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Aufruhr in Island weitet sich aus

Demonstranten fordern Rücktritt der Regierung / EU und Euro als Rettungsmittel in Debatte

Von Andreas Knudsen, Kopenhagen *

Der Zusammenbruch des isländischen Finanzsystems, steigende Arbeitslosigkeit und galoppierende Inflation haben die Sinne der sonst so kühlen Isländer zum Kochen gebracht.

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Herbst und dem Fast-Staatsbankrott gab es immer wieder Proteste in Island. Doch seit Wochenanfang erlebt die Hauptstadt Reykjavik die größten Demonstrationen seit 1949, als der damals umstrittene Beitritt zur NATO beschlossen wurde.

Mehrere Tage lang belagerten rund 2000 Demonstranten das Parlament, wo sich die Abgeordneten zum ersten Mal nach der Weihnachtspause versammelt hatten, und dem Nationaltheater, wo sich Vertreter der Regierungsparteien trafen.

Die Demonstranten warfen mit Schuhen, Schneebällen, Feuerwerkskörpern und zündeten Barrikaden an. Erst nach Stunden bekam die Polizei unter Einsatz von reichlich Pfefferspray die Situation unter Kontrolle. Der konservative Premierminister Geir Haarde musste vor Demonstranten flüchten, die ihn physisch bedrohten. Auch sein Vorgänger und jetziger Nationalbankdirektor Davis Oddsson war in den letzten Wochen Angriffen ausgesetzt.

Noch vor einem Jahr hätte es jeder Isländer für undenkbar gehalten, dass ein isländischer Politiker Personenschutz benötigen würde, doch Haarde und Oddsson mussten sich daran gewöhnen. Ihnen wird die Hauptverantwortung für die schwere Krise zugewiesen, als sie in den 90er Jahren eine ungehemmte Liberalisierungs- und Privatisierungswelle in Gang setzten. Die mangelnde Kontrolle über den Bankensektor gab Platz für eine Expansion ohne Rücksicht auf den Schuldenumfang. Die Hauptforderung der Demonstranten ist der Rücktritt der Regierungskoalition.

Allgemein erwartet wird, dass dies in den nächsten Tagen geschehen und eine Übergangsregierung gebildet wird. Die Regierung besteht gegenwärtig aus der konservativen Unabhängigkeitspartei, die seit der Unabhängigkeit 1944 regierte, und den Sozialdemokraten, die nach den Wahlen 2007 Koalitionspartner wurden. Die ebenfalls bürgerliche Fortschrittspartei hat sich mit einem Wechsel an der Parteienspitze bereits für ein Comeback positioniert. Mögliche Partner wären die Sozialdemokraten und die Rot-Grüne Partei. Diesen Parteien werden für Wahlen die besten Chancen zur Übernahme der Regierungsverantwortung eingeräumt, während die Unabhängigkeitspartei ihr politisches und moralisches Kapital verspielt hat.

Ungeachtet der künftigen Regierungszusammensetzung diskutieren Parteien und Bürger Auswege aus der Krise. Die nordischen Länder, Großbritannien, die Färöer, Russland, Polen und der IWF haben Milliardenkredite gewährt, um einen Kollaps von Wirtschaft und Staatsfinanzen zu verhindern.

Als Ausweg wird von einer Mehrheit die Aufnahme in die EU und die Übernahme des Euro angesehen. Ein Schritt, der den unabhängigkeitsbewussten Isländern nicht leicht fallen wird. Während sich Demonstrationen und Diskussionen ausweiten, haben insbesondere junge Isländer bereits ihre Wahl getroffen. Die Auswanderung ist stark steigend und bewegt sich insbesondere in Richtung Nordeuropa, aber auch in die USA.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Januar 2009


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