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Taktiker oder Stratege?

Zu Sharons Abstimmungserfolg in der Knesset.
Ein Kommentar von Reiner Bernstein, München*

Der Jubel ist voreilig, den manche Kommentatoren nach Ariel Sharons Rede am 25. Oktober anstimmen. Auch die Erwartung ist verfrüht, dass nach der Abstimmung in der Knesset der Weg für die Wiederaufnahme des vergeblich beschworenen Friedensprozesses zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde frei geworden sei. Denn die endgültige Entscheidung will die Regierung erst im März 2005 herbeiführen, und die Zeit bis dahin erscheint im schnellebigen Nahen Osten wie eine halbe Ewigkeit: Niemand weiß, welches Kabinett das politische Heft in der zittrigen Hand halten wird, und wie die Islamisten vom Schlage der "Hamas" und des "Islamischen Djihad" auf die israelische Ablösung ("disengagement") aus dem Gazastreifen reagieren werden, wenn die Kontrolle über die Grenzen nach Ägypten sowie die Souveränität über den Luftraum und die Seewege nicht aufgegeben werden sollten und wenn die militärischen Vergeltungsaktionen Israels andauern, die an der Zivilbevölkerung nicht vorbeigehen.

Vor dem Parlament in Jerusalem hat Sharon seine Rede mit dem Satz eingeleitet: "Dies ist eine Schicksalsstunde für Israel." Nie zuvor habe er vor einer derart schwierigen Aufgabe gestanden. Die Siedler seien von den israelischen Regierungen zum Umzug in den Gazastreifen ermutigt worden, und nun müsse er sie zurückholen. Aber, so hat ihnen der Ministerpräsident versprochen, der Rückzug werde Israels Stellung in den für seine Existenz unabdingbaren Territorien stärken. Die Grenzen von 1967 gehörten der Vergangenheit an, und er habe nicht vor, die Autonomiebehörde unter Arafat als Partner für einen "echten Dialog" zu akzeptieren. Doch wie ist nach diesen Klärungen des Bedauerns und des Blicks in die Zukunft Sharons Absage an die dauerhafte Herrschaft über Millionen Palästinenser zu verstehen, deren Zahl sich von einer Generation zur nächsten verdoppele? Was bedeutet seine Zusage, dass er die Schaffung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels unterstütze? Pure Vernebelungsphraseologie? Zu vermuten ist, dass Sharons selbst keine klaren Antworten parat hat.

Die Diskussionen über die Aufgabe des Gazastreifens reichen bis in die siebziger Jahre zurück, Mitglieder der Arbeitspartei und des "Likud" waren daran beteiligt. Ihre Realisierung ist an vielfältigen Hindernissen gescheitert. Wenn Sharon den Verzicht auf die Tagesordnung zu einem Zeitpunkt setzt, zu dem täglich palästinensische Zivilisten israelischen Militäroperationen zum Opfer fallen, dann muss angenommen werden, dass er massiven internationalen Druck verspürt. Aus den USA kommt dieser zwar auf dem Höhepunkt des Präsidentschaftswahlkampfes diskret daher, doch die Umfragen legen eine Umorientierung der Politik Washingtons nahe: George W. Bush kann, wenn er am 2. November noch einmal siegen sollte, innenpolitisch kein zweites Irak verkraften. John Kerry hat angekündigt, dass er die Partnerschaft mit der internationalen Gemeinschaft sucht - was unter anderen bedeutet, auch in den Beziehungen stärker der Realpolitik zu folgen. Die Europäische Union hat ebenfalls eine härtere Gangart gegenüber der israelischen Politik angekündigt. Zu ihr gehören Überlegungen der Suspendierung des Freihandelsabkommens aus den neunziger Jahren und die erneute Warnung vor einseitigen Grenzfestsetzungen.

Sharon verspricht zwar öffentlich das Ende der Kontrolle über anderthalb Millionen Palästinenser im Gazastreifen, schreckt jedoch vor einer Aussage über das politische Schicksal der Zweieinhalbmillionenbevölkerung in der Westbank zurück. Wie lässt sich diese Zurückhaltung verstehen? Will er der israelischen Bevölkerung nicht die ganze Wahrheit zumuten? Aus kontextueller Nähe betrachtet, widerspricht er jedenfalls der Behauptung seines Beraters Dov Weisglass, dass mit dem Verzicht auf den Gazastreifen die Lösung aller anderen dringlichen Probleme zu verhindern sei. Ist diese Vermutung richtig, dann läuft sie auf die prinzipiellen Vorgaben der "Genfer Initiative" hinaus: Annexion der vier Siedlungsblöcke Ariel, Maale Adumim, Givat Zeev und Etzion, um damit "so viel wie möglich zu retten".

Eine Vielzahl von Fragen bleibt freilich ungelöst, für die "Genf" Antworten anbietet - territoriale Kompensationen, Jerusalem, Flüchtlinge, Sicherheit, endgültige Grenzen -, aber Sharon kann sich augenscheinlich nicht dem Sog entziehen, den der virtuelle Friedensvertrag vom 1. Dezember 2003 ausgelöst hat. Wenn in einer überregionalen deutschen Tageszeitung nachzulesen ist, dass die "Genfer Initiative" in der Öffentlichkeit Israels kaum noch erwähnt werde, dann steht diese Behauptung in deutlichem Widerspruch zu Berichten israelischer Medien, wonach inzwischen zwei Drittel der Bevölkerung die Aufgabe des Gazastreifens und von vier jüdischen Siedlungen im Norden der Westbank befürworten. Diese deutliche Mehrheit ist zwar nicht allein den Leistungen des Tel Aviver Büros um Yossi Beilin und seine Mitstreiter zu verdanken, weil manches zusammenkommt, so der wirtschaftliche Niedergang bei gleichzeitig ungebremster Subsidierung der Siedlungen. Aber Sharons Sorgen vor dem Verlangen seiner innerparteilichen Gegner nach einem Referendum über den Gazastreifen werden sich in Grenzen halten. Ja, er könnte sich veranlasst sehen, einen Volksentscheid über seine Pläne für die Westbank ins Auge zu fassen, um mit den Früchten "seines" Sieges die politische Bühne zu verlassen.

Sharon gibt sich als Realpolitiker, der Menachem Begins einstige Warnungen an die Anhänger des radikalen religiösen Zionismus wiederholt, sie seien einem "messianischen Komplex" aufgesessen. Bislang hatte es der Premier vermieden, politischen Suggestionen des Friedensprozesses nachzugeben, weil die spirituellen Beziehungen zur Westbank andere sind als das Verhältnis zur Sinai-Halbinsel und zu den Golanhöhen. Aber nun hinterlässt der seit Jahren vorgetragene Alarm von Demographen der Universität Haifa und Jerusalem vor dem "Ende des jüdischen Staates" seine Spuren: Der Begriff der Sicherheit kann nicht länger ausschließlich militärisch definiert werden. Damit nähert sich Sharon dem Anliegen in der Linken an, die jüdische Gruppenexistenz jenseits ihrer politischen Gestalt zu retten, die den Launen der Geschichte unterliegt. Dazu passt eine Meinungsumfrage unter arabischen Staatsbürgern Israels mit dem überraschenden Ergebnis, dass genau die Hälfte der Befragten eine Zusammenarbeit mit "Parteien der zionistischen Linken" für wünschenswert hält. Überdies dürften jene arabischen Abgeordneten, die in der jüngsten Abstimmung ihre Stimme gegen Sharon abgaben, erstaunt gewesen sein, als ihnen ausgerechnet der Sprecher der Islamischen Bewegung in Israel vorhielt, sie benähmen sich wie Trojanische Pferde und würden ihrer Pflicht nicht nachkommen, palästinensische Interessen zu fördern.

Ob Sharon mittlerweile vom Taktiker zum Strategen avanciert ist, mag dahingestellt bleiben. Seine politische Vita bietet allen Anlass zu zurückhaltender Vorsicht. Er war nicht nur der Vater der Siedlungspolitik, sondern wollte seit seiner Wahl Anfang Februar 2001 kontinuierlich unter Beweis stellen, dass Israels Waffenarsenal über die "Intifada" siegen werde. Auch der auf 680 angelegte "Trennungszaun", der vielen hunderttausend Palästinensern das Leben unerträglich erschwert, spricht eine andere Sprache als die der Friedensbereitschaft. Die entscheidende Größe in all diesen Überlegungen und Spekulationen dürfte der Zeitfaktor sein: Wann und unter welchen Bedingungen gelingt es den zum Frieden bereiten Israelis, ihre interne Disharmonie ŕ la "small is beautiful" zu überwinden, um jenen Kräften erfolgreich Paroli zu bieten, die den Raum zwischen Mittelmeer und Jordan um einer höheren, göttlichen Wahrheit willen ins Chaos zu stürzen bereit sind?

Der religiöse Paradigmenwechsel ist längst vollzogen. Dem harten Kern der Siedler, der den Ton angibt, geht es mit seinen Drohungen, notfalls einen Bürgerkrieg zu entfachen, nicht um ein Stück Land, um Gemüse zu ernten, in billigem Wohnraum zu residieren und die saubere Luft von "Judäa und Samaria" zu atmen. Und: Gelingt es den Anhängern und Sympathisanten der "Palestinian Peace Coalition" um Yasser Abed Rabbo, der "Palestinian National Initiative" mit Haydr Abdul Shafi an der Spitze und anderen Gruppierungen, den national selbstzerstörerischen Methoden der Bombenbastler und Selbstmordattentäter Einhalt zu gebieten und der politischen Vernunft den ihr gebührenden Rang zu verschaffen? Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob die Wege der Umkehr schon verbaut sind.

* Der Autor verantwortet die Homepage www.genfer-initiative.de.


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