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Meine Tradition ist die von Heine und Marx

60 Jahre Israel: Moshe Zuckermann, Universität Tel Aviv, im Gespräch

Moshe Zuckermann ist Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Er wurde 1949 in Tel Aviv geboren als Sohn deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender, welche aus dem heutigen Westpolen stammten. Mit seinen Eltern lebte er ab 1960 in der BRD. Mit 21 Jahren ging er von Frankfurt am Main zurück nach Israel. Mitte April nahm er an einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Israel-Jubiläum teil. Mit Moshe Zuckermann sprach Roland Etzel für das "Neue Deutschland".



ND: Was empfinden Sie, wenn Sie nach Deutschland kommen?

Zuckermann: Ich habe einen Teil meiner Kindheit und Jugend in Deutschland-West verbracht und bin jetzt fünf- bis sechsmal im Jahr wieder hier. Aber meine Heimat ist natürlich Israel, wo ich geboren bin.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat während ihres Israel-Besuchs Lobeshymnen eingestrichen. Waren auch Sie begeistert von Ihrer Knesset-Rede?

Nur George W. Bush wurde mehr gefeiert. Aber ich weiß nicht, ob dass ein guter Maßstab ist. Bei mir konnte von Begeisterung keine Rede sein. Was Frau Merkel von sich gegeben hat, war Schmeichelrhetorik, nichts als politischer Kitsch. Die Kanzlerin sagte, es sei deutsche Staatsraison, die Existenz Israels zu verteidigen. Das sind Worte, die letztlich keine Bedeutung haben können. Wir existieren seit 60 Jahren und werden diese Existenz verteidigen. Aber gesetzt den Fall, wir werden angegriffen: Kommt uns dann die Bundeswehr zu Hilfe? Ich glaube nicht.

Empfinden Sie die markigen Worte von Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad gegen Israel als reale Bedrohung?

Wenn die Iraner tatsächlich den israelischen Staat auslöschen wollen, müssen sie einfach wissen, dass das auch das Ende ihres Staates bedeutet, und das wissen sie auch. Es gibt Gefahren für Israel, aber diese resultieren nicht aus militärischen Konstellationen, sondern aus der Problematik seiner inneren Verfasstheit.

Alle israelischen Regierungen haben sich gegen das Rückkehrrecht der Palästinenser in das israelische Staatsgebiet gewandt. Was ist Ihre Meinung?

Das muss politisch ausgehandelt werden. Um welche Kontingente handelt es sich vermutlich? Ich rede immer von 250 000. Andere Kollegen sagen, es sind höchstens 100 000, die nach Israel zurückkehren wollen. Denn was wollen die Palästinenser unter israelischer Oberhoheit? Sie wollen ganz sicher in ihren palästinensischen Staat.

Sie werden zurückkehren, wenn sie zurückkehren wollen. Wenn sie es nicht wollen, werden sie in den arabischen Gesellschaften bleiben, in denen sie jetzt leben. So wie eben auch nicht alle Juden nach 1948 nach Israel gekommen sind. Die meisten, die in Amerika waren, haben es sich bis zum heutigen Tage nicht einfallen lassen, nach Israel zu kommen.

Mitte der 90er Jahre schien die Chance für einen palästinensischen Staat groß. Aber PLO-Chef Yasser Arafat wurde vorgeworfen, er habe sie vergeben. Was billigt denn die heutige israelische Gesellschaft den Palästinensern zu?

Die vergebene Chance – so haben es die israelischen Politiker, die damals dabei waren, kolportiert. Es war vollkommen klar, dass die Palästinenser auf ihren Grundforderungen bestehen müssen. Es geht ihnen dabei um den fast hundertprozentigen Abzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten; die Bildung eines palästinensischen Staates, die Zwei-Staaten-Lösung mit Jerusalem als Hauptstadt zweier Staaten und das Rückkehrrecht der Palästinenser. Darüber hatte man weitestgehend Einigkeit erzielt. Es war vielleicht so, dass Arafat den Rückzieher gemacht hat. Aber er hatte für andere Lösungen auch kein politisches Hinterland. Man vergisst, dass der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak einen Rückzieher von seinem eigenen Vorschlag hätte machen müssen, denn auch er hatte für den Kompromiss kein Hinterland.

Schon in den 90er Jahren hieß es von Seiten Israels: Mit dem und dem kann man nicht verhandeln. Damals traf das Verdikt Arafat.

Deshalb ist ja auch die Hamas an die Regierung gekommen. Sie ist u. a. deshalb an die Regierung gekommen, weil Israels damaliger Ministerpräsident Ariel Sharon eine Politik betrieben hat, die eine reine Partnerpolitik war. Im Grunde haben seine Versuche, Arafat auszuschalten, schon 1982 begonnen. Das hat er dann etwa 2000 auch geschafft. Er hatte damit das Vakuum geschaffen, in das die Hamas einsteigen konnte.

Die Hamas war zuvor in der palästinensischen Gesellschaft eine randständige Minorität. Was den islamistischen Fundamentalismus betraf, so gab es dafür in der palästinensischen Gesellschaft eine Basis von allerhöchstens fünf bis zehn Prozent. Es war zu einem wesentlichen Teil Israel, das die religiösen Elemente aktivieren wollte gegen die säkulare PLO, weil es die PLO als die einzige Bedrohung angesehen hatte. An der Entstehung der Hamas haben die israelische und die USA-Politik einen wesentlichen Anteil. Die Bush-Administration hat sich um die ganze Israel-Palästina-Problematik einen feuchten Kehricht geschert.

Was sie interessiert hat, waren ihre geopolitischen Interessen: vor allem in der Golfregion. Deshalb war es den Amerikanern vollkommen egal, ob sich Israel und Palästinenser gegenseitig niedermetzeln, solange die geopolitischen Interessen der USA davon nicht tangiert werden.

Es gibt trotzdem immer wieder Treffen Abbas/Olmert. Was können die bringen?

Sie können Zeichen setzen, dass einmal bessere Zeiten kommen. Aber noch sind die Verhandlungsgegenstände Hülsen ohne Inhalt. Und es dreht sich immer wieder um die Frage: Kann irgendetwas unternommen werden, ohne dass die Hamas mit einbezogen wird?

Kritik an der israelischen Politik im Nahostkonflikt sieht sich häufig, zumal in Deutschland, dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt. Sie selbst haben einmal erklärt, der Antisemitismus »äußert sich meist im Sinne der Gleichsetzung von Juden, Zionismus und Israelis – ein Grundfehler, der nicht nur von den Arabern, sondern auch in Deutschland gemacht wird«. Wie haben Sie das gemeint?

Der Antisemitismus ist eine Erfindung des Westens. Das heißt, nirgendwo hatten Juden so viel zu ertragen an Verfolgung und Mord wie im abendländischen Christentum. Im Islam gab es keine derartige Verfolgung des Judentums.

Nun gibt es aber neue Formen des Antisemitismus, wie er sich beispielsweise in der islamischen Welt äußert. Der hat nichts zu tun mit dem Judenhass, wie er sich in der katholischen und später auch der protestantischen Kirche äußerte. Er hat auch nichts mit dem rassistischen Antisemitismus zu tun, wie er sich besonders in Deutschland im 20. Jahrhundert, im Grunde aber schon im Frankreich des 18. und im übrigen Europa des 19. Jahrhunderts zeigte.

Diese neue Form des Antisemitismus ist ein Phänomen, das politisch aufgeladen worden ist durch das Auftreten des Zionismus in der Levante. Dazu kamen einige andere Entwicklungen, z. B. dass es in den islamischen Ländern ein postkoloniales Ressentiment gegenüber dem Westen gibt. Der Westen wird mit Amerika gleichgesetzt, Amerika mit dem Kapitalismus. Der Kapitalismus wird mit der Zirkulationssphäre gleichgesetzt, die Zirkulationssphäre wiederum mit den Juden – also sind die Juden schuld an dem, was kolonial abgelaufen ist. Das ist ein Kurzschluss. In den heutigen streng islamischen Ländern gibt es darüber hinaus Antisemitismus wegen des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Und in Westeuropa?

Im Westen wird der Antisemitismus jetzt neu thematisiert. Aber man kann ihn nicht mit Antizionismus und Israel-Kritik gleichsetzen. Man muss drei Tatsachen verstehen: Nicht alle Juden auf der Welt sind Zionisten. Nicht alle Zionisten auf der Welt sind Israelis. Und nicht alle Israelis sind Juden. Daher ist Antisemitismus nicht unbedingt mit Israel-Kritik verbunden. Und Antisemitismus muss nicht unbedingt einhergehen mit Antizionismus.

In den USA haben nicht wenige Kirchen eine radikal-fundamentalistische christliche Mission, dass die Juden eines Tages ihres Judentums behoben werden müssen, im Moment sind sie die größten Israel-Anhänger. Es gab auch im Nationalsozialismus Befürworter des zionistischen Gedankens, weil sie Deutschland »judenrein« haben wollten. Andererseits gibt es auch Antizionisten im Judentum. Orthodoxe Juden sind z. T. antizionistisch – mehr als israelische bzw. jüdische Kommunisten oder Sozialisten –, weil sie einen israelischen Staat grundsätzlich ablehnen.

Man kann Israel-kritisch sein, ohne antizionistisch zu sein. Israel verdient Kritik, denn es führt seit 40 Jahren ein Okkupationsregime, das barbarisch ist. Wenn ich als israelischer Staatsbürger kritisch gegenüber dem bin, was mein Staat betreibt, muss ich deswegen nicht antizionistisch und schon gar nicht antisemitisch sein.

Man kann übrigens auch azionistisch, das heißt nichtzionistisch sein, was etwas anderes ist als antizionistisch. Das bedeutet, man sagt, der Zionismus war vielleicht eine historische Notwendigkeit angesichts der Shoah. Aber so, wie er sich entwickelt hat, ist er nicht meine Sache.

Die Gründung des Staates Israel war nach Auschwitz auch für mich eine Notwendigkeit. Und dennoch bin ich heute kein Zionist mehr im ursprünglichen Sinne. Den Zionismus, wie er sich mittlerweile vor allem als Okkupationsregime entfaltet hat, betrachte ich nicht mehr als meine Sache.

Sind diese Definitionslücken mitverantwortlich dafür, dass Israel auch nach 60 Jahren keine Verfassung formuliert hat?

Es wurde nicht die Frage geklärt, wer und was ein Jude ist. In der Präambel müsste stehen, dass der israelische Staat ein jüdischer Staat ist. Und wenn wir »jüdisch« sagen, ist die Frage, wer ist Jude. Jude nach orthodoxem Verständnis ist etwas anderes als Jude nach nichtreligiösem Verständnis. Ist Judentum eine Schicksalsgemeinschaft? Ist es bestimmt durch die Verfolgungsgeschichte? Ist es durch die Religion bestimmt? Ist Judentum eine Nation? Ist Judentum eine Religion?

Welcher Auffassung neigen Sie zu?

Meine Tradition ist das Judentum von Heinrich Heine, Karl Marx und Moses Mendelssohn, Sigmund Freud und Albert Einstein. Die Religion brauche ich nicht. Daher bin ich kein typischer Fall für die israelische Gesellschaft. Aber es gibt eine ganze Menge Israelis, die meinen, wir bräuchten das Judentum nicht mehr. Wir sind ein Nationalstaat, und da sind wir schon irgendwie israelisch-jüdisch. Es gibt auch welche, die sagen: Wir sind deshalb Juden, weil wir von außen dazu bestimmt worden sind, durch die Verfolgungsgeschichte.

Schwierigkeiten mit ihrer Identität hatte zeitlebens auch die DDR. Von israelischer Seite wird sie überwiegend des Antisemitismus geziehen. Sie haben Ihre Jugend in den 60er Jahren in der BRD verbracht. Welchen Blick hatten Sie auf die DDR?

Ich glaube nicht, dass die DDR antisemitisch dargestellt wurde, aber antizionistisch, weil die DDR über viele Jahre eine Israel-kritische bzw. antiisraelische Politik betrieben hat. Das hielt sich die Waage: Man nahm die DDR falsch wahr, so wie die DDR – Moskau-hörig im Rahmen der geopolitischen Interesse der Sowjetunion – auch Israel falsch wahrnahm.

Ich bin bis heute Marxist und Sozialist und war natürlich auf der einen Seite angetan von diesem anderen Deutschland, konnte aber auf der anderen Seite den autoritären, sogenannten realen Sozialismus nicht akzeptieren. Er hatte für meine Begriffe mit dem Marxismus Marxscher Prägung nichts zu tun. Deshalb hatte ich ein gespaltenes Verhältnis zur DDR.

Ist dies eine Einzelmeinung in Israel?

2005 war ich auf einer Konferenz des Instituts für deutsche Geschichte zum Thema »Juden in der DDR«. Es wurde dort häufig erwähnt, dass Juden in der DDR an hohen Regierungsstellen saßen. Die überwiegende Meinung war, dass Antisemitismus kein bestimmendes Moment war im Verhältnis der DDR zu den Juden. Dass es auch Antisemitismus gegeben hat, steht außer Frage. Aber dass er ein zentrales Moment in der Politik der DDR den Juden oder Israel gegenüber gewesen sei, möchte ich in Abrede stellen.

Es ist natürlich zu fragen, inwieweit Juden, wenn sie nicht Kommunisten gewesen sind, eine Chance hatten in der DDR. Aber dann kann man die Frage auch allgemein stellen, welche Chancen Nichtkonforme in der DDR hatten. Dann war man eben Dissident, dazu musste man nicht Jude sein. Auch von durchaus kritischen Sozialisten wie Stefan Heym, mit dem ich noch korrespondieren durfte, oder Jurek Becker habe ich nie etwas entsprechendes gehört. Man muss unterscheiden zwischen dem, was Antizionismus und Zionismuskritik der DDR anbelangt und Antisemitismus. Für letzteren gab es schon deshalb keine Basis, weil es in der DDR nur wenige bekennende Juden gab.

Wie feiern Sie den Jahrestag?

Ich feiere nicht, ich reflektiere.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Mai 2008


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