Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hoffnung auf Hegels "List der Vernunft"

Uri Avnery über Optimismus für einen Frieden im Nahen Osten

Der in Beckum/Westfalen als Helmut Ostermann geborene Uri Avnery (85) ist Israels führender Friedensaktivist. Er floh im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Avnery war Abgeordneter in der Knesset und arbeitete als Journalist. Als er sich 1982 als erster Israeli mit Yasser Arafat in Beirut traf, wollte ihn die israelische Regierung wegen Hochverrats vor Gericht stellen. Johannes Zang hat Uri Avnery zum komatösen Friedensprozess und zur Friedensbewegung in Israel und Palästina befragt.



Neues Deutschland: Wie schätzen Sie die Lage ein, nachdem Premierminister Ehud Olmert nun zurücktritt?

Avnery: Die Chancen für den Frieden sind äußerst negativ. Denn wir haben ja keine wirkliche Regierung. Was ausschlaggebend ist: Die israelischen Siedlungen im Westjordanland werden erweitert und dadurch wird der Frieden täglich noch schwieriger, als er schon ist.

Was wünschen Sie sich von der europäischen Politik, um diesen festgefahrenen Verständigungsprozess zwischen Israelis und Palästinensern wieder in Bewegung zu bringen?

Sich viel mehr für den Frieden einzusetzen und Druck auf beide Seiten auszuüben. Die USA unterstützen völlig einseitig die schlimmsten Elemente in Israel. Europa ergreift aus Feigheit überhaupt keine Initiative im Nahen Osten, weil es die US-amerikanische Vorherrschaft dort anerkennt. Das berechtigte schlechte Gewissen von Deutschland und von Europa macht es der europäischen Politik und Presse unmöglich, objektiv in diesem Konflikt zu sein. Europa hat schon vor vielen Jahren abgedankt. Das hat mir mal ein deutscher Außenminister ganz klar gesagt: »Wir sind machtlos.« Die einzige Macht im Nahen Osten sind die USA. Um sein Gewissen zu erleichtern, gibt Europa von Zeit zu Zeit den Palästinensern ein paar Millionen Euro, eine Art Gewissensgeld - Geld, das vollkommen nutzlos ist, denn es bleibt bei der palästinensischen Oberschicht stecken.

Wie hängen die USA und Israel voneinander ab?

Die USA sind aus innenpolitischen Gründen total von Israel abhängig, nicht nur wegen der starken jüdischen Lobby, sondern noch mehr wegen der christlichen Lobby. Die christlich-evangelisch-fundamentalistische Bewegung in den USA, die 60 Millionen Menschen umfasst, hat einen ungeheuren Einfluss im Weißen Haus. Diese kombinierte Macht der jüdischen und der christlichen Lobby in den USA macht es Washington unmöglich, etwas zu tun, was Israel missfällt.

Sie wünschen sich Druck auf Israel. Könnte der das Land nicht weiter nach rechts abdriften lassen?

Das glaube ich nicht, ganz im Gegenteil. Wenn internationale Anerkennung für Friedensbestrebungen in Israel ausgesprochen wird, dann wird das den Respekt vor der Friedensbewegung und die moralische Kraft der Friedensbewegung stärken.

Sie sprechen von friedlichen Elementen auf beiden Seiten. Hierzulande meinen jedoch nicht wenige Deutsche, dass gar keine Friedensbewegung auf palästinensischer Seite existiert.

Das ist vollkommen unsinnig. Denn die palästinensische Behörde selbst ist eine Friedensbewegung. Arafat hat in Oslo -- das wird meistens übersehen -- mit einem Federstrich 78 Prozent des Landes Palästina wie es bis 1948 bestanden hat, aufgegeben. Arafat hat seit 1974 konsequent eine Friedenspolitik betrieben. Arafat war der ideale Partner, weil er die Führungskraft hatte, nicht nur einen Frieden zu unterschreiben, sondern auch sein Volk dazu zu bringen, den Frieden zu akzeptieren.

Arafats Nachfolger Mahmud Abbas (Abu Mazen) hat den Frieden nicht bringen können ...

Ich kenne ihn beinahe 40 Jahre. Er war immer klar für den Frieden. Er verhandelt mit Israel, obwohl die Verhandlungen gegenstandslos sind.

Warum sind sie das?

Sie sind gegenstandslos, nicht etwa, weil die Palästinenser nicht wollen, sondern weil gewisse Kreise in Israel nicht am Frieden interessiert sind -- weil Frieden unbedingt bedeutet, dass die Siedlungen im Westjordanland aufgelöst werden. Die Siedler und ihre Anhänger sind eine kleine, aber sehr gewalttätige und sehr starke Minderheit im Lande. Die Regierung hat Angst vor einer Konfrontation. Darum hat keiner den Mut, zu einem Frieden zu kommen.

Viele Israelis meinen jedoch, israelische Regierungen hätten alles für den Frieden getan. Es habe nur am palästinensischen Partner für Verhandlungen gefehlt.

Es ist auf beiden Seiten schwierig. Aber natürlich hängt es von uns ab, weil wir die Eroberer und Besatzer sind. Da wir bei weitem die stärkere Seite sind, hängt es von uns ab, ob Frieden zustande kommt. Die israelische Politik in den letzten zehn Jahren will keinen vereinbarten Frieden, weil der vereinbarte Frieden dazu führen wird, dass Israel die besetzten Gebiete aufgeben muss.

Sie sind trotz allem Optimist. Wie kommt es, dass Sie das Glas im Nahen Osten halb voll sehen, während andere nicht einmal ein Glas ausmachen können?

Wenn man nicht optimistisch ist, dann tut man ja nichts. Denn kein Mensch tut etwas, weil er Pessimist ist. Ich habe gesehen, wie sich Sachen verändern, langsam. Leider. Als meine Freunde und ich nach dem Krieg von 1948 sofort gesagt haben, wir müssen Frieden mit den Palästinensern machen, wurde in Israel die Existenz des palästinensischen Volkes ganz allgemein bestritten. Und noch vor 30 Jahren hat Golda Meir gesagt, es gebe so etwas wie ein palästinensisches Volk nicht.

Wer bestreitet heute in Israel oder der Welt, dass es ein palästinensisches Volk gibt? Das heißt, so schlimm die Lage auch aussieht, unterirdisch verändern sich Dinge. Ich vergleiche das immer mit einem Fluss, er kommt am Ende zum Meer. Hegel nannte das die »List der Vernunft«.

* Aus: Neues Deutschland, 22. September 2008


Zurück zur Israel-Seite

Zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage