Ein politisches Erdbeben vor einer Wahl ist ungewöhnlich, aber nicht unbekannt. Ein zweites Erdbeben vor einer Wahl ist noch seltener. Aber ein drittes Erdbeben vor einer Wahl, kurz nach den beiden ersten - ist wirklich unheimlich.
Doch jetzt ist es geschehen. Die Nominierung von Amir Peretz als Führer der Laborpartei hatte schon die politische Landschaft Israels verändert. Das veranlasste Ariel Sharon, die Kadima-Partei zu schaffen, was wie ein "Urknall" die Landschaft noch einmal veränderte - und nach dem Schlaganfall Sharons veränderte sich diese zum 3. Mal - und diesmal bis zur Unkenntlichkeit.
Achtzig Tage vor den Wahlen beginnt der Wettkampf noch einmal von vorne. Was wird mit der Kadima-Partei geschehen? Was für ein Führer wird Ehud Olmert sein? Wie werden die Parteien die Wahlen durchstehen? Wer wird der nächste Ministerpräsident sein? Welche Koalition wird entstehen?
Wichtige Fragen. Auf keine kann man heute eine klare Antwort geben.
Kadima wurde als Sharons persönliche Partei geboren. Er war der Kitt, der den Extremen vom rechten Flügel wie Tsachi Hanegbi und den selbsterklärten Peacenik Shimon Peres, den Militaristen Shaul Mofaz und den früheren linken Gewerkschaftsführer Haim Ramon zusammenhielt.
Der erste Gedanke nach Sharons Schlaganfall war: dies ist das Ende von Kadima. Ohne Sharon wird das Paket auseinander fallen. Es wird nur eine arme Gruppe Waisen übrigbleiben, so etwas wie ein politisches Flüchtlingslager.
Aber das ist keineswegs sicher. Falls sich jemand diesem Projekt nur deshalb angeschlossen hat, weil er Sharon anbetet oder eine Vaterfigur braucht, der wird zu seiner früheren Partei zurückkehren. Aber wenn jemand in Kadima eine neue Heimat gefunden hat, der wird bleiben.
Wer also? Zunächst mal die Opportunisten, die keine Chance haben, sonst einen Knessetsitz zu ergattern.
Aber nicht nur sie. Kadima hat zwar kein wirkliches Programm, keine Ideologie. Aber seine verschwommenen Gefühle und vagen Ideen können als Ersatz für ein Programm gelten. Viele Leute hegen einen nebelhaften Wunsch nach Frieden - aber nicht einen Frieden mit klar umrissenen Konturen, mit klarem Preis, der sich auf einen Kompromiss mit den Palästinensern stützt, sondern eine Art abstrakter "Frieden". Das entspricht dem Slogan: man kann den Arabern nicht trauen, man kann mit Arabern keinen Frieden machen. Dieser elementare Rassismus - vielleicht die natürliche Folge von 120 Jahren Krieg und Konflikt - zusammen mit dem Gefühl, dass das die Jüdischkeit Israels verstärkt und dass jüdische Traditionen erhalten werden sollten, ein vages, aber starkes Gefühl.
Alles zusammen ist eine Mischung, die einen großen Teil der israelisch-jüdischen Öffentlichkeit anzieht. Sie kann als bequeme Alternative gegenüber der klaren Haltung der Linken und der Rechten gelten - umso mehr, seitdem die Öffentlichkeit gegenüber Programmen, Ideologien und allem, was wie Wunderkur aussieht, tief misstrauisch geworden ist. Der Slogan könnte heißen: je verschwommener, desto besser.
Bis jetzt setzten die Leute von Kadima ihr Vertrauen in Sharon - in der Überzeugung, er wisse, was zu tun sei, wenn die Zeit gekommen ist. Sie waren sich sicher, dass er Lösungen hat - auch wenn sie nicht wussten, wie sie aussehen - und tatsächlich ohne den Wunsch, es zu wissen. Sie wussten, dass er es wusste - das war genug. Nun kann sich diese Unklarheit in einen Vorteil verwandeln. Eine Partei, die auf nichts eine klare Antwort hat, kann jeden anziehen.
Nun kann die Partei, die sich "Vorwärts" nennt, rückwärts gehen. Sie wird nicht die 42 Sitze haben, die durch Meinungsumfragen Sharon versprochen wurden. Aber wie viele werden bleiben? Man kann nur raten, und raten ist nicht viel wert. Ich rate: nicht weniger als 15, nicht mehr als 30.
Man steht der Tatsache gegenüber, dass mit Sharons Abzug der politischen Arena, es dort keine hervorragenden Persönlichkeiten, keine charismatischen Führer gibt. Ob gut oder schlecht, Israel wird jetzt ein normales Land nach westlichem Muster mit normalen politischen Parteien sein, die von normalen Politikern angeführt werden.
Und kein Politiker ist normaler als Ehud Olmert: der Inbegriff eines Politikers, der nie etwas anderes als ein Politiker war, ein Politiker netto.
Er ist keine Vaterfigur; auch kein ruhmreicher General oder ein großer Denker. Er hat kein Charisma, keine Vision, auch keine besondere Integrität. Am Anfang seiner Karriere hat er einige verraten, die ihn begünstigten. Aber er ist gerieben, klug, nüchtern sachlich, ehrgeizig, beim Fernsehen schlagfertig, ein Politiker ohne dramatische Posen.
Er landete durch reinen Zufall in seiner gegenwärtigen Position. Der Titel "Stellvertretender Ministerpräsident" wurde ihm seinerzeit als eine Art Trostpreis gegeben, weil Sharon seine dringende Bitte, das mächtige Finanzministerium zu erhalten, nicht erfüllen konnte. Er hatte es schon Netanyahu versprochen gehabt. Als eine Art Kompensation bot Sharon Olmert einen Titel an, der ziemlich bedeutungslos war, weil dies nur hieß, dass Olmert die Kabinettssitzungen bei den seltenen Gelegenheiten leiten sollte, wenn Sharon im Ausland weilte.
Nun wurde plötzlich der nichtssagende Titel zu einem exzellenten Sprungbrett. Das automatische Verfahren brachte Olmert zum zeitweiligen Nachfolger von Sharon - und in der Politik ist bekanntermaßen nichts so permanent wie das Zeitweilige. Der erste, der solch eine Position inne hat, hat gegenüber allen anderen Herausforderern einen großen Vorteil.
Man kann Olmert vertrauen, dass er keine törichten Dinge tut. Sein Ego wird ihn nicht in eine Falle locken, wie es Netanyahu häufig geschah. Er ist auch viel erfahrener und verschlagener als Amir Peretz.
Wenn er bis zu den Wahlen eine feste Hand behält, dann hat er eine Chance, der nächste Ministerpräsident zu werden.
Die israelische Politik ähnelt jetzt den drei Fingern einer Hand: Likud, Kadima und Labor. Drei Finger anstelle einer Faust.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die drei Parteien am Wahltag fast identische Resultate erlangen werden, etwa um 25 Sitze. Wenn eine von ihnen ein besseres Resultat erreicht als die beiden anderen, dann wird ihr Führer wahrscheinlich aufgerufen werden, die nächste Regierung zu bilden.
Während die drei praktisch gleich sind, hat Kadima den Vorteil, den Platz in der Mitte zu halten. Wenn drei in einem Bett liegen, ist der in der Mitte immer zugedeckt. In solch einem Fall wird Olmert in der Lage sein, entweder mit dem Likud oder mit Labor eine Koalition zu bilden. Er wird keine ideologischen Skrupel haben. Er kann ein Linker oder ein Rechter sein - je nachdem was erforderlich ist.
Diese Situation stellt eine Herausforderung für Peretz dar. Seit seiner Nominierung hat sich seine Kampagne nicht vom Boden gehoben. Die massive Gestalt Sharons ließ keinen Platz für Konkurrenten. Sharon hatte die Initiative - und die Medien tanzten um ihn herum. Jetzt mit Olmert hat Peretz eher eine Chance - vorausgesetzt er macht deutlich, dass er kein zweiter Olmert ist. Unklarheit ist für Olmert gut, aber nicht für Peretz.
Peretz hat den Slogan gewählt: "Die Zeit ist gekommen!" Ein vager Slogan, der nichts besagt. Er müsste jetzt nach vorne stürmen und Führung demonstrieren, gewagte Initiativen ergreifen, die Phantasie beflügeln, beweisen, dass er fähig ist, auf beiden Gebieten, in Sachen Frieden und auf sozialer Ebene, eine Revolution in Gang zu bringen. Es ist nicht einfach zu gewinnen, aber einfach zu verlieren. Es liegt jetzt ganz bei ihm.
Und all dies gilt natürlich auch für Netanyahu auf der anderen Seite.
Nach dem dritten Erdbeben sind diese Wahlen gut für die Demokratie. Es ist seit Jahren das erste Mal, dass die Öffentlichkeit drei klaren Optionen gegenüber steht, die von drei Parteien mit drei Führern vertreten werden.
-
Auf der Rechten ist der Likud unter Netanyahu, der für die Fortsetzung der Besatzung und die Erweiterung der Siedlungen kämpft, für den das Land wichtiger ist als Frieden.
- In der Mitte ist Kadima unter Olmert, der Sharon nachzufolgen versucht: Gebiete zu annektieren und für Israel einseitig neue Grenzen festzulegen, verbunden mit ein paar bedeutungslosen Gesten, die mit vagen Slogans über Frieden gewürzt sind.
- Auf der Linken ist Labor unter Amir Peretz, der nach wirklichen Verhandlungen mit den Palästinensern rufen wird, die dahin zielen, den Konflikt zu einem Ende zu bringen.
Wenn diese Alternativen scharf umrissen sind und wenn die Kandidaten nicht versuchen, die Unterschiede zwischen ihnen zu verwischen, dann könnten diese Wahlen wirklich demokratisch sein und der Öffentlichkeit eine wirkliche Chance bieten.
Die Wähler werden die Wahl nun selbst treffen müssen, statt ihr Schicksal den Händen eines Übervaters zu überlassen.
09.01.2006
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert
The new Israeli political landscape
Three Fingers, No Fist
by Uri Avnery
A political earthquake before an election is an unusual
event, but not unknown. A second earthquake in such a
period is already rare. But a third earthquake before
an election, a short time after the first two - now,
that is really scary.
Well, it has just happened. The nomination of Amir
Peretz as leader of the Labor Party had already changed
the political landscape of Israel. That is what pushed
Ariel Sharon to create the Kadima party, the "Big Bang"
that changed the landscape once again. Now, with the
collapse of Sharon, the landscape has changed yet again
- and this time beyond recognition.
Eighty days before the elections, the competition
starts again right from the beginning. What will happen
to Kadima? What kind of leader is Ehud Olmert? How will
the parties do in the elections? Who will be the next
Prime Minister? What kind of coalition will come into
being?
Important questions. None of them has a clear answer at
this time.
Kadima was born as Sharon's personal party. He was the
glue that held together the extreme right-winger Tsachi
Hanegbi and the self-declared peacenik Shimon Peres,
militarist Shaul Mofaz and former leftist trade union
leader Haim Ramon.
The first thought after Sharon's massive stroke was:
this is the end of Kadima. Without Sharon, the entire
package will fall apart. Only a miserable group of
orphans will remain, something like a political refugee
camp.
But that is really not certain at all. True, if someone
joined this project only because he adores Sharon or
needs a Big Father, he may now want to return to his
former home. But if someone has already found a new
home in Kadima, he will remain.
Who? First of all, the opportunists who have no chance
of snatching a Knesset seat any other way.
But not only they. True, Kadima has no real program, no
ideology. But its fuzzy sentiments and vague ideas can
serve as a surrogate for a program. Many people
entertain a hazy longing for peace - not peace with
clear-cut contours, with a clear price, based on a
compromise with the Palestinians, but a kind of
abstract "peace". This goes together with the slogan
that one cannot trust the Arabs, that with Arabs you
cannot make peace. This basic racism, perhaps a natural
result of 120 years of war and conflict, expresses
itself also in the feeling that the Jewishness of
Israel should be reinforced and that Jewish traditions
should be preserved, a vague, but nonetheless powerful
sentiment.
Altogether this is a popular mixture, common to a
significant proportion of the Israeli-Jewish public. It
can serve as a convenient alternative to the explicit
policies of the Left and the Right - all the more so
since the public has become deeply suspicious of
programs, ideologies and everything that looks like a
miracle cure. The slogan could be: the vaguer, the
better.
Until now, the Kadima people had put their trust in
Sharon, believing that he would know what to do when
the time came. They were sure that he had solutions -
even if they did not know what they were - indeed,
without wanting to know. They knew that he knew, and
that was enough. Now this opaqueness can turn out to be
an advantage in itself. A party that has no clear
answer to anything can attract everyone.
Certainly, the party called Forwards will go backwards.
It will not reach the 42 seats promised to Sharon by
the opinion polls. But how many then? One can only
guess, and no guess is worth much. My own guess: not
less than 15, not more than 30.
One has to face the fact that Sharon is leaving the
political arena empty of outstanding personalities and
charismatic leaders. For better or worse, Israel will
now be a normal Western-style country, with normal
political parties headed by normal politicians.
And no politician is more normal than Ehud Olmert; the
quintessential politician, who has never been anything
but a politician, a politician pure and simple.
He is not a Great Father. Neither a glorious general
nor a great thinker. He has no charisma, no vision, no
exceptional integrity. At the start of his career, he
soon betrayed several of those who favored him. But he
is shrewd, smart, sober, ambitious and glib on TV, a
politician, without grandstanding and poses.
He landed in his present position by sheer accident.
The title "Deputy Prime Minister" was given him as a
consolation prize, because Sharon could not satisfy his
craving for the powerful Finance Ministry, which had
already been promised to Netanyahu. As compensation,
Sharon conferred on Olmert a title that was quite
meaningless, because it meant only that Olmert would
chair cabinet meetings on the rare occasions when
Sharon was abroad.
Now, suddenly, the empty title turns out to be an
excellent springboard. Automatic procedures have turned
Olmert into Sharon's temporary successor, and in
politics, as is well known, nothing is more permanent
than the temporary. The first to occupy a position has
a huge advantage over all challengers.
One can trust Olmert not to do foolish things. His ego
will not lead him into a hole, as frequently happens to
Netanyahu. He is also much more experienced and devious
than Amir Peretz.
If he maintains a steady hand until the elections, he
has a chance to become the next prime minister.
Israeli politics now resemble the three fingers of a
hand: Likud, Kadima and Labor. Three fingers instead of
a fist.
It is quite possible that on election day, the three
will get almost identical results - something around 25
seats each. If one of them does better than the others,
its leader will probably be called upon to form the
next government.
While the three are practically equal, Kadima has an
advantage, since it occupies the place in the middle.
When three lie in a bed, the one in the middle is
always covered. In such a case, Olmert will be able to
form a coalition either with Likud or with Labor. He
will have no ideological qualms - he can be a leftist
or a rightist, as required.
The situation presents a challenge to Amir Peretz.
Since his nomination, his campaign has not left the
ground. The massive figure of Sharon left no space for
any contenders. Sharon had the initiative, with the
media dancing around him. Now, with Olmert, Peretz has
a much greater chance - provided he does not appear to
be a second Olmert. Vagueness is good for Olmert, it is
bad for Peretz.
Peretz has chosen the slogan "The Time Has Come!" A
vague slogan that says nothing. He must move ahead,
demonstrate leadership, present daring initiatives,
capture the imagination, prove that he is capable of
bringing about a revolution both in matters of peace
and social affairs. It is hard to win, easy to fail.
Now it's up to him.
And all this, of course, is also true for Netanyahu on
the other side.
After the third earthquake, these elections are good
for democracy. For the first time in years, the public
is faced with three clear options, represented by three
parties with three leaders:
-
On the right there is Likud under Netanyahu,
championing the continuation of the occupation and the
enlargement of the settlements, placing territory above
peace.
- In the middle, Kadima under Ehud Olmert, will try to
continue the ways of Sharon: annex territories and fix
new borders for Israel unilaterally, adding some
meaningless gestures spiced with vague slogans about
peace.
- On the left, Labor under Amir Peretz will call for
practical negotiations with the Palestinians, aimed at
bringing an end to the conflict.
If these alternatives are clear-cut, and if the
candidates do not try to obscure the differences
between them, these elections can be really democratic,
offering the public a real choice.
Voters will have to make the choice themselves, instead
of leaving their fate in the hands of the Great Father.
9.1.06
* Uri Avnery is an Israeli journalist and peace
activist. He was a member of the Knesset from 1965 to
1973 and again from 1979 to 1981. He was a founder of
the Israeli peace group, Gush Shalom
Source: www.gush-shalom.org
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