Hannibals Prozedur
Die Geringschätzung des Lebens der Palästinenser hat nach und nach auch zur Geringschätzung des Lebens israelischer Soldaten geführt. Von Uri Avnery
Hannibal überquerte die Alpen mit seiner Division von Kampfelefanten und
setzte das mächtige Rom jahrelang in Angst und Schrecken. Er befehligte die
Armee von Karthago, ursprünglich eine kanaanitisch-phönizische Kolonie,
sprach eine Art Hebräisch und trug einen hebräischen Namen ("Gott ist gnädig
gewesen"). Als wir in meiner Jugend nach hebräischen und semitischen Helden
als Vorbilder suchten, stand er zuoberst auf unsrer Liste.
Anscheinend betrachtet die israelische Armee ihn auch als Vorbild.
In dieser Woche stand der legendäre General im Zentrum einer öffentlich
kontroversen Nachricht. Das Subjekt der Sensation war die "Hannibal-Prozedur" - eine israelische
Armeepraxis, die in der Mitte der 80er-Jahre eingeführt wurde, zunächst als
mündliche Instruktion, später als offizieller Befehl, der diesen Namen trug.
Vor einiger Zeit wurde dieser Befehl abgeändert, aber viele Soldaten
bestätigen, dass die ursprüngliche Fassung noch immer in Kraft ist. Sie ist
nun in Ha'aretz veröffentlicht worden.
Man kann den Befehl mit acht Wörtern zusammenfassen: Besser ein toter als
ein gefangener israelischer Soldat. Wenn ein israelischer Soldat gefangen genommen wird, verlangt eine große
Öffentlichkeit, ihn nach Hause zu holen, selbst zum Preis von Hunderten
entlassener palästinensischer Gefangener. Im Mai 1985 entließ Israel 1150
Palästinenser im Austausch gegen drei israelische Gefangene. Bekannt wurde
dies als der "Jibril"-Deal ( nach Ahmed Jibril, dem Chef einer
palästinensischen Organisation, die Syrien gegen Arafat diente).
Die israelischen Armeechefs wollten in Zukunft um jeden Preis einen solchen
Austausch vermeiden - ganz buchstäblich. Sie befahlen den Soldaten, auf das
Fahrzeug von Entführern zu schießen selbst dann, wenn sie das Leben des
gefangenen Soldaten gefährden. Das bedeutet: Befreiung des Soldaten durch
Tötung. Die Logik hinter diesem Befehl ist nicht neu. Es ist seit Jahrzehnten ein
Teil des israelischen Denkens. Es sagt einfach: Gegenüber Terroristen wird
nie nachgegeben. Nachgeben würde sie nur ermutigen, noch mehr unserer Leute
zu entführen. Es ist besser, unsere Leute zusammen mit den Entführern zu
töten, um andere abzuschrecken.
Diese Logik hatte in München (1972 ) schreckliche Folgen. Als die deutsche
Polizei - ermutigt durch die israelische Regierung - das Feuer auf die
Entführer der israelischen Athleten eröffnete, starben auch diese. Die
meisten Geiseln wurden vermutlich durch die Polizei getötet, da die
post-mortem-Ergebnisse nie veröffentlicht wurden.
Eine ähnliche Tragödie spielte sich in Ma'aloth, im nördlichen Israel ab,
als eine Gruppe Palästinenser eine große Gruppe Schulkinder als Geiseln
nahmen. Viele Kinder wurden getötet, als Moshe Dayan während der
Verhandlungen mit ihren Entführern befahl, Gewalt anzuwenden.
Eines der berühmtesten Aktionen der israelischen Armee war in Entebbe
(Uganda), als alle außer einem Passagier eines gekaperten Flugzeuges befreit
wurden. Aber die kleinste Störung hätte gereicht, um die Operation in ein
Blutbad zu verwandeln.
Die "Hannibal-Prozedur" war einmalig, denn sie forderte von den Soldaten,
auf ihre eigenen gefangenen Kameraden zu schießen. Zehntausende Soldaten
hörten im Laufe der Zeit diesen Befehl, und es scheint, dass die meisten von
ihnen nichts Anstößiges dabei fanden. Es gab einige, die dagegen waren -
ihre Stimme wurde aber nicht vernommen, bis ein mutiger Arzt, ein
Reserveoffizier, kürzlich seinen Protest öffentlich aussprach.
Es ist ein abscheulicher Befehl, weil er eine abstrakte Sache, "die Armee"
oder "den Staat" über menschliches Leben erhebt. Die Äußerungen einiger
Offiziere, die von der Journalistin Sarah Leibovitch-Dar zitiert wurden,
sind nicht weniger abstoßend.
Der Bataillonskommandeur, dessen Soldaten gefangen worden waren, sagte mit
Befriedigung: "Die Piloten handelten und stellten keine Fragen". Er meinte die Flieger,
denen der Befehl gegeben worden war, alle Fahrzeuge zu bombardieren, die
sich unmittelbar in diesem Raum bewegten, in der Hoffnung, dass die
Kidnapper und die Geiseln sich in einem von diesen befänden.
Einer der Offiziere, der diesen Befehl formulierte, ein Religiöser im Rang
eines Obersten, sagte: "Bei jeder Entscheidung werden einige der Soldaten im
Sarg zurückkommen....In unsern Augen war dies nur einer von Tausenden von
Befehlen, die täglich in der Gebietskommandantur gemacht werden ... die
Entscheidung ist logisch und entspricht dem Geist der Armee. Er ist nicht
grausamer oder weniger logisch als die anderen Befehle, die täglich von der
Kommandantur ausgegeben und das Leben von viel mehr Soldaten gefährden."
Der frühere Generalstabschef Dan Shomrom verteidigte diesen Befehl
folgendermaßen: "Hier steht Risiko gegen Risiko. Steht auf der andern Seite
denn jemand, der die Genfer Konvention einhält?" Und ein früherer
Generalstabschef, Amnon Shahak: "Es ist richtig, eine Gefangennahme von
Soldaten muss um jeden Preis verhindert werden" In der Armeesprache bedeutet
"um jeden Preis" um jeden Preis.
Ein anderer ranghoher Offizier erklärte, "für den Staat bedeuten gefangene
Soldaten offene Wunden, die nicht heilen. Deshalb ist der Befehl sehr
logisch."
Wie reagierten die Tausende von Soldaten, die nur Minuten, bevor sie in den
besetzten Südlibanon einfielen, diesen Befehl hörten? Einer von ihnen
berichtet: "Alle nahmen den Befehl wie Roboter auf. Wenn sie gefragt hätten,
hätte der Kommandeur geantwortet: Befehl ist Befehl! Punkt! In der
israelischen Armee stellt man keine Fragen. Und nun ab in die Fahrzeuge!"
Die israelische Armee hat sich seit ihren ersten Tagen sehr verändert - und
nicht zum Besseren.
Vergessen sind die Tage, wo sie von Kommandeuren wie Yigal Alon und Shimon
Avidan geführt wurden, für die das Leben des einzelnen Soldaten einen Wert
hatte. Sie mussten nicht den Militäranwalt konsultieren, um zu erfahren, was
verboten ist und worüber die schwarze Flagge weht.
Jahrzehnte des Dienstes als Besatzungsarmee hat sie so verändert, dass sie
nicht wieder zu erkennen ist. Dies ist eine andere Armee - eine Armee, die
aus Soldaten Roboter macht und deren Offiziere nicht anders sind als die
Generäle des russischen Zaren oder des Königs von Preußen. Nicht einer von
ihnen denkt auch nur im Traume daran, lobend der gefallenen Soldaten des
Feindes zu gedenken, wie es der Generalstabschef Yitzhak Rabin nach dem
Junikrieg 1967 tat. Die Geringschätzung des Lebens der Palästinenser hat
nach und nach auch zur Geringschätzung des Lebens israelischer Soldaten
geführt.
Wenn Generäle eine militärische Operation planen, rechnen sie damit, dass
dies das Leben von so und so vielen ihrer Soldaten kosten wird. Das ist ein
unvermeidlicher Teil der militärischen Planung. Danach können sie bei
feierlichen Zeremonien Krokodilstränen vergießen; aber für einen General
gehört dies zu seinem Job. Das Ziel rechtfertigt die Verluste.
Diese Sichtweise bleibt auch für einen General, der die Uniform inzwischen
abgelegt hat, unverändert bestehen. Ein Mann wie Ariel Sharon, der es als
seine historische Mission betrachtet, die palästinensische nationale Entität
zu eliminieren* und den jüdischen Staat bis zum Jordan zu vergrößern,
weiß, dass diese Aufgabe so und so viele Verluste kosten wird. Daran ist
nichts Aufregendes für einen General, nachdem Hunderte seiner Soldaten in
seinen Schlachten getötet worden sind. Nur kalte Berechnung.
Nun wird Israel von fünf Generälen regiert: Der Ministerpräsident, der
Generalstabschef, der Verteidigungsminister, der Chef des militärischen
Nachrichtendienstes und der politische Berater des
Verteidigungsministeriums. Hinter ihnen stehen Hunderte von Generälen mit
und ohne Uniform, die die einflussreichste politische Lobby in Israel
darstellen. Diese Gruppe, die Israels politisches und wirtschaftliches Leben
kontrolliert, sind durch den militärischen Standpunkt und die militärische
Art des Denkens mit einander verbunden.
Die " Hannibal-Prozedur" ist der letzte Ausdruck dieser Weltanschauung.
* vgl. auch Baruch Kimmerling: Politizid, 2003, Diederichsvlg. (Anm. d. Übnersetzerin)
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert
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