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Rache für den Aufstand

Die "Reykjavik 9" vor Gericht: In Island wird neun Aktivisten der "Kochtopfrevolution" wegen "Bedrohung des Parlaments" der Prozeß gemacht

Von Georg Brzoska *

In Reykjavik stehen neun Globalisierungskritiker vor Gericht, darunter die Vorsitzende von ATTAC-Island Sólveig Jónsdóttir. Sie hatten im Dezember 2008 mit Tausenden Isländern gegen die Krisenpolitik ihrer Regierung protestiert. Jetzt sollen die »Reykjavik 9« stellvertretend für alle verurteilt werden - angeblich wegen Bedrohung des Parlaments.

Das Verfahren war am 12. Mai dieses Jahres eröffnet worden, und es verläuft schleppend. Am heutigen Gerichtstermin soll geklärt werden, ob die Staatsanwältin befangen ist, weil sie für die regierenden Sozialdemokraten einen Sitz im Zentralbankkomitee innehat.

Der Prozeß zeigt, daß die Neoliberalen in Island nicht völlig in der Defensive sind. Dabei waren nach dem Crash der Finanzmärkte im Oktober 2008 die Isländerinnen und Isländer die ersten, die ihre Finanzmarkt-getriebene Regierung davongejagt hatten. Der Aufstand brachte die erste linke Regierung in der Geschichte des Landes ins Amt.

Vor dem Crash schien Island sein Wirtschaftswunder zu erleben. Die Ökonomie boomte. Die Banken drängten die Menschen, für privaten Konsum immer mehr Kredite aufzunehmen.

Die »Unternehmerwikinger«, wie sie genannt wurden und von denen einige Milliarden Euro verdienten, und fast alle isländischen Politiker gaukelten der Bevölkerung vor, die Wirtschaft und das Bankenwesen seien gesund, niemand müsse sich Sorgen machen. Tatsächlich hatten die Banken eine astronomische Spekulationsblase erzeugt. Das Vermögen der drei größten Banken überstieg das Bruttoinlandsprodukt Islands um das elffache. Ökonomen sprechen davon, daß der Zusammenbruch des Finanzmarktes, der dann erfolgte, historisch einmalig gewesen sei. Innerhalb weniger Tage brachen 85 Prozent des Bankenwesens zusammen.

Weniger Wunder also, daß die meisten Isländer völlig schockiert waren. Sie waren nicht darauf vorbereitet, plötzlich um ihre Existenz fürchten zu müssen. Da die meisten Kredite in Fremdwährung aufgenommen worden waren und der Wert der isländischen Krone dramatisch sank, waren sehr viele nicht mehr in der Lage, ihre Schulden zurückzuzahlen.

Wenige Tage nach dem Crash, am Samstag, dem 11. Oktober 2008, gab es die erste Protestkundgebung auf dem Platz vor dem Parlament. In der Folge wurde Samstag für Samstag demonstriert. Die Direktoren der Zentralbank und der Finanzaufsicht sollten zurücktreten, lautete eine der Forderungen, außerdem müsse das Parlament neu gewählt werden. Weil bis Ende November noch immer kein einziger Politiker zurückgetreten war, wurde schließlich der sofortige Rücktritt der Regierung verlangt.

Die Protestbewegung umfaßte Menschen aus vielen sozialen Schichten. Sie war keinesfalls auf das linke politische Spektrum beschränkt. Sie war das Sprachrohr der Mehrheit der Bevölkerung. Es herrschte eine starke Aufbruchstimmung. Es war klar, daß nach dem Zusammenbruch etwas ganz Neues kommen mußte. Neue Bewegungen entstanden, in Kinos und Theatern wurden Diskussionsversammlungen durchgeführt. Viele sprachen sich dafür aus, eine neue demokratischere Verfassung zu erarbeiten.

Die »Reykjavik 9« sind wegen eines Vorfalls am 8. Dezember 2008 angeklagt. Die Proteste hatten seinerzeit längst noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Aus einer Demonstration heraus drangen etwa 30 Menschen in das Foyer des Parlaments ein. Zweien gelang es, auf die Besuchertribüne zu kommen. Es war eine spontane Aktion. Es ist unklar, warum gerade die neun vor Gericht gestellt wurden, aufgrund von Videoaufnahmen sind alle »Parlamentsbesucher« bekannt.

Als das Parlament am 20. Januar 2009 zum ersten Mal nach der Weihnachtspause wieder tagte, war die Geduld der Demonstranten am Ende. Über die Feiertage hatte sich reichlich Wut aufgestaut. Die Proteste wurden radikaler. Es war der Beginn der »Kochtopfrevolution«. Nach argentinischem Vorbild wurden Töpfe und Pfannen mitgebracht und darauf stundenlang geschlagen. Der große Weihnachtsbaum, den die Stadt Oslo jedes Jahr der Stadt Reykjavik schenkt, wurde zu Kleinholz zerhackt, Lagerfeuer wurden entzündet.

Praktisch an jedem Tag kamen große Menschenmengen zusammen, die den Rücktritt der Regierung forderten. Am 26. Januar 2009 mußte der konservative Ministerpräsident Geir Haarde abtreten. Innerhalb weniger Tage wurde eine neue Minderheitsregierung der sozialdemokratischen Partei zusammen mit der »Linksgrünen Bewegung« gebildet. Bei den Neuwahlen im April erhielten die beiden linken Parteien zusammen die Mehrheit der Stimmen.

Bei der Neuwahl erhielt eine aus der Protestbewegung heraus gegründete Partei zwar sieben Prozent der Stimmen. Sie zersplitterte aber sehr schnell. Die Aufbruchstimmung war bereits verflogen.

Es hat ganz den Anschein, daß Sólveig Jónsdóttir und die acht anderen Angeklagten stellvertretend für alle Teilnehmer der Protestbewegung des Spätherbstes und Winters 2008/2009 abgeurteilt werden sollen. Dabei hat die politische Entwicklung gezeigt, daß die Protestbewegung den Willen der Bevölkerung ausgedrückt hat - ganz im Gegensatz zu den Politikern im Parlament, um deren Schutz es angeblich bei dem Prozeß geht.

* Aus: junge Welt, 17. August 2010


Wer bedroht das Parlament? **

Den »Reykjavik 9« werden Rempeleien mit dem Wachpersonal des Parlaments und der Polizei vorgeworfen. Vor allem aber werden sie nach Paragraph 100 des isländischen Strafgesetzes angeklagt: »Jeder, der den Althingi (das Parlament - jW) angreift, so daß dessen Unabhängigkeit gefährdet ist, der Botschaften in dieser Absicht aussendet, oder solchen Botschaften Folge leistet, wird mit einer Gefängnisstrafe von mindestens einem Jahr bestraft. Bei einem sehr groben Vergehen kann die Strafe lebenslänglich betragen.« Den Angeklagten wird vorgeworfen, die Unabhängigkeit des Althingis bedroht zu haben, indem sie das Parlament am Rande einer Demonstration betraten. Dabei steht das isländische Parlament Besuchern offen. Nach Paragraph 100 wurde erst ein einziges Mal vorher Anklage erhoben: gegen Demonstranten, die sich 1949 gegen den NATO-Beitritt Islands wehrten. 1949 wie 2008/2009 fanden massenhafte Proteste auf der Straße statt.

Es drängt sich die Frage auf, durch wen das Parlament tatsächlich bedroht wurde - durch die Protestierenden oder nicht eher durch die Finanzwirtschaft, die massiv Einfluß auf die Politiker nahm. Die Banken und Oligarchen, denen die Banken in erster Linie gehörten, sind seit der Veröffentlichung des Abschlußberichtes des Parlamentskomitees im April dieses Jahres zu den Ursachen und Verantwortlichkeiten des Crashs noch mehr unter Druck geraten als vorher. So kritisiert das Komitee, daß die Finanzwirtschaft die Parteien vor der Wahl 2007 massiv finanziell unterstützt hat. Mehrere Politiker mußten bereits zurücktreten, weil sie diese Wahlspenden angenommen hatten. Der parlamentarische Entscheidungsprozeß wurde durch diese Machenschaften in undemokratischer Weise manipuliert - die spontane Protestaktion des 8. Dezember 2008 hingegen war Teil der Protestbewegung, die den Willen der Bevölkerung ausgedrückt hat, mithin eine zutiefst demokratische Handlung.
(gb)

** Aus: junge Welt, 17. August 2010 (Kommentar)


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