Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Streitfrage: Darf Israel als "Apartheidregime" kritisiert werden?

Es debattieren Uwe Kalbe und Jürgen Amendt


Da ist Sigmar Gabriel bei seiner Nahostreise letzte Woche mächtig ins Fettnäpfchen getreten: Nach einem Besuch in der Stadt Hebron im Westjordanland schrieb der SPD-Chef und mögliche Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr auf Facebook: »Das ist für Palästinenser ein rechtsfreier Raum. Das ist ein Apartheidregime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt.« Gabriel sprach sich auf der Reise außerdem dafür aus, die islamistische Hamas im Gazastreifen als Verhandlungspartner zu akzeptieren.

Ein Sturm der Entrüstung brach los. Für den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, waren die Äußerungen Gabriels »vollkommen verunglückt«. CDU-Generalsekretär Herrmann Gröhe forderte den SPD-Vorsitzenden auf, sich für seinen »verbalen Totalausfall« zu entschuldigen.

Doch welche Zustände herrschen eigentlich in Hebron, dass Gabriel die Parallele mit dem früheren Südafrika bemüht? Ist der Vergleich gerechtfertigt? Und überhaupt: Darf man ein offen rassistisches Regime mit dem jüdischen Staat in Nahost vergleichen, der angeblich einzigen Demokratie in der Region?

Wir dokumentieren im Folgenden zwei Beiträge, die im "neuen deutschland" unter der Rubrik "Debatte" erschienen sind.


Sprachgebote sind Denkgebote

Von Uwe Kalbe *

Ach, dieser Gabriel! Kaum droht er einem mal sympathisch zu werden, macht er sogleich einen Rückzieher. Ich komme aus einem Land, da konnte man sich leicht um Kopf und Kragen reden, also um den Kragen ging es entgegen heutiger landläufiger Meinung eher selten, häufiger ging es darum, dass man den Kopf gewaschen kriegte, und auch das war kein Spaß. Umso mehr wundert es mich immer, wie ähnlich zur DDR in dieser freien Gesellschaft darauf geachtet wird, nur keinen verbalen Fehltritt zu tun.

Deshalb hier ausdrücklich gleich zu Beginn: Man darf Israel einen Apartheidstaat nennen. Und dann die Einschränkung: Man darf es, wenn man nicht wissenschaftlich terminologisieren will. Apartheid ist die staatlich organisierte Separierung und Herabsetzung von Rassen aufgrund ihrer vermeintlichen Wertigkeit. Wenn man Juden und Araber nicht verschiedenen Rassen zurechnet, ist der Begriff Apartheid, auf Israel angewendet, falsch. Womöglich wäre er wieder richtig, wenn man die Juden als »auserwähltes Volk« betrachten wollte. Ich tue das nicht, und ich lasse mich auch nicht dadurch dazu verleiten, dass Juden es tun.

Doch die breite öffentliche Empörung über Gabriels Vergleich ist nicht aus Gründen der wissenschaftlichen Akkuratesse losgebrochen, das kann wohl auch nicht der Grund sein, weshalb der Vergleich jetzt als »unsäglich« zu gelten hat. Apartheid ist eben auch ein politischer Begriff, beladen mit vielen Emotionen, mit vielen abstoßenden Bildern. Und manche Bilder ähneln sich. In Südafrika galt das Leben eines Schwarzen weniger als das eines Weißen, wurden die einen bevorzugt und die anderen diskriminiert, es lebten die Schwarzen in Bantustans, weitab von den Weißen, es gab Schulen für Weiße und Schulen für Schwarze. In Südafrika behauptete die weiße Oberschicht, das weithin einzige westliche und demokratische Gemeinwesen inmitten eines Meers aus schwarzer Barbarei zu sein.

Und im Falle Israels? Werden Palästinenser in den Gebieten, die von Israel widerrechtlich besetzt gehalten werden, so behandelt, dass sie sich als zweit- und drittrangig verstehen müssen. Werden Baugenehmigungen Juden erteilt und Palästinensern verweigert, wird Palästinenserland enteignet, werden Olivenhaine oder ganze Dörfer verwüstet, wird ein Straßennetz für Israelis gebaut, das Palästinenser nicht benutzen dürfen. Im widerrechtlich besetzten Ostjerusalem verfügen Palästinenser nur über einen »permanenten Einwohner-Status« - mit Verlust ihres Wohnrechts bei bestimmter Abwesenheitsdauer; es findet also eine Verdrängung statt. Die Tatsache, dass im Kernland Israel keine Ehen von Juden mit Nichtjuden geschlossen werden können, mag der aufgeklärte Zeitgenosse mit einem unbehaglichen Kopfschütteln registrieren, man muss es nicht gerade Apartheid nennen.

Für Betroffene ist die Frage wohl belanglos, ob Israel Apartheidstaat genannt wird. Und auch, ob Israel Unrecht mit berechtigtem Sicherheitsinteresse begründet. Zutreffend beschrieben ist ihre Lage, wenn die Betroffenen, nicht ihre Peiniger, sie als zutreffend beschrieben empfinden. Der Streit um den korrekten Begriff hat mit der Lage dort nicht viel zu tun, sondern allein mit der Lage hier.

Es geht um deutsche Befindlichkeiten. Sprachgebote sind Denkgebote. Die besondere Solidarität für Israel, die zur deutschen Staatsräson erklärt ist, verbiegt jede Betrachtung. Diese windet sich zwischen dem Bedauern über den Konflikt und der Lieferung von Waffen und U-Booten an Israel. Eine Generalabsolution für Israel verlangt geradezu die hanebüchene Begründung, Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk verlange einen Verzicht auf Verantwortung gegenüber anderen. Einen Augenblick haben die Bilder von Hebron Macht über Sigmar Gabriel gewonnen. Er müht sich redlich, sie wieder loszuwerden, aus genau diesem Grund.

Die Lehre nach 1945 lautete im Angesicht des Grauens von 50 Millionen Toten, darunter 25 Millionen Bürger der Sowjetunion und sechs Millionen Polen, sowie des industrialisierten Mordes an sechs Millionen Juden: »Nie wieder Krieg!«. Doch die Erinnerung ist selektiv. Sinti und Roma wird es schwer gemacht, für ihr den Juden vergleichbares Schicksal die gleiche Genugtuung zu erlangen. »Nie wieder Auschwitz« lieferte Außenminister Fischer die Begründung für den ersten Krieg, an dem Deutschland sich seit 1945 beteiligte. Empören muss nicht der Vergleich, sondern der Missbrauch von Auschwitz in diesem Vergleich. Die verbale Schändung der Opfer, in deren Namen Fischer zu sprechen vorgab.

Die Erregung über Gabriel lässt das frühere Südafrika jetzt als das unfassbar Böse erscheinen. Israel und Südafrika waren Bündnispartner, bauten gemeinsam die Atombombe. Und Deutschland pflegte enge Beziehungen nicht nur zu Israel, auch zu Südafrika. Einem, der erst vor 20 Jahren dazukam, sei die Frage erlaubt: Durfte man die Apartheid in den 70ern eigentlich Apartheid nennen?

* Uwe Kalbe (56) leitet das Ressort Inland im "neuen deutschland".

Unfähigkeit zur Empathie

Von Jürgen Amendt **

Darf ein deutscher Politiker die israelische Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten als »Apartheidregime« bezeichnen? Natürlich darf er das. Das Recht auf Meinungsfreiheit gilt auch in diesem Fall. Zeugt ein solcher Vergleich aber von Klugheit? Nein, klug ist das nicht, wie die Reaktionen auf die Behauptung des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriels zeigen, Israel betreibe im Westjordanland Apartheid. Gabriels Facebook-Seite, auf der er seinen Kurzkommentar zur israelischen Politik gepostet hatte, war rasch voller kritischer Kommentare. Also ruderte der SPD-Politiker zurück. Allerdings nur halbherzig. Er entschuldigte sich zwar, beharrte aber darauf, die Formulierung sei sicherlich drastisch, aber die Palästinenser in Hebron erlebten die Situation wie von ihm beschrieben. Man muss dazu wissen, dass in der Altstadt von Hebron wenige hundert streng religiöse jüdische Siedler inmitten von mehr als hunderttausend Palästinensern leben, beschützt von israelischen Soldaten, die die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerungsmehrheit tagtäglich einschränken.

Betreibt aber Israel in Hebron ein Regime vergleichbar dem des früheren Südafrikas? Nein. Die Trennung der Bevölkerung anhand ethnischer Kriterien ist quasi keine Staatsdoktrin in Israel. Warum aber hat der SPD-Chef dann diesen Vergleich gezogen? Gabriels Verweis auf das Arpartheidregime steht in einer Tradition verbaler Zuspitzungen des Nahost-Konflikts. Meist geschieht das mit einem sprachlichen Bezug zur NS-Zeit. Historische Vergleiche sind rituelle Selbstvergewisserungen, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Linke und Bürgerliche stehen sich da in nichts nach. 1999 begründete der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer den militärischen Angriff auf Rest-Jugoslawien mit der dramatischen Zuspitzung »Nie wieder Auschwitz!«. Ähnlich rechtfertigten Jahre zuvor manche Linke ihre Parteinahme für Jugoslawien im Krieg um Bosnien; Kroatien müsse man wegen dessen Allianz mit Nazi-Deutschland während des zweiten Weltkriegs in den Arm fallen, um ein neuerliches Auschwitz zu verhindern. Und vor einigen Jahren meinte der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke, die Situation der Palästinenser in Ramallah sei mit der der Juden während der NS-Zeit im Warschauer Ghetto vergleichbar.

Auch wenn Sigmar Gabriel nicht von Auschwitz redet, geht sein Apartheidvergleich doch in eine ähnliche Richtung. Es hat sich im politisch-medialen Diskurs eine Unsitte eingeschlichen, nämlich die, aktuelle Menschenrechtsverletzungen mit dem Verweis auf Verbrechen der Vergangenheit anzuprangern. Es ist dies das reflexartige Unternehmen, die eigene Empörung angesichts wahrgenommenen Unrechts moralisch fest zu legitimieren, indem man sich die Absolution aus dem Vergangenen holt, über dessen Unrecht allgemeiner Konsens herrscht. Das zeugt gleichermaßen von historischer Unredlichkeit, intellektueller Faulheit und von der Unfähigkeit zur Empathie.

Vor Jahren erzählte mir ein Lehrer einer Berliner Oberschule von einem Besuch eines jüdischen Holocaust-Überlebenden in seiner Klasse. Unter den Schüler waren auch palästinensische Jugendliche. Als der alte Jude den Raum betrat, zeigte sich einer dieser Schüler demonstrativ ablehnend und meinte, er möchte lieber über die Verbrechen reden, die Juden in Palästina an seiner Familie begangen hätten. Der alte Mann, so erzählte mir der Lehrer, blieb besonnen und antwortete: »Das, was dir und deiner Familie widerfahren ist, ist schrecklich, doch ich bin hierhergekommen, um über das zu reden, was mir und meiner Familie angetan wurde und bitte dich, mir zuzuhören.« Das, womit der Lehrer nicht gerechnet hatte, geschah: Der Junge hörte zu.

Vielleicht sollte auch Sigmar Gabriel demnächst besser zuhören - und nachdenken, bevor er Vergleiche anstellt. Hätte er geschrieben, viele Palästinenser, mit denen er gesprochen habe, bezeichneten Israel als Apartheidregime, wäre das nicht zu beanstanden. Menschen, die unter einem subjektiv empfundenen Unrecht leiden, können das nicht differenziert und distanziert betrachten. Als betroffener Palästinenser würde ich unter Umständen auch von Apartheid reden. Sigmar Gabriel aber schrieb: »Aber genau so erleben die Palästinenser in Hebron ihre Situation«. Eigentlich aber meint er: So habe ich, Sigmar Gabriel, die Situation der Palästinenser erlebt. Solche Sätze eines Politikers sind schlimmer noch als undiplomatisch, sie sind Ausdruck von mangelndem Einfühlungsvermögen.

** Jürgen Amendt (46) ist Medien- und Bildungsredakteur dieser Zeitung.

Aus: neues deutschland, 24. März 2012



Zurück zur Israel-Seite

Zur Seite "Rassismus, Antisemitismus"

Zurück zur Homepage