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Israel: Die Mord-Spirale dreht sich weiter

Nach dem Terroranschlag in Tel Aviv - Bericht aus der israelischen Friedensbewegung

Es war der blutigste und heimtückischste Terroranschlag seit 1997, der sich in der Nacht von Freitag auf Samstag, 1./2. Juni 2001 in Tel Aviv ereignet hat. Kurz vor Mitternacht zündete ein Selbstmordattentäter vor einem Nachtlokal am Strand von Süd-Tel Aviv eine Bombe, die er sich um den Körper gebunden hatte. Die Explosion zerriss 17 israelische Jugendliche sowie den Attentäter; 120 Menschen wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Bis Sonntag, 3. Juni, erlagen weitere vier Jugendliche ihren Verletzungen.

Kurz nach dem Attentat hatte die extremistische Gruppe "Islamischer Heiliger Krieg" (Djihad Islami Organisation) die Verantwortung übernommen. Zu dem Anschlag bekannte sich inzwischen auch die wenig bekannte Gruppe "Palästinensische Hisbollah".


Aus einem Korrespondentenbericht:

Eine Hitzewelle hatte an diesem Abend besonders viele Jugendliche zu den zahllosen Pubs, Discotheken und Nachtclubs an der Ausgehmeile Tel Avivs am Strand getrieben. Vor dem besonders bei russischen Einwanderern beliebten "Pascha-Club" warteten Hunderte junge Israelis, die meisten zwischen 15 und 18 Jahre alt, auf Einlass. Kurz vor Mitternacht mischte sich der palästinensische Attentäter unter die Wartenden und zog die Zündschnur. Der große Sprengsatz, vermischt mit Nägeln und Schrauben, explodierte. Die Leiche des Attentäters flog 50 Meter weit. "Ich hörte einen lauten Knall und sah, wie da Menschen umherflogen", erzählt ein Augenzeuge, den die Druckwelle in einem benachbarten Pub vom Stuhl warf. Auf den Parkplatz neben der Disco regneten Körperteile und Fleischfetzen nieder. Dutzende von Autos wurden von den Metallstücken durchlöchert. Nägel bohrten sich auch in die Leiber der Jugendlichen. Innerhalb von vier Minuten waren schon die ersten Ambulanzen am Ort. Feuerwehrleute trugen die Verletzten auf ihren Schultern zu den Fahrzeugen, um sie in vier verschiedene Krankenhäuser zu evakuieren. "Wir arbeiteten unter Lebensgefahr, denn wir mussten befürchten, dass da noch mehr Sprengsätze explodieren könnten", sagt ein Retter. "Ich ging herum, fühlte den Puls. Ich wollte nicht glauben, dass sie tot waren. Ein junges Mädchen hatte noch etwas Puls. Sofort beatmete ich sie. Sie schlug die Augen wieder auf", berichtet ein Hilfssanitäter, der die Handtasche des verletzten Mädchens noch bei sich trägt.
Aus: Welt am Sonntag, 03.06.2001


Die israelische Regierung nahm aber sofort den PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat ins Visier. Verteidigungsminister Ben Eliezer behauptete, Arafat wolle "den Nahen Osten ins Chaos stürzen." Nach verschiedenen Korrespondentenberichten aus Israel seien inzwischen alle Sicherheitsbehörden von der persönlichen Verantwortung Arafats überzeugt seien. "Arafat ist bei den Palästinensern der Oberbefehlshaber dieses Krieges", sagte der rechtsradikale Tourismusminister Rehabeam Zeevi. Finanzminister Schalom meinte, Israel betrachte die palästinensische Autonomiebehörde nun "als Modell für einen terroristischen Staat". Unmittelbar nach dem Anschlag kündigte die israelische Regierung an, den vor allem auf Druck des Auslands zustande gekommenen, am 22. Mai ausgerufenen einseitigen Waffenstillstand aufzuheben. Sie wolle "alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Bürger zu schützen". Dazu gehöre die totale Blockade der. So solle erstmals der Gaza-Streifen auch vom Meer her abgeriegelt werden. Nach den Worten von Finanzminister Silvan Schalom wurden bereits Ziele für mögliche Angriffe ausgewählt.

In Erwartung israelischer Vergeltungsangriffe flohen in den palästinensischen Gebieten die Menschen noch in der Nacht aus ihren Wohnungen in der Nähe von Polizeihauptquartieren oder anderen offiziellen Gebäuden. Der palästinensische Präsident Jassir Arafat rief erstmals seit Beginn der jüngsten Intifada vor acht Monaten zu einem Waffenstillstand auf. Nach einem Treffen der Sicherheitschefs wurde angekündigt, die von Arafat verlangte Waffenruhe sofort umzusetzen. Gemeinsame Patrouillen aller Sicherheitsbehörden seien zusammengestellt worden, um Konfliktherde zu überwachen. Die größte extremistische Organisation Hamas, die für viele Bombenanschläge der Vergangenheit die Verantwortung übernahm, hat angekündigt, den Waffenstillstand einhalten zu wollen.

Die Nahostreise des deutschen Außenministers Fischer, die am Freitagabend begann, stand also unter einem denkbar schlechten Stern. Seine Aufrufe zur Beendigung der Gewalt werden solange hilflos bleiben, als dahinter kein Wille spürbar wird, den politischen Prozess im israelisch-palästinensischen Konflikt mit substanziellen Vorschlägen und Angeboten wieder in Gang zu bekommen. Fischers Aufrufe, die Gewalt zu beenden, gerieten außerdem einseitig: Sie richteten sich ausschließlich an die Adresse Arafats. "Ich hoffe, dass Arafat weiß, dass er zum Waffenstillstand kommen muss", sagte Fischer. "Allen ist der Ernst der Lage bewusst." Fischer war am Samstag (2. Juni) mit Arafat zu einem zweistündigen Gespräch in Ramallah zusammengetroffen.

Der israelische Ministerpräsident Scharon sagte unterdessen seine für diese Woche geplante Europareise ab. Die Reise sei "in Anbetracht der Lage im Sicherheitsbereich" verschoben worden. Die Entscheidung Scharons sei bei einem Treffen des Sicherheitskabinetts gefallen. Von Montag bis Donnerstag wollte Scharon zu einem dreitägigen Aufenthalt in Deutschland erst nach Berlin kommen und dann nach Belgien und Frankreich weiterreisen.

Im Laufe des Sonntag (3. Juni) sickerten folgende Nachrichten durch:
Die israelische Regierung hat Jassir Arafat eine 24-stündige Galgenfrist gewährt, bevor die Armee mit präzedenzloser Schärfe gegen palästinensische Einrichtungen in den autonomen Gebieten vorgehen werde. Das Kabinett hatte am Samstag Morgen (2. Juni) militärische Massnahmen gutgeheissen. Als aber das sogenannte "Küchenkabinett" (das Sicherheitskabinett) - bestehend aus Ministerpräsident Sharon, Außenminister Peres und Verteidigungsminister Ben Eliezer - anschliessend die Details besprach, kam die Nachricht, dass Arafat nach einer Unterredung mit dem deutschen Außenminister Fischer den Anschlag verurteilte und einen an keine Bedingungen geknüpften Waffenstillstand ankündigte. Trotz großer Skepsis beschlossen die drei Minister daraufhin, Militäraktionen vorläufig noch auszusetzen. Der Palästinenserführer sollte Gelegenheit erhalten, seine Ankündigung umzusetzen.
Pst

Quellen: SZ-online, 03.06.2001; Welt am Sonntag, 03.06.2001; HNA-Sonntagszeit, 03.06.2001; Netzeitung, 03.06.2001; Neue Zürcher Zeitung-online, 03.06.2001

Schreckliche Tage - Tel Aviv, 2. Juni

Ein Bericht von zwei israelischen Friedensaktivisten

War es verrückt, eine Mahnwache am Tag danach abzuhalten? Die schreckliche Explosion vor der Diskothek veranlasste "Frieden jetzt", die für Samstagabend angesetzte Demonstration zu verschieben. Nicht dass die Botschaft weniger wichtig geworden wäre ("Sag ja zu einem völligen Stopp des Siedlungsbaus; sag ja zu einem Ende der Gewalt"), aber es hat sich seit langem in der Friedensbewegung eingebürgert, nach einem Terroranschlag sich zurückzuhalten.

"Ta'ayush" (Arabisch-jüdische Partnerschaft) entschied sich dafür, die Straßen Tel Avivs nicht den ganzen Tag randalierenden rassistischen rechten Rabauken zu überlassen, sondern andere, radikalere Linkskräfte zu mobilisieren und an eben diesem Tag eine Mahnwache vor dem Verteidigungsministerium unter der Losung (neben anderen) "Die Besetzung tötet uns alle" abzuhalten.

Angesichts der Umstände waren die rund 150 Aktivisten, die an der Wache teilnahmen - einige kamen eigens dafür aus Jerusalem und sogar Haifa -, ganz und gar kein schlechtes Bild. Schließlich ging es nicht bloß darum, sich die Zeit zu nehmen: es gab Grund, Auseinandersetzungen mit den Rechten zu befürchten, die am Morgen an derselben Stelle nach Blut geschrieen hatten. Aber um 5 Uhr nachmittags war der Platz leer, wenn auch eine Menge rassistischer Poster auf dem Boden verstreut lagen. Nachdem eine Kavalkade von Autos der Rechten - Nationalflaggen schwenkend - vorbeigefahren war, bezogen ein paar Rechte auf der anderen Straßenseite Stellung; ein Fernsehteam kam und wir riefen anderthalb Stunden lang Losungen. "Nieder mit der Besetzung! Nieder mit den Siedlungen! Macht Schluss mit der Besetzung - um Schluss zu machen mit dem Terrorismus!" Ein paar junge Leute zeigten sich sehr kreativ und erweiterten das Repertoire um neue Slogans: "Lo Namit veLo Namut beSherut haGizanut!" (Wir wollen wegen Rassismus weder töten noch getötet werden!)

Das war grade ein Tag, nachdem wir als Teil der Gush-Shalom-Delegation der Trauerfeier für Feisal Husseini im Orient-Haus beigewohnt hatten. Auch dort war unsere Teilnahme nicht ohne Probleme. Die Leute vom Orient-Haus dirigierten uns besorgt zu einem Flügel, wo wir, etwa 40 Israelis zusammen mit einer ähnlichen Zahl von Palästinensern und einigen ausländischen Journalisten, getrennt waren von der sehr leidenschaftlichen Menge, die sich im umzäunten Garten des Orient-Hauses drängte. Aus den vielen militanten Reden wurde deutlich, dass hier alle palästinensischen Strömungen vertreten waren und einer Mischung aus Trauer und Leidenschaft für die palästinensische Sache Ausdruck verliehen.

Wir hatten Feisal Husseini kennen gelernt, lange bevor er ein so bekannter Führer seines Volks geworden war. Mehrmals hatten wir schon Gruppenbesuche im Orient-Haus, dem palästinensischen Hauptquartier organisiert; Feisal Husseini war es gelungen, das schöne Gebäude zu einem Ort des Gesprächs und der Friedensmanifestationen zu machen - und auch nachdem er so prominent geworden war, fand er immer Zeit für seine Freunde aus der Friedensbewegung. Mit einer großen Gruppe waren wir das letzte Mal im November 2000 hier gewesen. Einige von uns hatten sich noch eine Woche vor seinem Tod mit ihm getroffen. Die Trauerfeier für Husseini, den nicht nur Palästinenser, sondern auch Israelis schmerzlich vermissen werden, wurde besucht von Uri Avnery, dem Knessetmitglied der Arbeitspartei Yossi Katz und allen arabischen Knessetabgeordneten, dem Ratsmitglied von Jerusalem Meir Margalit (Meretz), dem Schriftsteller Eli Amir und anderen.

Adam Keller, Beate Zilversmidt
Mitarbeiter/in von "The Other Israel"

Aus dem Englischen: Hermann Kopp

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