Das Recht auf Rückkehr
"Es gibt keinen Frieden ohne die Lösung des Flüchtlingsproblems" - Von Uri Avnery
Wir Israelis brauchen einen Buhmann, der uns Angst einjagt, um ausreichend Adrenalin in unseren nationalen Blutkreislauf zu pumpen. Sonst, so scheint es, funktionieren wir nicht richtig. Einst war es die Palästinensische Charta. Nur sehr wenige Palästinenser haben sie jemals gelesen, noch weniger wussten, was darin stand, aber wir zwangen die Palästinenser, die Paragraphen in einer feierlichen Zeremonie abzuschaffen. Wer kann sich heute noch an sie erinnern? Aber weil dieser Buhmann aus der Welt geschafft wurde, ist Bedarf da für einen Ersatz. Der neue Buhmann ist das «Recht auf Rückkehr». Nicht als ein praktisches Problem, das ratio-nal diskutiert werden müsste, sondern als ein haarsträubendes Ungeheuer: Nun ist das dunkle Vorhaben der Palästinenser enthüllt worden! Mithilfe dieser schrecklichen Masche wollen sie Israel beseitigen! Sie wollen uns ins Meer werfen!
Das Recht auf Rückkehr hat den Abgrund wieder erweitert, der sich bis auf einen Spalt verengt hatte. Wir haben wieder Angst. Das Ende unseres Staates! Das Ende der Vision von Generationen! Ein zweiter Holocaust!
Es scheint, dass der Abgrund unüberbrückbar ist. Die Araber fordern, dass jeder einzelne palästinensische Flüchtling in sein Heim und auf sein Stück Land in Israel zurückkehrt. Die Israelis verweigern eisern die Rückkehr auch nur eines einzigen Flüchtlings. Auf beiden Seiten: alles oder nichts. Der Frieden bleibt auf der Strecke.
Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass es sich wirklich um einen Buhmann handelt; dass auch dieses schmerzliche Problem gelöst werden kann; dass ein fairer Kompromiss sogar zu einer historischen Versöhnung führen kann.
Die Wurzeln des Konflikts
Das Flüchtlingsproblem wühlt derart tiefe Emotionen auf, weil es die Wurzel des Konfliktes zwischen den beiden Völkern berührt.
Der Konflikt stammt vom historischen Zusammenstoß zweier großer nationaler Bewegungen. Eine davon, der Zionismus, hatte zum Ziel, einen Staat für die Juden zu errichten; sie sollten, zum ersten Mal nach Tausenden von Jahren, Herren ihres eigenen Geschicks sein. Bei der Verfolgung dieses Ziels ließ der Zionismus völlig die Bevölkerung außer Acht, die in dem Land lebte. Ihm schwebte ein homogener Nationalstaat vor, entsprechend dem europäischen Modell des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ohne Nicht-Juden oder zumindest mit so wenigen Nicht-Juden wie möglich.
Die palästinensische nationale Bewegung drückte den Kampf der eingeborenen Araber für nationale Befreiung und Unabhängigkeit aus. Sie widersetzte sich ganz entschieden der Durchdringung ihres Heimatlandes durch ein anderes Volk. Wie Ze'ev Jabotinsky, der militante zionistische Führer, damals schrieb, hätte jedes andere Volk genau so reagiert.
Wenn man diesen Aspekt des Konflikts nicht versteht, kann man die Ereignisse nicht begreifen, die zur Entstehung des Flüchtlingsproblems geführt haben.
«Ethnische Säuberungen»
Im Krieg von 1948 kam es in diesem historischen Konflikt zur Entscheidung.
Am Vorabend des Krieges lebten etwa 1.200.000 Araber und 635.000 Juden in Palästina. Im Verlauf des Krieges, der von den Arabern begonnen wurde, um die Teilung des Landes zu verhindern, wurde über die Hälfte des palästinensischen Volkes, ungefähr 750.000 Personen, entwurzelt. Einige wurden von der israelischen Eroberungsarmee vertrieben, andere flohen, als die Schlacht in die Nähe ihrer Wohnungen kam, wie dies Zivilisten in jedem Krieg tun.
Der Krieg von 1948 war ein ethnischer Krieg, sehr ähnlich dem Krieg in Bosnien. In derartigen Kriegen versucht jede Seite einen ethnischen Staat zu errichten, indem sie so viel Territorium ohne die gegnerische Bevölkerung erobert wie möglich. Um den historischen Tatsachen gerecht zu werden, sollte erwähnt werden, dass die arabische Seite sich genauso verhielt, und in den wenigen Gebieten, die sie eroberte (die Altstadt von Jerusalem, das Etzion-Gebiet) blieben keine Juden in ihren Häusern.
Unmittelbar nach dem Krieg lehnte der neue Staat Israel es ab, den Flüchtlingen zu erlauben, in die Gebiete, die er erobert hatte, zurückzukehren. Die Regierung Ben-Gurion vernichtete etwa 450 verlassene arabische Dörfer und errichtete an ihrer Stelle jüdische Siedlungen. Die neuen jüdischen Immigranten - viele aus arabischen Ländern - wur-den in die verlassenen Häuser in den arabischen Städten einquartiert. So wurde das Flüchtlingsproblem geschaffen.
Resolution 194
Noch während des Krieges nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 194 vom 11. November 1948 an. Sie besagte, dass die Flüchtlinge das Recht hätten, zwischen einer Entschädigung und der Rückkehr in ihre Wohnstätten zu wählen. Israels Weigerung, dieser Resolution zu entsprechen, hat es vielleicht veranlasst, eine Gelegenheit zu verpassen - wenn es sie denn gegeben hat -, nämlich bereits 1949 mit der arabischen Welt Frieden herzustellen.
Im Krieg von 1967 wiederholten sich einige Ereignisse. Hunderttausende Palästinenser wurden mit Gewalt oder durch Einschüchterung aus Gebieten nahe dem Jordan (die riesigen Flüchtlingslager von Jericho) und der Grünen Linie (den Gebieten Tulkarem, Kalkilia und Latrun) vertrieben.
Nach offiziellen UN-Statistiken beträgt die Zahl der Flüchtlinge heute bis zu 3,7 Millionen, eine Zahl, die angesichts der großen natürlichen Wachstumsrate nachvollziehbar ist. Sie leben größtenteils verstreut in den an Israel grenzenden Ländern, einschließlich der Westbank und des Gazastreifens.
Apocalypse Now
Auf israelischer Seite rief das Flüchtlingsproblem tiefverwurzelte Ängste hervor, die von den ersten Tagen nach dem Krieg von 1948 herrührten. Die Anzahl der Juden in dem neuen Staat hatte noch nicht eine Million erreicht. Der Gedanke, dass 750.000 Palästinenser auf israelisches Gebiet zurückkehren und es wie eine Sintflut überfluten würden, verursachte Panik.
Diese apokalyptische Vision ist zu einer Fixierung in der israelischen Nationalpsyche geworden. Sogar heute noch, da wir es mit ganz anderen demographischen Tatsachen zu tun haben, schwebt sie über jeder Diskussion zu diesem Thema. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen «Rechts» und «Links». Es genügt die pure Erwähnung des Flüchtlingsproblems, dass Autoren wie Amos Oz wie Ariel Sharon reagieren, und dass ein «neuer Historiker» wie Benny Morris Meinungen äußert, die jenen eines Anhängers der gleichen alten Mythen ähneln, die er selbst mit entlarven half.
Es kann nicht verwundern, dass das Aufwerfen dieses Problems jetzt viele aus dem israelischen «Friedenslager» bis zum Grunde ihrer Seele erschüttert. «Wir dachten, das Problem gäbe es nicht mehr», rufen manche von ihnen ärgerlich aus. Sie bezichtigen die Palästinenser des Betrugs, als ob diese ganz plötzlich welterschütternde Forderungen hervorgeholt hätten, während sie bis dato nur «einfache» Probleme präsentiert hätten, wie die Errichtung eines Palästinenserstaates, Grenzen und Siedlungen.
Dies belegt einen tiefen Mangel an Verständnis. Das Recht auf Rückkehr drückt gerade den Kern des palästinensischen nationalen Ethos aus. Es ist verankert in den Erinnerungen der Nakba, der palästinensischen Katastrophe von 1948, und in dem Bewusstsein, dass gegen das palästinensische Volk ein historisches Unrecht begangen wur-de. Ignoriert man dieses Gefühl für das erlittene Unrecht, so ist es unmöglich, den Kampf der Palästinenser in Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen.
Jeder, der sich wirklich um Frieden und Verständigung zwischen den beiden Völkern bemühte, war sich immer gewärtig, dass das Flüchtlingsproblem nur ruht, wie ein schlafender Löwe, der jederzeit aufwachen kann. Es gab die Hoffnung, dass dieser Augenblick hinausgeschoben werden könnte bis die anderen Probleme gelöst wären, und beide Seiten dann beginnen könnten, diese Wunde in einer entspannteren Atmosphäre zu verarzten, die Hoffnung, dass, nachdem ein gutes Maß an gegenseitigem Vertrauen geschaffen werden konnte, ein rationales Herangehen möglich sein würde. Die Osloer Declaration of Principles von 1993 ließ das Problem nicht außer Acht, verschob es aber bis zu den Verhandlungen des «endgültigen Status».
Der Mann, der den Karren in den Dreck fuhr, war Ehud Barak. Er weckte den schlafenden Löwen. Mit einer typischen Mischung von Arroganz, Ignoranz, Unbekümmertheit, sowie Verachtung der Araber, war er davon überzeugt, dass er die Palästinenser dazu bringen könnte, das Recht auf Rückkehr aufzugeben. Deshalb forderte er, dass die Palästinenser eine neue Grundsatzerklärung unterzeichnen sollten, in der sie das «Ende des Konflikts» verkünden würden.
Sobald diese Worte - «Ende des Konflikts» - in den Verhandlungen ausgesprochen wurden, landete das Recht auf Rückkehr mit einem Knall auf dem Verhandlungstisch. Man hätte vorhersehen sollen, dass kein palästinensischer Führer, unter welchen Umständen auch immer, das «Ende des Konflikts» unterschreiben könnte ohne eine Lösung für das Flüchtlingsproblem. Nun gibt es kein Entrinnen mehr, sich diesem Problem mutig zu stellen.
Eine «Wahrheitskommission»
Das Flüchtlingsproblem ist vielschichtig. Einige Schichten sind ideologischer Natur und beziehen sich auf Grundprinzipien, andere sind praktischer Natur. Wir wollen uns zuerst den ideologischen zuwenden. Israel muss anerkennen, dass es für die Entstehung des Problems historisch verantwortlich ist. Um das Heilen der Wunde zu erleichtern, muss die Anerkennung deutlich ausgesprochen werden.
Es muss anerkannt werden, dass die Entstehung des Flüchtlingsproblems ein Ergebnis der Verwirklichung der zionistischen Bemühungen war, in diesem Land eine jüdische nationale Renaissance zu erreichen. Es muss auch anerkannt werden, dass zumindest einige der Flüchtlinge gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben wurden, nachdem der Kampf bereits vorbei war, und dass ihnen verwehrt wurde, nach Hause zurückzukehren.
Ich kann mir ein dramatisches Ereignis vorstellen: Der Präsident oder Premierminister von Israel entschuldigt sich bei den Palästinensern feierlich für das Unrecht, das ihnen bei der Verwirklichung der zionistischen Ziele zugefügt wurde, und er betont gleichzeitig, dass diese Ziele hauptsächlich auf die nationale Befreiung gerichtet waren und darauf, Millionen vor der jüdischen Tragödie in Europa zu bewahren. Ich würde noch weiter gehen und vorschlagen, eine «Wahrheitskommission», bestehend aus Israelis, Palästinensern und internationalen Historikern, einzurichten, die die Ereignisse von 1948 und 1967 untersucht und einen umfassenden und von allen akzeptierten Bericht vorlegt, der Bestandteil von Lehrplänen sowohl der israelischen als auch der palästinensischen Schulen werden kann.
Das Recht auf Rückkehr
Das Recht auf Rückkehr ist ein fundamentales Menschenrecht und kann heutzutage nicht verweigert werden. Unlängst führte die Internationale Gemeinschaft einen Krieg gegen Serbien, um das Recht der Kosovaren durchzusetzen, in ihre Heimat zurückzukehren. Es sollte erwähnt werden, dass Deutschland für die vertriebenen Deutschen das Recht auf Rückkehr nach Ostpreußen, Polen und dem Sudetenland aufgab. Dies war jedoch das Ergebnis der tief gefühlten Schuld des deutschen Volkes für die schrecklichen Verbrechen der Nazis. Der häufig gehörte Satz «Aber die Araber fingen mit dem Krieg an» ist in diesem Kontext irrelevant. Ich schlage vor, dass der Staat Israel das Recht auf Rückkehr grundsätzlich anerkennt und darauf hinweist, dass die Umsetzung dieses Prinzips durch Verhandlung und Abkommen verwirklicht werden wird.
Palästinensische Staatsbürgerschaft
Wenn der ideologische Aspekt befriedigend gelöst ist, wird es möglich, den praktischen Aspekt des Problems anzugehen. Die Lösung des Flüchtlingsproblems wird mit der Etablierung des Staates Palästina zusammenfallen. Der erste Schritt kann daher das Gewähren der palästinensischen Staatsbürgerschaft für jeden palästinensischen Flüchtling sein, ganz gleich, wo er lebt, wenn der Staat Palästina so befindet. Für die Flüchtlinge wird dies von größter Bedeutung sein, nicht nur aus symbolischen, sondern auch aus ganz praktischen Gründen. Vielen Palästinensern, die keine Staatsbürgerschaft haben, wird das Recht Staatsgrenzen zu überqueren ganz und gar versagt, für alle anderen bedeutet das Überqueren von Grenzen Leid, Erniedrigung und Schikane. Mit der Staatsbürgerschaft wird sich die Situation und der Status von Flüchtlingen in Ländern wie dem Libanon völlig ändern, wo Flüchtlinge der Gefahr ausgesetzt sind.
Freie Wahl
Ein Grundbestandteil des Rechts auf Rückkehr ist das Recht jedes einzelnen Flüchtlings, frei zu wählen zwischen Rückkehr und Entschädigung. Es handelt sich um ein persönliches Recht. Während die Anerkennung im Prinzip ein kollektives Recht ist, liegt die praktische Umsetzung bei dem einzelnen Palästinenser. Um seine Entscheidung treffen zu können, muss er alle ihm zustehenden Rechte kennen: welche Summen jenen gezahlt werden, die sich entscheiden nicht zurückzukehren, und welche Möglichkeiten denen offen stehen, die zurückkehren wollen. Jeder Flüchtling hat Anspruch auf Entschädigung für Eigentum, das zum Zeitpunkt der Entwurzelung zurückgelassen wurde, und ebenso für die verlorenen Möglichkeiten usw. Ohne den Holocaust und die Nakba miteinander zu vergleichen, kann man doch von der Methode der Deutschen, ihre jüdischen Opfer zu entschädigen, lernen. Die wird jeden Flüchtling in die Lage versetzen, entscheiden zu können, was für ihn und seine Familie gut ist.
Die Entschädigungen, die zweifellos große Summen ausmachen werden, müssen von einem internationalen Fond gezahlt werden, zu dem alle wohlhabenderen Länder beitragen müssen. Die Palästinenser können dies zu Recht von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verlangen, die 1947 für die Teilung Palästinas stimmten und keinen Finger rührten, um die Tragödie der Flüchtlinge zu verhindern. Die Israelis dürfen sich aber nicht selbst etwas vormachen und glauben, dass nur andere zahlen werden. Die israelische «Treuhand für Vermögen Abwesender» hält riesigen Besitz - Gebäude, Land, beweglichen Besitz -, der von den Flüchtlingen zurückgelassen wurde, und es ist seine Pflicht, dies alles zu registrieren und zu verwalten.
Rückkehr nach Palästina
Der historische Kompromiss zwischen Israel und Palästina basiert auf dem Prinzip «Zwei Staaten für zwei Völker». Der Staat Palästina hat die Aufgabe, den historischen Körper des palästinensisch-arabischen Volkes aufzunehmen, und der Staat Israel hat die Bestimmung, den historischen Körper des israelisch-jüdischen Volkes aufzunehmen, wo-bei die arabischen Bürger Israels, die ein Fünftel aller israelischen Bürger ausmachen, vollwertige Partner innerhalb des Staatswesens sind.
Es ist klar, dass die Rückkehr von Millionen palästinensischer Flüchtlinge in den Staat Israel den Charakter des Staates vollständig verändern würden, im Widerspruch zu den Intentionen seines Gründers und der meisten seiner Bürger. Das würde dem Prinzip der «Zwei Staaten für zwei Völker» zuwiderlaufen, worauf sich die Forderung nach einem palästinensischen Staat gründet.
All dies führt zu der Schlussfolgerung, dass die meisten der Flüchtlinge, die sich für die Rückkehr entscheiden, ihren Platz im Staat Palästina finden werden. Als palästinensische Bürger werden sie dort ihr Leben aufbauen können, in Abhängigkeit von den Gesetzen und Entscheidungen ihrer Regierung. Um eine große Anzahl Rückkehrer aufnehmen und ihnen Wohnung und Beschäftigung geben zu können, muss der Staat Palästina ausreichend Entschädigungen von dem internationalen Fonds und von Israel erhalten. Darüber hinaus muss Israel auch die Siedlungen unversehrt der palästinensischen Regierung übertragen, nachdem die Siedler auf israelisches Gebiet zurückgekehrt sind. Wenn schließ-lich über die gerechte und gleichmäßige Ver-teilung von Wasser und anderen Ressourcen zwischen Israel und Palästina entscheiden wird, muss der Umfang der Wiedereingliederung ebenfalls berücksichtigt werden. Wenn die Grenze dann offen ist für die freie Bewegung von Menschen und Gütern, entsprechend den Prinzipien der friedlichen Koexistenz zwischen guten Nachbarn, werden die früheren Flüchtlinge als Bürger Palästinas die Orte besuchen können, wo ihre Vorväter einst lebten.
Rückkehr nach Israel
Um die Heilung der psychischen Wunden und eine historische Versöhnung zu ermöglichen, lässt sich die Rückkehr einer angemessenen Anzahl von Flüchtlingen in den Staat Israel gar nicht vermeiden. Die genaue Anzahl muss bei Verhandlungen zwischen Israel und Palästina entschieden werden. Dieser Teil des Plans wird in Israel den stärksten Widerstand hervorrufen. Tatsächlich hat nicht ein einziger israelischer Politiker oder Vordenker gewagt, dies vorzuschlagen. Der entschiedene Widerstand existiert sowohl bei der Rechten wie bei der Linken des politischen Spektrums des Landes. Eine derartige begrenzte Rückkehr ist jedoch die natürliche Vollendung der prinzipiellen Anerkennung des Rechts auf Rückkehr und ein Zeichen für die Übernahme von Verantwortung für die Geschehnisse der Vergangenheit. Wie wir gleich sehen werden, ist der Widerstand dagegen irrational und ein Ausdruck alter Ängste, die keine Grundlage in der Wirklichkeit haben.
Die Regierung Israels bot kürzlich an, ein paar tausend Flüchtlinge im Jahr (die Rede war von 3.000) im Rahmen von Familienzusammenführung wieder aufzunehmen. Dies spiegelt eine falsche Einstellung wider. Es ist vielmehr die offene Rückkehr, im Rahmen des Rechts auf Rückkehr, als ein symbolischer Akt der Versöhnung notwendig. Die genannte Zahl ist natürlich lachhaft.
Niemand behauptet, dass Israel, das gerade erfolgreich eine Million neuer Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion integriert hat, ökonomisch außerstande ist, eine vernünftige Anzahl von Flüchtlingen einzugliedern. Das Argument ist klar ideologisch und demographisch: dass nämlich die Rückkehr jeder beliebigen Anzahl von Flüchtlingen die nationale demographische Zusammensetzung des Staates verändert. Wenn es eines Beweises für die Irrationalität des Arguments bedarf, braucht man nur zu erwähnen, dass die extreme Rechte in Israel die Annexion der arabischen Nachbarschaft von Ost-Jerusalem fordert und ganz damit einverstanden ist, der Viertelmillion Araber, die dort leben, die israelische Staatsangehörigkeit zu gewähren. Der rechte Flügel fordert ebenfalls die Annexion großer «Sied-lungsabschnitte», in denen viele arabische Dörfer liegen, ohne dass man über Gebühr besorgt über den Zuwachs an arabischen Bürgern in Israel wäre.
Es lohnt auch, sich daran zu erinnern, dass die Regierung von Ben-Gurion und Moshe Sharett 1949 anbot, 100.000 Flüchtlinge wieder aufzunehmen: Was auch immer die Motive für dieses Angebot sein mochten, und selbst wenn es lediglich ein diplomatisches Manöver war, so stellt dies Angebot einen wichtigen Präzedenzfall dar. Berücksichtigt man die jüdische Bevölkerung in Israel zu jener Zeit, so würde die damalige Zahl heute einer Größe von 800.000 entsprechen. Bezogen auf die damalige Zahl der Flüchtlinge, wäre das heutige Äquivalent eine halbe Million.
Die entscheidende Frage lautet: Wie viele kann man zurückbringen? Minimalisten sprechen von ungefähr 100.000, Maximalisten von etwa einer halben Million. Ich selbst habe eine jährliche Quote von 50.000 für einen Zeitraum von 10 Jahren vorgeschlagen. Dies ist jedoch ein Gegenstand für Verhandlungen, die in einer vertrauensvollen Atmosphäre mit der festen Absicht, dieses qualvolle Thema erfolgreich zu beenden, geführt werden müssen. Dabei darf nie vergessen werden , dass es sich um das Schicksal von Menschen handelt, die nach Jahrzehnten des Leidens eine Wiedergutmachung verdienen.
1,1 Millionen palästinensisch-arabische Bürger leben derzeit in Israel. Ein Anstieg dieser Zahl auf 1,3 oder sogar 1,5 Millionen werden das demographische Bild nicht grundlegend ändern, insbe-son-dere da Israel ja jedes Jahr mehr als 50.000 neue jüdische Immigranten aufnimmt.
Dieses Konzept verursacht jedoch in Israel tiefe Ängste. Sogar der Historiker Benny Morris, der eine so wichtige Rolle dabei spielte, die Vertreibung von 1948 deutlich darzustellen, ist lediglich bereit, «vielleicht einem kleinen Rinnsal an Flüchtlingen die Rückkehr nach Israel zu erlauben - ein paar Tausend, nicht mehr.» Ich bin mir bewusst, dass das Angebot weit davon entfernt ist, die palästinensischen Forderungen zu befriedigen. Aber ich bin davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Palästinenser weiß, dass dies der Preis ist, den beide Seiten zu zahlen haben, wenn sie die schmervolle Vergangenheit hinter sich lassen wollen und darangehen wollen, ihre Zukunft in den beiden Staaten aufzubauen.
Wann wird es passieren?
Wird diese Lösung angenommen - im Rahmen eines umfassenden Friedens zwischen Israel und Palästina, der zugleich auch Frieden zwischen Israel und der gesamten arabischen Welt bedeutet -, kann sie in wenigen Jahren umgesetzt werden.
Die erste Etappe wird natürlich das Erreichen eines Abkommens zwischen beiden Parteien beinhalten. Es ist zu hoffen, dass dies nicht ein Prozess erbitterten Feilschens wird, sondern vielmehr vertrauensvolle Verhandlungen, bei denen beide Seiten wissen, dass ein vereinbartes Abkommen nicht nur eine große menschliche Tragödie beendet, sondern auch den Weg öffnet für wirklichen Frieden.
Die zweite Etappe wird der Auswahlprozess sein. Eine internationale Agentur wird sicherstellen müssen, dass jede Flüchtlingsfamilie ihre Rechte und die ihr offenen Wahlmöglichkeiten gut kennt. Die Agentur muss auch gewährleisten, dass jede Familie sich frei, ohne irgendwelchen Druck entscheiden kann. Es muss auch einen ordnungsgemäßen Verlauf bei der Registrierung des Eigentums und beim Stellen der Forderungen geben.
Niemand kann zu diesem Zeitpunkt wissen, wie viele Flüchtlinge jede der Optionen wählen werden. Es ist anzunehmen, dass viele lieber dort bleiben, wo sie sind, insbesondere, wenn sie sich dort verheiratet haben oder Geschäfte besitzen und Fuß gefasst haben. Die Entschädigungszahlungen werden ihre Situation beträchtlich verbessern.
Einige werden es vorziehen, im palästi-nen-si-schen Staat zu leben, wo sie sich im Schoße ihrer Nation und ihrer eigenen Kultur heimisch fühlen. Andere wollen vielleicht auf das israelische Gebiet zurückkehren, wo sie der Heimat ihrer Familien nahe sind, wenngleich sie nicht in die zerstörten Häuser und nicht mehr existierenden Dörfer zurückkehren können. Wieder andere sind vielleicht abgeneigt, in einem Staat mit einem anderen nationalen und kulturellen Hintergrund zu leben, wenn sie erst die Realität mit eigenen Augen gesehen haben. Eine wirkliche Wahl wird nur möglich sein, wenn alle Fakten klar sind, und sogar dann wird es nicht wenige geben, die ihre Meinung mehrmals ändern.
Einst das große nationale Thema, das Symbol für das palästinensische Gefühl für Ungerechtigkeit, wird es zur persönlichen Sache von Hunderttausenden einzelner Familien. Jede von ihnen wird ihre individuelle Entscheidung treffen.
Zugleich muss die internationale Agentur ins Leben gerufen werden. Die Erfahrung besagt, dass dies nicht einfach sein wird und dass Länder, die großzügige Beiträge für derartige Zwecke versprechen, ihre Versprechungen nicht immer einhalten. Es ist klar, dass die Furcht vieler Israelis, dass ein Ereignis von der Größe einer Naturkatastrophe sie plötzlich überrollen wird, jeder Grundlage entbehrt. Die Lösung für das Problem wird ein langandauernder, kontrollierter, vernunftgesteuerter und logischer Prozess sein.
Historische Versöhnung
Ich glaube, dass mit diesem Plan eine moralische, gerechte, praktikable und konsensfähige Lösung erreicht werden kann. Beide Seiten werden ihn letztendlich annehmen, denn es gibt keine andere Lösung. Es gibt keinen Frieden ohne die Lösung des Flüchtlingsproblems, und die einzige Lösung kann nur eine solche sein, mit der beide Seiten leben können.
Vielleicht wird alles ja noch zu etwas Gutem führen. Wenn sich beide Seiten auf den Weg zur Lösung aufmachen, kann das die Versöhnung zwischen ihnen erleichtern. Wenn sie beieinander sitzen, um nach kreativen Lösungen zu suchen, gibt es vielleicht alle möglichen interessanten Ideen. Zum Beispiel: warum nicht zwei oder drei paläs-tinensische Dörfer wieder aufbauen, die nach 1948 zerstört wurden und deren Standort noch unbebaut ist? Vieles, was heute unmöglich zu sein scheint, kommt vielleicht auf den Verhandlungstisch, sobald sich die Atmosphäre zwischen den beiden Parteien verändert.
Dann wird vielleicht der alte Spruch des Psalmisten auf die Flüchtlinge zutreffen: «Der Stein, den der Baumeister verwarf, ist zum Eckstein geworden.»
Aus dem Englischen von Dieter Lohaus.
Aus: Marxistische Blätter, Heft 4/2001-Sonderheft (erscheint am 22. Juni 2001). Bezug über:
Marxistische Blätter, Hoffnungstr. 18, 45127 Essen.
Per e-mail: MarxBlaetter@compuserve.de
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