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Zerrissenes Land

Igal Avidans politische und historische Erkundung Israels

Von Bettina Marx *

Es gibt eine fast unüberschaubare Menge an Büchern über Israel, darunter mehr und weniger lesenswerte, interessante und langweilige, originelle und abgedroschene. Zum 60. Geburtstag der israelischen Staatsgründung vor zwei Jahren sind eine ganze Reihe neuer Bücher hinzugekommen und der Leser hat heute die Möglichkeit, aus einem facettenreichen und breiten Angebot auszuwählen: Es gibt Reportagensammlungen und historische Darstellungen, Auseinandersetzungen mit dem Zionismus und der Siedlungsbewegung, Bücher über die israelische Armee und die Gesellschaft und natürlich Bücher über den Nahostkonflikt.

Heterogene Gesellschaft

Auch das Buch des in Berlin lebenden israelischen Journalisten Igal Avidan »Israel - ein Staat sucht sich selbst« ist vor zwei Jahren erschienen. Heute ist die zweite Auflage auf dem Markt, und es gehört zu den großen Stärken dieses Buches, daß es bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Auf über 200 Seiten nimmt uns Avidan mit auf einer Erkundungsreise durch die israelische Gesellschaft. Von der Staatsgründung - die er mit einem noch immer blutenden Kaiserschnitt vergleicht - bis zum Libanonkrieg des Jahres 2006 geht die Zeitreise. Von leidenschaftlichen Siedlern und überzeugten Zionisten bis zu den Post- und Antizionisten reicht die Spannbreite der Interviewpartner, die den Stoff für das Buch geliefert haben. 80 Interviews mit Persönlichkeiten des öffentlichen und kulturellen Lebens, mit Schriftstellern, Künstlern, Politikwissenschaftlern, Friedensaktivisten, mit Linken und Rechten im politischen Spektrum Israels hat Avidan geführt. Aber das Buch ist keine Interviewsammlung. Die Aussagen seiner Gesprächspartner hat Avidan locker eingestreut in seine sieben Kapitel über die Geschichte des Staates Israel und seine heterogene und widersprüchliche Gesellschaft, in die vielen Alltagsgeschichten, die das Bild eines zerrissenen Landes zeigen, eines Landes, das trotz aller unbestreitbaren Leistungen und Erfolge noch immer nicht weiß, wo es steht und wie es sich definieren soll, ein Land, das, wie es im Titel heißt, auch nach sechzig Jahren noch immer auf der Suche nach sich selbst ist.

Einzelschicksale

Da wird der Fall von Uzzi Ornan geschildert, der sich als »Israeli« registrieren lassen will, nur um zu erfahren, daß der Staat Israel eine »israelische Nationalität« nicht kennt. In seinem Personalausweis wird er schließlich nach langen juristischen Auseinandersetzungen als »Hebräer« definiert.

Da gibt es die Geschichte der deutschen Frau, die sich in einer israelischen Samenbank mit dem Sperma eines jemenitischen Juden versorgt, um auch ohne männlichen Partner ein Kind zur Welt bringen zu können. Da ist die Geschichte der Französin, die erst im Ausland und dann noch mal in Israel zum Judentum konvertiert und über diesen langwierigen und demütigenden Prozeß fast den neuen Glauben verliert.

Es sind diese Geschichten von Einzelschicksalen, die das israelische Alltagsleben in all seinen Facetten und Widersprüchen zeigen. Darüber hinaus berichtet Avidan aber auch von politischen Entwicklungen, die im Ausland kaum Beachtung finden und die doch so bedeutend sind für das Verständnis Israels. Zum Beispiel, wenn er über russische Neonazis in Israel berichtet, die mit den großen Einwanderungswellen aus der ehemaligen Sowjetunion ins Land gekommen sind. Oder wenn er Matzpen vorstellt, eine linke und antizionistische Splittergruppe, die die Besatzung und nachfolgende Besiedlung der palästinensischen Gebiete ablehnte und schon 1967 einen binationalen Staat für beide Völker, das jüdische und das palästinensische anstrebte. Oder wenn er den Leser mit dem Historiker Benny Morris bekannt macht, der als erster die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems beschrieb und später zu einem militanten Revisionisten wurde und kritisiert, daß Israel nicht alle Palästinenser aus seinem Staatsgebiet vertrieben hat. Oder mit dem Lyriker Haim Gouri, der zerrissen ist zwischen rechts und links, zwischen dem Pioniergeist der Siedler und dem Humanismus derer, die nicht über ein anderes Volk herrschen wollen.

Igal Avidan, der seit vielen Jahren für israelische Medien aus Deutschland berichtet und für deutsche Medien aus Israel, hat ein unterhaltsames Buch vorgelegt, humorvoll und flott geschrieben, das Israel-Anfängern das bunte und lebendige Bild eines komplizierten Landes präsentiert, durchaus kritisch, aber immer auch liebevoll und das selbst für eingefleischte Israel-Kenner noch zahlreiche zum Teil amüsante Überraschungen birgt. In der großen Fülle der Sachliteratur über Israel, die in Deutschland auf dem Markt ist, nimmt Avidans Buch eine Sonderstellung ein. Es leuchtet unbekannte Ecken der israelischen Gesellschaft aus und stellt Vorurteile und Annahmen in Frage. Eine Fortsetzung mit mehr Geschichten wäre denkbar und wünschenswert.

Igal Avidan: Israel - Ein Staat sucht sich selbst. Diederichs Verlag, München 2010 (2. Auflage), 224 Seiten, 19,95 Euro

* Aus: junge Welt, 29. März 2010


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