nicht geändert. Er hat Scharons
Meinung übernommen: keine Verhandlungen,
solange der Terror weitergeht. In den Händen Israels ist seine
Weigerung, Arafat zu treffen, zur politischen Karte
geworden; es macht jedes derartige Treffen davon abhängig, daß Arafat
seine Bedingungen akzeptiert.
Die Angriffe des 11. September haben die Haltung der USA in allen den
Nahen Osten betreffenden Fragen verhärtet. Die
meisten Angreifer stammten nicht etwa aus »Schurkenstaaten«, wie Bush
Nordkorea oder den Irak nennt, sondern aus
Saudi-Arabien, einem engen Verbündeten der USA. Washington mußte
feststellen, daß nicht nur die Palästinensische
Autonomiebehörde (PA) Probleme mit dem militanten Islam hat. Auch die
meisten anderen arabischen Staaten können
ihn nicht kontrollieren. Folgerichtig sind Israels Aktien im Weißen Haus
gestiegen.
Die arabischen Staaten sind schwach. Wacklige Ökonomien und steigende
Arbeitslosigkeit machen es ihnen angesichts
des Zorns der Bevölkerung schwer, ihre korrupten und autoritären Regime
aufrechtzuerhalten. Der Widerstand auf der
Straße liegt in den Händen der extremistisch-islamistischen Strömungen.
Diese stacheln die verzweifelnden Massen zu
einer Bedrohung für die Regierungen auf. Jedesmal, wenn der
palästinensisch-israelische Konflikt in eine neue heiße
Phase tritt, haben es die Diktatoren Saudi-Arabiens, Ägyptens und
Jordaniens schwer, ihre Allianz mit den USA zu
verteidigen.
Der saudische Friedensplan
Sogar nach dem 11. September, der enormen Druck aus dem Weißen Haus und
den US-amerikanischen Medien mit sich
brachte, war Saudi-Arabien gezwungen, die Unterstützung des Bush-Krieges
gegen den Terrorismus an bestimmte
Bedingungen zu knüpfen. Saudi-Arabien erklärte sich bereit, die
Vereinigten Staaten zu unterstützen (mit anderen
Worten: den militanten islamistischen Organisationen entgegenzutreten),
falls die USA in der palästinensischen Frage
einen ausbalancierten Standpunkt einnehmen würden. Praktischerweise
stimmte Bush nun der »Vision« eines
palästinensischen Staates zu.
Bushs Vision wurde zu gegebener Zeit mit dem »saudischen Friedensplan«
belohnt. Dieser Plan schlägt vor, daß die
arabischen Staaten ihre Beziehungen zu Israel vollständig normalisieren,
wenn Israel sich im Gegenzug aus allen
Gebieten, die es 1967 besetzt hat, zurückzieht. Die Bedeutung dieses
Vorschlags liegt nicht in seinem Inhalt. Die
meisten arabischen Staaten hatten schon nach Oslo damit begonnen, ihre
Beziehungen zu Israel zu normalisieren. Die
Forderung nach einem vollständigen Rückzug haben weder Israel noch die
USA jemals ernst genommen. (Tatsächlich
wurde der Vorschlag inzwischen auf die Dimensionen eines Tenet- oder
Mitchell-Plans reduziert.) Die wirkliche
Bedeutung der Initiative lag darin, daß sie von den Saudis ausging.
Dadurch erhielt Bush arabische »Deckung« für seine
künftige internationale Konferenz, die wir Madrid II getauft haben.
Die meisten arabischen Regierungen, einschließlich der Palästinensichen
Autonomiebehörde (PA), hängen dem
Irrglauben an, man könne Israel kritisieren und gleichzeitig die USA
unterstützen. Tatsächlich lag das Eindringen Israels
in die Westbank, trotz der öffentlichen Pose, die George W. Bush dazu
einnahm, innerhalb der Vorstellungen, die
Washington für die Region hegt. Das hat auch die saudische Initiative
nicht aus der Bahn geworfen. Tatsächlich begann
Israel die Aktion »Verteidigungsschild« einen Tag, nachdem der arabische
Gipfel in Beirut die saudische Initiative
aufgegriffen hatte. Dennoch war der Einmarsch keine ablehnende Antwort
auf den saudischen Plan, wie die arabischen
Medien meinten. Im Gegenteil, er widerspiegelte Israels Interpretation
des Vorschlags. Der Einmarsch sollte diese
Interpretation Wirklichkeit werden lassen.
Auch die israelische Linke hat sich mit gewohnter Kurzsichtigkeit für
den saudischen Friedensplan erwärmt. Doch sollten
wir ihn in seinem Kontext begreifen: Die arabische Welt tritt wieder dem
»Krieg gegen den Terrorismus« bei, dessen
nächstes großes Ziel der Irak ist. Aus US-amerikanischer Sicht ist es
das Gebot der Stunde, die
israelisch-palästinensische Front zu entschärfen, um alle Kräfte für den
Kampf gegen Saddam freizustellen. Die USA
haben kein Interesse daran, Israel strategisch zu schwächen oder die
Freiheit der Palästinenser herbeizuführen. Auch
wenn Bush die saudische Initiative fördert, erkennt er Israel das Recht
zu, einen Vernichtungsfeldzug gegen die
Palästinenser und die Autonomiebehörde zu führen. Die US-Position ist
nicht ambivalent. Die USA möchten den Konflikt
auf eine Art beilegen, die ihren Interessen dient, also sowohl Israels
Vorherrschaft garantiert als auch das Überleben
der befreundeten arabischen Diktatoren. Darin bestehen Ziel und Substanz
der Bush-»Vision«. In ihr gibt es keinen Platz
für einen lebensfähigen palästinensischen Staat, der über sein eigenes
Land, sein eigenes Meer, seine eigene Luft
verfügt und herrscht.
Bushs Forderung, Israel möge sich aus den Gebieten, in die es
eingedrungen ist, zurückziehen, stimmt mit dessen
Plänen überein. Israel will, wie es immer wieder versichert hat, gar
nicht dort bleiben. Diese Lektion hat es in der ersten
Intifada gelernt: Es bringt keinen Gewinn, über eine feindselige
Bevölkerung zu herrschen. Israel will die Gebiete per
Fernsteuerung regieren, ohne Verantwortung für das Leiden der Einwohner,
und ohne für deren Bedürfnisse sorgen zu
müssen. Die Ereignisse des 11. September haben die Welt für viele
verändert, auch für Israel. Es weiß, daß es außerhalb
des Rahmens der US-Politik jetzt nichts entscheiden kann. Seine
Wirtschaft hängt von der US-amerikanischen ab. Seine
Sicherheit ebenso. Deshalb: Zwischen den Zielen Scharons und den Zielen
des Weißen Hauses gibt es nichts zu
differenzieren. In der palästinensischen Frage sind die beiden einer
Meinung: Diesen Dorn kann man ziehen, indem man
einen Scheinstaat gründet. Keiner der beiden will einen Staat, der die
Rechte des palästinensischen Volkes verwirklichen
würde.
Madrid II
Nachdem Israel die zivile und administrative Infrastruktur der Westbank
zerstört hatte, schickte Bush seinen
Außenminister Colin Powell. Der hatte den Auftrag, einen Kompromiß
herbeizuführen. Aber er hatte keine Eile, denn
während die Westbank brannte, machte er in mehreren arabischen Staaten
und dann in Madrid halt. Dort traf er
europäische Repräsentanten sowie den russischen Außenminister und den
Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi
Annan. Als Powell Madrid verließ, stand die arabische und die übrige
Welt fast geschlossen hinter der Idee einer neuen
internationalen Konferenz.
Am Abend seiner Abreise aus Jerusalem definierte Powell die
strategischen Ziele einer möglichen Konferenz: »An erster
Stelle steht die Sicherheit und die Abwehr von Terrorakten und Gewalt,
sowohl von israelischer als auch von
palästinensischer Seite. Zweitens sollen ernsthafte und zügige
Verhandlungen über eine politische Vereinbarung
vorangetrieben werden. Drittens braucht es wirtschaftliche und
humanitäre Hilfe, um die tragische Lage des
palästinensischen Volks zu verbessern.« (New York Times, 18. April
2002).
Scharon versicherte eilig sein Interesse an der Durchführung einer
internationalen Konferenz. Israel hat seine frühere
Haltung offensichtlich geändert. In der Vergangenheit hat es sich
solchen Verhandlungen immer widersetzt. 1991, am
Ende des Golfkriegs, hatten die USA Israel und die arabischen Staaten zu
umfassenden Verhandlungen nach Madrid
eingeladen, um den Konflikt auf Basis der UN-Resolutionen beizulegen.
Während man sich dort durch die Gespräche
quälte, erreichte das palästinensische Verhandlungsteam mit Arafats
Einverständnis außerhalb der Konferenz eine
separate Vereinbarung mit Israel, die den Weg für die Verträge von Oslo
freimachte. Das Fehlen eines internationalen
Rahmens, der dafür gesorgt hätte, daß die Vereinbarungen auch umgesetzt
würden, ist einer der Hauptgründe für den
derzeitigen Verfall.
Warum stimmt Israel jetzt einer internationalen Konferenz zu? Es hat die
palästinensische Autonomiebehörde als Quelle
der Autorität in der Westbank vernichtet, aber es will nicht wieder zu
direkter Besetzung zurückkehren. Daher bleibt ihm
keine andere Wahl als eine dritte Partei zu finden, die das Gebiet
verwaltet. Wer das sein soll, kann nur eine
internationale Konferenz entscheiden.
Es wird zwar nicht offiziell verkündet, aber Leute, die dem Militär bzw.
der politischen Szene Israels nahestehen,
beteuern, daß es die Idee gibt, die Herrschaft über die Westbank zu
internationalisieren. Einer dieser Leute ist Alex
Fishman, Militärexperte der hebräischen Tageszeitung Yediot Aharonot. In
der politischen Beilage vom 14. April 2002
schreibt er: »Als Scharon vor einigen Monaten den Vorschlag einer
>breiten Pufferzone< (der die Anwesenheit der
israelischen Armee auf einem Gebiet mit einer Breite von einem bis zehn
Kilometern östlich der Grünen Linie einschließt)
aufbrachte, hielten die Leute dies für eine vorübergehende Laune, die
den diplomatischen Prozeß torpedieren sollte.
Heute scheint es, als habe Scharon vorausgedacht. Die Pufferzonen sollen
die Landkarte entsprechend den israelischen
Interessen gestalten. Die massive militärische Präsenz in diesen Zonen
wird Fakten schaffen und die Ausbreitung
multinationaler Einheiten in den Gebieten der Westbank begrenzen.«
Die Kapitulationsbedingungen
Fishman weiter: »Weil der Begriff >multinationale Einheiten<
israelischen Ohren ein Greuel ist, waren die
Kabinettsminister in der vergangenen Woche überrascht, den PM
(Premierminister) von einer derartigen Möglichkeit und
der Notwendigkeit, sich schleunigst darauf vorzubereiten, sprechen zu
hören.« Fishman zufolge will Scharon vorbeugen:
Anstelle des UN-Sicherheitsrats soll eine internationale Konferenz mit
einer Israel angenehmen Zusammensetzung die
Autorität über eine internationale Einsatztruppe haben. Den Charakter
einer solchen Truppe voraussehend, nennt
Fishman die »Green Berets«, die in das Kosovo geschickt wurden, als
Beispiel: »Das ist eine aktive Truppe«, schreibt er,
»die auf beiden Seiten ihre Herrschaft behauptet und die internationalen
Entscheidungen mit militärischer Stärke
durchsetzt.«
Als Minister Powell die Ziele der internationalen Konferenz beschrieb,
war die Reihenfolge die gleiche wie seinerzeit für
den Balkan: Sicherheit, eine politische Vereinbarung, humanitäre und
ökonomische Hilfe. In Jugoslawien sind die
Vereinigten Staaten zunächst einmarschiert und haben den bestehenden
Staat zerschlagen, so wie es Scharon in der
Westbank gemacht hat. Hier wie dort kehrt der Eroberer in Gestalt der
Friedenstruppen zurück - gekommen, das
jeweilige Volk zu retten. Der UN-Gesandte für den Nahen Osten, Terje
Larsen, hat die humanitäre Katastrophe, die im
Flüchtlingslager von Dschenin stattgefunden hat, dargestellt und damit
den Boden für eine neue Besatzung vorbereitet -
diesmal durch internationale Truppen und unter dem Deckmantel
humanitärer Hilfe: Erst Bomben, dann Decken. Die
NGOs und die palästinensische Bourgeoisie werden unersetzlich sein bei
diesen Wiedergutmachungsaktionen.
Die Absicht der Powell-Reise war nicht ein Waffenstillstand; Powell
wollte vielmehr Arafat zeigen, daß die Zeiten der
Palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank unwiderruflich vorbei
sind. Statt als Märtyrer in Richtung
Jerusalem zu marschieren, wird Arafat geschlagen nach Gaza zurückkehren,
in einer schlechteren Position als vor acht
Jahren, als er dort ankam. Er verhandelt über die
Kapitulationsbedingungen, nicht über neue Erfolge. Die Vereinigten
Staaten haben die Schlacht entschieden, ebenso die internationale
Gemeinschaft und jetzt auch die arabischen Regime.
Der saudische Außenminister, Saud al-Faisal, hat gegenüber der in London
ansässigen Zeitung Sharq al-Awsat gesagt,
daß Beobachter nicht ausreichen würden, um die Art von Trennung
herzustellen, die zwischen der israelischen Armee
und wütenden Palästinensern notwendig sei. »Wir wünschen jetzt
internationale Einheiten, die die Palästinenser
schützen und wie im Balkan die Sicherheit entlang der Grenzen
aufrechterhalten.« (zitiert von Patrick E. Tyler in The New
York Times, 29. April 2002).
Weitere Bestätigung für diese Vorhersage findet sich bei Amir Oren:
»Barghouti hat man festgenommen«, schrieb er in
der Ha’aretz vom 19. April 2002. »Jibril Rajoub ist zurechtgestutzt
worden. Die Führer anderer Organisationen wurden
als Terrorimpresarios etikettiert und für untauglich erklärt. Nach all
dem bleibt in der Westbank keine Führung mehr
übrig, mit der man sprechen kann. Das ist ein trauriger Zustand, und um
dem zu entkommen, braucht Scharon einen
neuen Weg - z.B. Gaza als palästinensischen Staat (wenn auch nicht als
endgültigen) mit Mahmoud Dahlan als seinem
Oberhaupt (und Arafat als Ehrenpräsidenten) - und ohne Siedlungen; was
die Westbank betrifft, werden wir uns darum
kümmern, wenn die Palästinenser wieder zu Vernunft gekommen sind.«
Alles, was Arafats Getreuen übrigbleibt, ist, ihre persönlichen
Interessen in den besetzten Gebieten zu sichern: Jobs,
Monopole (über Zement, Benzin, Zigaretten u.a.), einen Anteil an den
Hilfsgeldern und ein gewisses Maß an politischer
Präsenz für die Fatah, wenn sie sich ordentlich benimmt. Scharon
seinerseits hat seine Bereitschaft kundgetan, Arafat an
einer internationalen Konferenz teilnehmen zu lassen, weil ihm klar ist,
daß es Israel ohne Arafats Anwesenheit schwer
haben wird, Zustimmung zu seinem Plan zu finden. Das Konzept von Madrid
II paßt sowohl in die Vorstellungen von
Scharon als auch von Bush. Sie sind sich darin einig, daß es unter den
gegenwärtigen Bedingungen ausgeschlossen ist,
eine abschließende Vereinbarung mit den Palästinensern zu erreichen. Sie
suchen eine Zwischenlösung, die lange hält.
Die Erklärungen über einen palästinensischen Staat sind
Lippenbekenntnisse, die den politischen Rahmen schaffen, um
die Palästinenser unter die Ägide internationaler Einheiten zu bringen.
Wie auch immer die Zusammensetzung dieser
Truppe aussehen wird, ihre Hauptaufgabe wird sein, die Sicherheit
Israels und die Interessen Amerikas in der Region zu
garantieren.
Teil III
Die Angriffe Israels während der Intifada waren sorgfältig
geplant. Seine Ziele berücksichtigten das Gleichgewicht der
Kräfte in der Region. Das kann man über die palästinensische
Seite nicht sagen. Die Palästinensische Autonomiebehörde
(PA) war verwirrt und gespalten. Die wichtigsten
palästinensischen Bewegungen (Fatah und die islamistischen
Gruppen) sind jeweils ihrem eigenen Programm gefolgt.
Während Israel internationale Entwicklungen und die
Reaktionen der arabischen Welt berücksichtigte, stets darauf
bedacht, seine Militäroperationen nicht zum ständigen Krieg
eskalieren zu lassen, zog sich die palästinensische Seite völlig
in sich selbst zurück und ignorierte alles, was außerhalb
geschah.
Vom Ausbruch der Intifada an schüttelte die PA jede
Verantwortung ab. Sie war die einzige anerkannte Autorität in
den Gebieten, und doch sahen ihre Sicherheitskräfte hilflos zu,
als mit Steinen bewaffnete palästinensische Jugendliche an
den Checkpoints unter dem Feuer israelischer Waffen fielen.
Die PA steckte in einem beschämenden Dilemma: Einerseits
konnte sie die Intifada nicht stoppen, sie hoffte in Wirklichkeit,
daß sie politisch Gewinn bringen würde. Auf der anderen Seite
konnte sie nicht offen den Kampf aufnehmen, weil sie an die
Vereinbarungen von Oslo gebunden ist, die es ihr verbieten,
die Waffen gegen Israel zu erheben. Als Ergebnis dieser
Zwangslage hat sie sowohl gegenüber dem eigenen Volk als
auch gegenüber den Schirmherren von Oslo das Gesicht
verloren.
Die Fatah ist die größte palästinensische Organisation und die
einzige, deren Anführer Teil der Palästinensischen
Autonomiebehörde sind. Arafat steht bis heute sowohl der PA
als auch der Fatah vor. Doch in bezug auf die Intifada hat die
Fatah entschieden, diametral entgegengesetzt zur PA zu
handeln. Durch ihre militärischen Operationen gegen Israel
kam es - zumindest nach außen hin - zur Trennung zwischen
Arafat und Marwan Barghouti, dem Kopf des militärischen
Flügels der Fatah, der Tansim. Es entstand eine merkwürdige
Form der Koexistenz zwischen dieser Regierung, die
bewaffnete Operationen verurteilte, und der von ihr
finanzierten Fatah, die eben solche bewaffneten Operationen
ausführte. Fatah-Mitglieder erläuterten diese Dichotomie so:
Wir sind nicht an die gleichen Vereinbarungen gebunden, wie
sie die PA in einer Zeit der Schwäche unterschrieben hat.
Die Fatah hat den bewaffneten Kampf nicht aus idealistischen
Gründen aufgenommen. Barghouti repräsentiert eine Schicht
innerhalb dieser Organisation, die sich nach 1994 außerhalb
der umworbenen, einflußreichen Kreise wiederfand. Viele
dieser Außenseiter waren während der ersten Intifada
Anführer der Basisbewegungen. Als die PA an die Macht kam,
hofften sie, für ihren Einsatz für die Sache belohnt zu werden.
Dies geschah nicht. Die meisten Chefposten wurden von
Leuten eingenommen, die mit Arafat aus Tunis gekommen
waren.
Die benachteiligten Fatah-Kader warteten ihre Zeit ab. Sie kam
mit dem Beginn der neuen Intifada, die ursprünglich nicht nur
ein Ausdruck des Hasses der Bevölkerung gegen Israel,
sondern auch gegen die »Tunis-Gruppe« war. Die Fatah hoffte,
ihr eigenes Machtzentrum aufbauen und dergestalt das
Kräfteverhältnis innerhalb der PA verändern zu können. Die
Tansim wetteiferte mit der Hamas um die Unterstützung aus
der Bevölkerung. Sie übernahm immer extremere Methoden
und Ziele, was sich auch in ihrem neuen Namen »Die
Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden« ausdrückt. Begonnen hatte sie mit
Angriffen auf israelische Soldaten und die Siedler, später ging
sie zu Selbstmordanschlägen im Herzen Israels über. So äffte
sie die Methoden der militanten islamistischen Gruppen nach,
die aus religiöser Inspiration und nicht aus objektiver Analyse
handeln.
Mangel an Selbstkritik
Es gab keine langfristige Planung, keine Abwägung der
Konsequenzen. Keine einzige der militanten Gruppen zog die
internationalen oder regionalen Rahmenbedingungen in
Betracht, die für die gegenwärtige palästinensische Situation
relevant sein könnten. Andernfalls hätten sie vielleicht zu einer
Zeit, zu der alle arabischen Regime einschließlich der PA immer
noch einer Friedensstrategie anhingen, die totale
Konfrontation vermieden.
Wie seine opportunistische Haltung gegenüber der PA bewies,
mangelte es Barghouti an politischer Schlagkraft. 1993 gehörte
er zu den Schlüsselfiguren, die sich entschieden hatten, den
Verhandlungspfad einzuschlagen und den bewaffneten Kampf
aufzugeben. Wenn er seine Meinung später geändert hat,
hätte er daran arbeiten müssen, die PA zu ersetzen. Statt
dessen entschied er sich, gegen Israel Krieg zu führen, und
verließ sich dabei auf seine Immunität als Mitglied des
palästinensischen Parlaments. Diese merkwürdige Politik hat
ihn jetzt in eine israelische Gefängniszelle geführt.
Ein weiterer Widerspruch in Barghoutis Haltung soll erwähnt
werden. 1993 haben er und die übrigen Anführer der Fatah
sich einer »Theorie der Niederlage« angeschlossen. Diese
lautete im Prinzip folgendermaßen: »Das palästinensische Volk
hat keine andere Wahl, als die Verträge von Oslo zu
akzeptieren. Die arabische Welt ist gegen uns, die
Sowjetunion ist zusammengebrochen, und die USA sind die
einzige Supermacht.« Wer sich dieser Lesart widersetzte,
wurde des Abenteurertums beschuldigt. Durch den Dreh, den
die PR-Abteilung der Fatah der Sache gab, wurde das häßliche
Entlein der Niederlage von Oslo zum Schwan des Sieges unter
der Führerschaft »unseres Bruders und Kommandeurs Abu
Omar« (Arafat).
Man darf sich fragen: Welche große Veränderung ist in den
letzten zehn Jahren geschehen, die Palästinenser wie
Barghouti dazu gebracht haben könnte, ihren früheren
Defätismus aufzugeben und zu einem Programm des Krieges
zu wechseln? Ebenso wenig wie der Defätismus richtig war, als
die palästinensischen Führer die Verträge von Oslo
unterzeichneten, können die neuen Krieger von heute ihre
Aktionen mit der Realität in Einklang bringen. Sie rufen nach
bewaffneten Auseinandersetzungen mit Israel, aber es fehlt
ihnen an den minimalsten Mitteln, diese durchzuführen oder,
wenn sie einmal damit begonnen haben, ihr Volk vor den
Konsequenzen zu schützen.
Den Realitäten ins Auge sehen
Am Vorabend der israelischen Invasion von Dschenin beschrieb
Shirin Abu Akleh, die für das arabische Satellitenfernsehen
Al-Dschasira berichtet, die Situation folgendermaßen: »Wenn
die israelische Armee in das Camp eindringt und ein Massaker
durchführt, wird sie eine Niederlage erleiden. Tut sie es nicht,
ist es auch eine Niederlage für sie. Am Ende wird die
israelische Armee in jedem Fall als Verliererin dastehen.«
Diese Sichtweise spiegelt das verzerrte Denken der
palästinensischen Opposition. Mit fortschreitenden Kämpfen
gaben deren Vertreter zu, daß sich ihre bewaffneten Kräfte
neben den Zivilisten im Lager eingegraben hatten, aber sie
stellten das mögliche Massaker nicht als Unglück dar, das
vermieden werden muß, sondern als eine Niederlage des
Feindes! Es liegt in der Natur solcher Massaker, daß sie den
Gegner entlarven, aber sie führen nicht notwendigerweise zu
seiner Niederlage. (1948 haben die Israelis mehrere Massaker
begangen, doch dies hat nicht dazu geführt, daß sie besiegt
worden wären.) Der Verlierer ist das Volk, das seinem
Schicksal schutzlos überlassen wird.
Munir Schafiq, ein fundierter Kenner der islamistischen
Bewegung Senior Pundit, vergleicht das Lager mit Stalingrad.
Kämpfer und Bürger hielten zusammen, schreibt er. »Das
Flüchtlingslager von Dschenin ging als Sieger aus diesem
Kampf hervor, denn es erhob sich, tötete, hielt lange durch
und fiel als Märtyrer.« Solches Märtyrertum empfiehlt er als
Vorbild für die Zukunft. (Al-Hayat, 28. April 2002)
Die beiden islamistischen Bewegungen, Hamas und Dschihad,
haben die zweite Intifada aufgegriffen, jedoch haben sie dabei
die Lehren der ersten mißachtet. Während der ersten Jahre
des heldenhaften Kampfes des palästinensischen Volkes
(1987–1991) gelang es der palästinensischen Gesellschaft,
ihre Lebensfunktionen zu erhalten und sich nicht in einen
solchen Zustand der Zerstörung zu manövrieren, wie wir es
heute erleben. Gleichwohl betrachtet der islamische
Fundamentalismus die erste Intifada als Schimäre, weil sie von
einer säkularen Führung geleitet wurde und sich auf die
besetzten Gebiete begrenzte, statt im Herzen Israels
zuzuschlagen. Die neue Intifada schien eine einzigartige
Chance zu bieten: Hamas würde sich als einzige Bewegung
präsentieren, die noch an den bewaffneten Kampf glaubt. Sie
bauschte die Selbstmordanschläge einzelner zu einem
strategischen Programm auf. Die Islamisten betrachten sie als
ultimative Waffe, um Israel zu besiegen. Einer der wichtigsten
Führer der Hamas, Khaled Mashal, den Jordanien kürzlich
deportieren ließ, sagte vor wenigen Monaten gegenüber
Al-Dschasira: »Wenn sich niemand einmischt, kann die Hamas
Israel binnen fünf Jahren bezwingen.«
Wir sollten daran denken, daß das palästinensische Problem
nicht das Kernstück des Programms der Islamisten ist. Es steht
neben Kaschmir, Afghanistan, Tschetschenien, den Philippinen
und dem Kosovo auf der Liste. Das palästinensische Volk ist im
Kampf der Hamas in erster Linie eine Geisel. Es hat keine
Möglichkeit, sich gegen Vergeltungsmaßnahmen zu schützen.
Bei der Hamas finden wir die gleiche Mißachtung gegenüber
den Menschen wie bei den Taliban in Afghanistan. Statt aus
den Erfahrungen des 11. September und seinen Folgen zu
lernen und die Mittel der Situation anzupassen, schlug die
Hamas den entgegengesetzten Weg ein. Die Zahl ihrer
Selbstmordattentate nahm konstant zu. Als Ergebnis wurde
die palästinensische Bevölkerung zu einem der Ziele des
US-amerikanischen Krieges gegen den Terrorismus. Die
Attentate ermöglichten es Washington, Israel von der Leine zu
lassen. Es stürmte sofort los.
Hat sich irgend jemand gefragt: Wie kann die Hamas Israel
besiegen, wenn sie nicht einmal die Palästinensische
Autonomiebehörde absetzen kann? Die Hamas prescht vor und
die Bevölkerung zahlt den Preis, ohne Führung oder einen
wirklichen Plan für den Kampf gegen die Besatzung. Das
Bin-Laden-Syndrom - militante Rhetorik ohne die Fähigkeit und
Stärke, die Realität auch zu verändern - ist für die
islamistisch-fundamentalistischen Bewegungen typisch. In
keinem wichtigen arabischen Land haben sie es geschafft, die
Macht zu übernehmen.
In Anbetracht des derzeitigen Kräfteverhältnisses kann die
Hamas mit ihren Selbstmordattentaten Israel genauso wenig
besiegen, wie die PA mit ihrem Weg der Verhandlungen die
Unabhängigkeit erreichen konnte. Nicht, daß Verhandlungen
an und für sich falsch oder der bewaffnete Kampf gegen eine
Besatzung illegitim wären. Es ist keine Frage des Mittels.
Entscheidend ist das derzeitige Kräfteverhältnis, sowohl
weltweit als auch in der Region. Dieses erlaubt es
unterdrückten Völkern nicht, Fortschritte in Richtung
Unabhängigkeit zu machen. Die Möglichkeit, nationale Ziele zu
erreichen, hängt nicht nur von der Willenskraft oder
persönlichen Opferbereitschaft ab. Sie beruht auf den
objektiven Umständen, die sich aus der militärischen Stärke,
der wirtschaftlichen Stabilität, einer lebensfähigen sozialen
Ordnung und einem vernünftigen politischen Rahmen ergeben.
Keine dieser Komponenten ist heute bei den Palästinensern
gegeben.
Vor acht Jahren hat man die palästinensische Bevölkerung mit
falschen Friedensfeiern betrunken gemacht. Sie unterstützte
die Normalisierung im Vertrauen auf israelische Führer wie
Schimon Peres und Ehud Barak. Mit der gleichen
Gedankenlosigkeit geht sie heute gegenüber ihren Besatzern
in Kampfstellung, ohne jedoch die Mittel zu haben, diesen
Kampf auch führen zu können. Acht Jahre der Korruption, der
Lügen und der Diktatur der Palästinensischen
Autonomiebehörde haben keinen einzigen ernsthaften Versuch
hervorgebracht, eine alternative Führung zu schaffen. Arafat
ist der einzige Führer - ohne Plan und ohne Perspektive.
Befreiung im globalen Dorf
Besatzung ist Unterdrückung, doch im allgemeinen kämpfen
die Menschen nicht, um eine Form der Unterdrückung durch
eine andere zu ersetzen, auch wenn die neue Unterdrückung
ein nationales Etikett hat. Das Recht auf Selbstbestimmung ist
keine separate nationale Frage mehr, die jedes Volk für sich
allein lösen muß. In der gegenwärtigen kapitalistischen
Realität wird jedes Volk, das allein gelassen wird,
wahrscheinlich zugrunde gehen.
Angenommen, Israel würde sich aus den Gebieten
zurückziehen, einen langen Zaun bauen und die Palästinenser
ihrem Schicksal überlassen (eine Idee, die von vielen Israelis
favorisiert wird): In den Gebieten würde dennoch kein
lebensfähiger Staat entstehen. Den Palästinensern mangelt es
an der erforderlichen ökonomischen Infrastruktur. Sie blieben
weiter von Amerika abhängig, das nicht zulassen würde, daß
ein Staat entsteht, der die bestehenden Regime in der Region
ökonomisch oder anderweitig herausfordern könnte. Die
US-amerikanische Marionette »Palästina« wäre unfähig, die
Probleme der Armut, der Arbeitslosigkeit und der Flüchtlinge zu
lösen.
Die Anführer der jetzigen Intifada haben weder eine Ideologie
noch ein soziales Programm. Sie begnügen sich mit Parolen,
als wollten sie sagen: »Wenn wir die Besatzung los sind, wird
alles gut.« Hinter solchen Vorstellungen verbirgt sich das
beschränkte Klassenbewußtsein der palästinensischen
Bourgeoisie. Wie ihresgleichen in den anderen arabischen
Staaten träumt auch sie davon, innerhalb der neuen
Weltordnung eine Nische zu finden. Wenn sie ihre Nische
bekommt, wird das Gebilde, das neben Israel entsteht, von
Armut und Unterentwicklung geprägt sein. Die meisten seiner
Bewohner werden frustriert feststellen, daß sie wieder einmal
betrogen wurden. Ein solcher Organismus wird außerstande
sein, für Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Bildung oder
Beschäftigung zu sorgen. Das Hauptproblem stellt sich dann
ökonomisch, sozial und politisch.
Der Kampf um die palästinensische Unabhängigkeit ist nicht zu
trennen vom Kampf gegen die arabischen Diktatoren. Diese
bieten die Grundlage für die US-amerikanische Hegemonie in
der Region. Aus gutem Grund geraten sie über jede
revolutionäre Bewegung in Sorge. Gegen die israelische
Besatzung wenden sie sich nur, weil diese Unruhe in ihren
eigenen Hinterhöfen verursacht. Die meisten von ihnen haben
Israel auf der ersten Konferenz in Madrid akzeptiert. Sie haben
es als Teil des Systems anerkannt. Seitdem hat sich nichts
Wesentliches geändert.
Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik ist die
Aufrechterhaltung des Kapitalismus, was in unserer Region die
Kontrolle über die Ölfelder erfordert. Dieses Interesse hält
sowohl Israel als auch die arabischen Diktatoren an der Macht.
Das Prinzip der Selbstbestimmung kann daher nur Wirklichkeit
werden, wenn es auch die revolutionäre Botschaft des
Kampfes gegen den Kapitalismus umfaßt. Daher kann ein
lebensfähiger palästinensischer Staat nur im Kontext
revolutionärer Veränderung in der Region entstehen.
Die arabische Welt hält die sozialistische Vision für
unrealistisch und unannehmbar für die Massen. Die Linke
kopiert den politischen Islam, anstatt ihn zu bekämpfen. Statt
eine bessere Welt durch die Verwirklichung des Sozialismus zu
versprechen, ziehen es ihre Anführer vor, ihre Zuhörerschaft
mit glühenden Beschreibungen des Paradieses zu erbauen,
welches den Selbstmordattentäter erwartet.
Die wichtigste Aufgabe des palästinensischen Volks ist die
Schaffung einer alternativen Führung, die auf neuer und
anderer Grundlage gegen die Besatzung kämpft. Statt sich
abhängig zu machen von den Vereinigten Staaten und den
arabischen Regierungen, wird sie sich gegen diese stellen
müssen. Sie darf sich nicht auf religiöse oder nationale
Programme beschränken, sondern muß sich auf
internationalistischer Grundlage entwickeln. Wird den
Palästinensern eine solche Veränderung gelingen? Die Antwort
ist: Ja, aber nicht allein, sondern als Teil eines weltweiten
Unterfangens.
Israels Zukunft ist alles andere als rosig. Sein schmutziger
Krieg gegen die Palästinenser zeigt, wie unfähig es ist, sie als
Gleiche zu behandeln. Sein barbarisches Verhalten hat die
Widersprüche in der israelischen Gesellschaft verschärft und zu
einer stetig wachsenden Zahl von Kriegsdienstverweigerern
aus Gewissensgründen geführt. Als ein Schritt hin zum
Internationalismus sollten die Palästinenser alle, auch Israelis,
willkommen heißen, die mit ihnen für eine neue Zukunft ohne
Besatzung und Rassismus kämpfen wollen.
Die englische Originalfassung des Beitrags stammt aus Challenge, Nr. 73, Mai/Juni 2002
Übersetzung aus dem Englischen: Endy Hagen.
Aus: junge welt, 10. und 11. Juni 2002
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