Der kategorische Imperativ / The Categorical Imperative
Von Uri Avnery / By Uri Avnery
Als vor ein paar Jahren die Jury des Israel-Preises verkündete, dass der jährliche Preis Herrn Professor
Yeshayahu Leibowitz zugesprochen wurde, entschied ich mich, ihn einzuladen, um einen Vortrag beim
"Israelischen Rat für israelisch-palästinensischen Frieden" zu halten. Diese Gruppe war der Bahnbrecher für die
Kontakte mit der PLO.
"Ich komme gerne", sagte er, "doch unter einer Bedingung. Ich werde nur über die Pflicht reden, den Militärdienst
in den besetzten Gebieten zu verweigern." Für ihn war es das Ein-und-Alles im Kampf gegen die Besatzung.
Ich sagte zu ihm, dass er völlig frei sei. Er könne reden, worüber er wolle, selbst wenn ich nicht ganz seine
Meinung teilen sollte.
(Dieser Vortrag hatte übrigens ein unerwartetes Ergebnis. In seinem üblich provozierenden Stil verglich Leibowitz
die Sondereinheiten der israelischen Armee mit der Nazi-SS. Seine Worte wurden veröffentlicht, und sie
verursachten einen Sturm des der Entrüstung. Die Preisjury wollte den Preis zurücknehmen, worauf Leibowitz ([i])
mitteilte, dass er die Annahme des Preises verweigere.)
Seitdem bin ich ständig mit mir selbst über dieses schwierige und schmerzliche Thema im Streitgespräch.
Ich bin kein Pazifist - nicht in dem Sinne, jedes Waffentragen total zu verweigern. Mein Herz ist mit Yonathan
Ben-Artzi, der jetzt wegen seiner kompromisslosen pazifistischen Haltung vor Gericht steht. Er ist ein
erstaunlicher und bewundernswerter junger Mann. Aber als Glied einer Generation, die noch den Krieg gegen die
Nazis erlebt hat, kann ich nicht das Prinzip akzeptieren, dass jeder Krieg zu verurteilen sei. Nachdem erst einmal
die Nazis in Deutschland zur Macht gekommen waren und damit begannen, ihr aggressives Vorhaben
auszuführen, gab es keinen anderen Weg, sie zu stoppen - außer durch Waffengewalt.
Solange es keine Weltordnung gibt, keine Weltregierung, kein Weltgesetz und keine Weltpolizei (ich hoffe, dass
es sie bis zum Ende des 21. Jahrhunderts gibt) kann es sich kein Land leisten, ohne Verteidigungsarmee zu
sein. Und so lange es keine Weltregierung gibt, die in der Lage ist, jedem Volk, das für seine Freiheit kämpft, auf
friedlichem Wege sein Ziel zu erreichen, werden Freiheitskämpfer zu Waffen greifen.
Aber Leibowitz war auch kein Pazifist. Er sprach nicht für eine allgemeine Verweigerung, Waffen zu tragen,
sondern nur für die Verweigerung, der Besatzung zu dienen. Er glaubte an den moralischen Wert der
Verweigerung jedes sittlich verpflichteten Menschen, sich selbst von einem ungerechten Regime zu lösen und zu
erklären, dass er nicht in einer Politik helfen werde, die in sich unmenschlich, unmoralisch und illegal ist. Er
glaubte auch daran, dass das persönliche Beispiel des Verweigerers eng die Öffentlichkeit zu beeinflussen kann.
Diese Einstellung ist natürlich mit einigen Risiken verbunden, die mich zögern ließen.
Als Erstes untergräbt sie die demokratische Ordnung. Die Armee ist dafür bestimmt, der legalen, von allen
Bürgern gewählten Regierung zu dienen. Wenn man sich weigert, den Regeln der legalen Regierung zu dienen,
dann rüttelt man an den Fundamenten der Demokratie.
Als Zweites ermutigt man Opponenten. Gemäß dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant "soll jeder so
handeln, dass die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
kann". Wenn A das Recht hat, den Militärdienst bei der Besatzung zu verweigern, hat B das Recht, bei der
Auflösung von Siedlungen sich zu verweigern.
Als Drittes korrumpiert man die Armee. Wenn alle sittlich denkenden Menschen die Armee verlassen, fällt sie in
die Hände der Unmoralischen/ Unverantwortlichen. Die Checkpoints werden ausschließlich von Araberhassern
besetzt,([ii]) Aktionen werden von Sadisten ausgeführt. Doch wenn die sittlich denkenden Leute in der Armee
bleiben, können sie ihren Geist so beeinflussen, dass sie durch ihre Gegenwart Ungerechtigkeit und Gräueltaten
verhindern oder wenigstens ans Licht bringen können.
Ich hatte immer großen Respekt vor Verweigerern aus Gewissensgründen. Ich weiß, wie viel Mut von einem
jungen ( oder auch einem älteren) Menschen gefordert wird, den sozialen Druck der Familie, der Kameraden und
Nachbarn auszuhalten und die Konsequenzen zu tragen. Ich bin von solch moralischem Heldentum viel mehr
beeindruckt als vom physischen Heldentum in der Schlacht, wenn man das ganze Volk hinter sich weiß. ( Und ich
spreche als einer, der in einer sogenannten. "Elite-Einheit" gedient hat).
Deshalb habe ich immer das Recht einer Person, zu verweigern, unterstützt. Aber ich war nicht bereit, von mir aus
junge Leute aufzurufen, dieser Linie zu folgen. Meine Position war, jeder müsse für sich selbst entscheiden, wie
er am besten gegen die Besatzung kämpfen könne - innerhalb oder außerhalb der Armee.
Aber jetzt fühle ich, dass sich meine Position ändert.
Zunächst haben mich viele Soldaten davon überzeugt, dass es fast unmöglich ist, dem Druck innerhalb der
Armee zu widerstehen. Die Gehirnwäsche ist intensiv und unerbittlich; die höheren Ränge werden immer mehr
mit Robotern mit abgestumpften Sinnen besetzt - Produkte der Besatzung; ganz zu schweigen von den
Mitgliedern der religiösen Akademien, die mit der Armee liiert sind, Araberhasser und Siedler mit "gestrickten
Kippas" ( Sie sind mit der extrem rechten national-religiösen Partei verbunden).
Zweitens: die Besatzung als solche hat sich in ein Monster verwandelt, dem niemand dienen kann, ohne seine
Menschlichkeit zu verlieren. Wenn die Mitglieder des meist gerühmten Teiles der israelischen Armee, der Sayeret
Matkal (Generalstabskommando) so redet und sich weigert, weiterzumachen, dann ist ihr Zeugnis
ausschlaggebend. Alle Achtung habe ich vor den Luftwaffenkampfpiloten, die gegen ihren Kommandeur
revoltieren, der gesagt hat, dass er "nichts außer einem leichten Schlag am Flügel" spüre, wenn er eine Bombe
fallen lasse, die Frauen und Kinder töte. Wenn fünf 19-jährige junge Leute lieber ins Gefängnis gehen, als sich
an der Freiheit des Besatzers zu erfreuen, dann hätte selbst Kant vor ihnen salutiert. Der Protest gegen ein
unmoralisches Regime ist ein kategorischer Imperativ.
Bereitet diese Verweigerung den Boden für die Verweigerung von Soldaten des rechten Flügels? Da gibt es
natürlich keine Symmetrie zwischen Freiheitsliebenden, die sich weigern, Teil einer anhaltenden Ungerechtigkeit
zu werden - und den Siedlern, die selbst ein Teil der Ungerechtigkeit sind. Aber wenn man das Recht auf
Verweigerung aus Gewissensgründen anerkennt, dann muss Kants Prinzip auch ihnen gelten. Falls es jemals
eine Räumung der Siedlungen geben sollte, muss das Recht eines Soldaten, der sich aus Gewissensgründen
weigert, daran teilzunehmen, abgesichert sein.
Ist dies nicht ein Schlag gegen die Demokratie? Ganz sicherlich! Aber es ist ein positiver Schlag. Israels
Demokratie wird mit jedem Tag der Besatzung schwächer. Wir sind Zeugen einer fortschreitenden
Verschlechterung: die Regierung ist Sharons Kindergarten geworden, die Knesset genießt allgemeine
Verachtung, der Oberste Gerichtshof ist selbst in weiten Teilen zu einem Instrument der Besatzung geworden, die
Medien marschieren im Gleichschritt. Es sind die Verweigerer, die eine moralische Dimension in den öffentlichen
Diskurs gebracht haben.
Die Häufung der Verweigerung, wo ein Akt den anderen inspiriert und die eine Einheit eine andere beeinflusst,
wird sicher eine bleibende Wirkung auf die Öffentlichkeit haben. Es ist einesteils der Ausdruck einer Veränderung
und gleichzeitig Antrieb für einen Wechsel.
Aber vor allem ist der Akt der Verweigerung wie eine Fackel, die in der Dunkelheit aufleuchtet. Er verscheucht die
Verzweiflung, die jeden Teil des israelischen Kollektivs erfasst hat. Er bringt den Glauben an den Staat Israel und
an seine junge Generation wieder zurück.
Natürlich sind die Verweigerer erst wenige, eine kleine Minorität des Volkes und der Armee.
Aber die ganze menschliche Geschichte wurde von solchen Minoritäten gestaltet - von Leuten, die den Mut
hatten, weiterzugehen, wenn der Chor der Konformisten "halt!" schrie.
Und noch eins: diese Leute erlauben uns wieder, stolz zu sein. Ein Volk, das solche Söhne hat, kann wieder
hoffen.
Anmerkungen:
[i] Der Enkel von Yeshayahu Leibowitz, Shamai Leibowitz, verteidigt heute als Anwalt die Verweigerer.
[ii] Vgl. Gideon Levy: (Haaretz 22.11.03): "Ich schlug einen Araber ins Gesicht" über "Checkpoint -Syndrom" von Ron Furer.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Uri Avnery, 27.12.03
The Categorical Imperative
By Uri Avnery
Some years ago, when the jury for the annual Israel Prize announced its award to Professor Yeshayahu Leibowitz, I decided to invite him to give a lecture to the Israeli Council for Israeli-Palestinian Peace, the group that established the first contacts with the PLO.
"I am ready to come," he said, "on one condition: I shall speak only about the duty to refuse to serve in the occupied territories." For him, that was the alpha and omega of the fight against the occupation.
I told him that he was free to speak about whatever he saw fit, even if I myself did not quite share his view.
(The lecture, by the way, had an unexpected result. In his usual provocative style, Leibowitz compared the Special Units of the Israeli army to the Nazi SS. His words were published, aroused a storm of protest and the prize jury wanted to cancel the award, whereupon Leibowitz himself announced that he refused it.)
Since then I had an ongoing debate with myself about this hard and painful subject.
I am not a pacifist, in the sense of totally refusing to bear arms. My heart is certainly with Yonathan Ben-Artzi, who is standing trial now because of his uncompromising pacifistic stand. He is a wonderful and admirable youngster. But as a member of a generation that experienced the war with the Nazis, I cannot accept the principle that every war is evil. Once the Nazis had taken hold of Germany and started to carry out their aggressive designs, there was no way of stopping them other then by force of arms.
As long as there is no world order and no world government, no world legislature or world police (all of which I hope will be in place by the end of the 21st century), no country can do without with a defense force. And as long as there is no world government that enables every people striving for liberty to attain its goal by peaceful means, freedom-fighters will need to use arms.
But Leibowitz was no pacifist. He did not advocate a general refusal to bear arms, but the refusal to serve the occupation. He believed in the moral value of this refusal, in the duty of every moral person to draw a line between himself and an unjust regime and to declare that he will not lend his hand to a policy that is inhuman, immoral and illegal by its very nature. He also believed that the personal example of the objectors was bound to influence the general public.
This approach is beset, of course, with several pitfalls, which made me hesitate.
First, it undermines the democratic order. The army is supposed to serve the legal government that was elected by the citizens. If you refuse to follow the orders of the legal government, you shake the very foundations of democracy.
Second, you legitimise the same actions by your opponents. According to the "categorical imperative" of Immanuel Kant, you have to behave "as if the principle by which you act were about to be turned into a universal law of nature". If A has the right to refuse to serve the occupation, B has the right to refuse to remove settlements.
Third, you corrupt the army. If all moral people leave the army, it will remain in the hands of the immoral ones. The checkpoints will be manned exclusively by Arab-haters, operations will be executed by sadists. But if the decent people remain in the army, they can influence its spirit, preventing by their very presence injustices and atrocities, or, at least, bringing them to light.
I have always had a lot of respect for conscientious objectors. I know how much courage is needed for a young person (and an old one, too) to withstand the social pressure of family, comrades and neighbors and to bear the consequences. I am impressed much more by such moral fortitude than by physical heroism in battle, when you know that all the people are behind you. (And I speak as one who has served in a so-called "elite unit".)
Therefore I have always supported an individual's right to refuse. But I myself was not ready to call upon young people to follow this line. My position was that persons must decide for themselves where they will best serve the fight against the occupation - inside or outside the army.
But I feel that my position is changing.
First of all, many soldiers have convinced me that it is almost impossible to withstand the pressure inside the army. The brainwashing is intense and unrelenting; those in the higher ranks are more and more like robots with blunted senses, the products of the occupation; not to mention the members of the religious academies connected with the army, Arab-haters and settlers with "knitted kippas" (associated with the extreme right-wing national-religious party.)
Second, the occupation itself has become a monster that nobody can serve without losing his humanity. When the members of the "cream of the Israeli army", the Sayeret Matkal (General Staff commandos) say so and refuse to go on, their testimony is persuasive. When the Airforce combat pilots revolt against their commander, who has said that he "feels nothing but a slight bump" when he releases a bomb that kills women and children, respect is due to them. When five 19-year old youngsters choose to go to prison rather than enjoy the freedom of the occupiers, Kant himself would have saluted them. The protest against an immoral regime is a categorical imperative.
Does this refusal prepare the ground for the refusal of right-wing soldiers? There is, of course, no symmetry between freedom-lovers, who refuse to take part in an ongoing injustice, and the settlers, who are themselves part of the injustice. But if one recognizes the right to refuse for reasons of conscience, one must apply Kant's principle to them, too. If there ever is an evacuation of the settlements, the right of a soldier to refuse to take part for reasons of conscience must be assured.
Is this a blow against democracy? Most certainly. But this is a blow for the good. Israeli democracy is being whittled away with every day of occupation. We are witnessing an continuous decline: the government has become Sharon's kindergarten, the Knesset attracts general contempt, the Supreme Court has largely become an instrument of the occupation, the media are marching in step. It is the refusers who have introduced a moral dimension into the public discourse.
The accumulation of refusals, with one act inspiring the next and one military unit influencing another, is bound to have a lasting effect on the general public. It is both an expression of change and a stimulus for change.
But above all, the act of refusal shines like a beacon in the darkness. It drives out the despair that has infects every part of the collective body. It restores faith in the State of Israel and its younger generation.
Of course, the objectors are few. They are a small minority of the people and the army. But the course of human history would have been quite different without such minorities - people who had the courage to march on when the chorus of conformists shouted: "Stop!"
And not least: these people allow us to be proud again. A nation that has sons like these can have hope.
27 December 2003
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