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Aufstand im Norden

Vom Bankenparadies zum "gallischen Dorf"? Islands Bevölkerung wehrt sich gegen Übernahme der Krisenlasten und will Verantwortliche vor Gericht sehen

Von Georg Brzoska *

Island hatte sich in einzigartigem Tempo von einer typischen nordeuropäischen Wohlfahrtsgesellschaft zu einem Musterland des Neoliberalismus entwickelt. Sehr viele Gemeingüter wurden innerhalb kürzester Zeit privatisiert, inklusive der noch nicht gefangenen Fische. Das Recht zu fischen wurde zu einem Wertpapier gemacht. Postwendend kamen einige Fischflottenbesitzer durch Kauf und Verkauf dieser Rechte zu Reichtum. Die durch diese Geschäfte erlangten Vermögen wurden die Basis des Finanzbooms. Zum ersten Mal in der isländischen Geschichte entstand eine Oberschicht, die nicht mehr bescheiden auftrat, sondern mit ihrem Reichtum protzte.

Die Privatisierung der Banken wurde 2001 abgeschlossen. 2004 war das Vermögen der drei größten Geldinstitute auf den Wert des gesamten isländischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) angewachsen. Kurz vor dem Crash war es sogar zehnmal so groß.

Die Blase platzte innerhalb von wenigen Tagen. Noch nie ist ein Finanzsystem in Friedenszeiten so schnell kollabiert wie das isländische im Herbst 2008. Die Bevölkerung, für die der Crash überraschend kam, war schockiert. Viele begehrten auf, und Island wurde zum ersten Land, in dem wegen der Finanzkrise eine Regierung durch Volksaufstände aus dem Amt gejagt wurde.

Anfang März hat es einen weiteren Aufstand gegeben. Die Isländer wollen nicht als Steuerzahler für jene horrenden Summen aufkommen, die ihre Banken in den Sand gesetzt haben. Diese Rebellionen führten zu der Volksabstimmung vom 6. März. Deren Ergebnis - 93 Prozent Nein-Stimmen - wurde außerhalb Islands als generelle Ablehnung jeglicher Zahlung verstanden. Dabei ging es nur um konkrete Konditionen, die außerdem schon gar nicht dem aktuellen Verhandlungsstand entsprachen. (siehe jW vom 8. März)

So ist der Eindruck entstanden, Island sei wie das berühmte »gallische Dorf«, eine kleine Gemeinschaft, die dem übermächtigen internationalen Finanzkapital Widerstand leistet. Aufgrund dieser verzerrten Wahrnehmung ging von der Abstimmung eine wichtige Signalwirkung aus. Und das internationale Finanzkapital wurde aufgeschreckt. Aktuell verlautete aus dem Pariser Club, dem informellen Zusammenschluß der mächtigsten Gläubigerstaaten, daß man schon einige Male über den Staat im Nordatlantik debattiert habe. Den Mitgliedern bereite es Kopfschmerzen, daß Islands Beispiel Schule machen könnte.

Dementsprechend hart ist die Reaktion. Die nächste Rate eines Kredits des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird vorläufig nicht ausgezahlt. Auch der Weg zur EU-Mitgliedschaft ist derzeit versperrt. Die BRD-Regierung beteiligt sich an der Blockade.

Die wichtigsten Kreditgeber für die weltweite Finanzexpansion der »neuen Wikinger« waren deutsche Banken. Von 22 Milliarden Euro ist die Rede, und jetzt fürchten sie um ihr Geld. Der isländische Wirtschaftsminister würde es begrüßen, wenn Gläubiger-Finanzinstitute Anteile der isländischen Geldhäuser übernehmen würden. Die bundesdeutschen Banken scheinen wenig davon zu halten, immerhin sind 40 Milliarden Euro Forderungen allein gegen die größte isländische Bank offen.

Obwohl der Widerstand auf der Insel überschätzt wird, gibt es einige Anzeichen für positive politische Veränderungen. Da ist zunächst die Tatsache, daß aufgrund der durch den Aufstand erzwungenen Wahlen 2009 eine Koalition aus der sozialdemokratischen und der linksgrünen Partei die Regierung stellt. Diese hat zaghaft begonnen, den neoliberalen Umbau zurückzunehmen. Leider ist sie aber in erster Linie damit beschäftigt, den weiterhin drohenden Bankrott von Staat, Unternehmen und Privatpersonen abzuwenden. Die linksgrüne Partei erhielt bei der Wahl 21,7 Prozent der Stimmen. Sie ist gegen eine EU-Mitgliedschaft und hat einen starken linken Flügel.

Auch könnte Island zu einer Art Informationsparadies werden. Die Bewohner haben das Gefühl, sie seien vor dem Crash von der Obrigkeit völlig im dunkeln darüber gelassen worden, was wirklich passierte. Deshalb ist das Bedürfnis nach politischer Transparenz heute groß. So wurde das Veröffentlichen von als geheim deklarierten Dokumenten inzwischen zur politischen Tugend. Es vergeht kaum eine Woche, in der keine derartigen Papiere der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Ende Februar wurde im Parlament ein Gesetz auf den Weg gebracht, das dafür sorgen soll, Island vorbildliche Regelungen für Presse- und Meinungsfreiheit, Informantenschutz und den Zugang zu Informationen von Behörden zu verschaffen.

Schon seit Anfang 2009 suchen ein parlamentarisches Komitee und eine Sonderstaatsanwaltschaft Antwort auf die Frage, wer Verantwortung für den Zusammenbruch trägt. Das Parlamentsgremium wird seinen umfangreichen Bericht am 12. April veröffentlichen. Rechnet man die Anzahl der Mitarbeiter der Sonderstaatsanwaltschaft (14) auf die Bevölkerungszahl Deutschlands hoch, so hätte eine solche bei uns 3600 Mitarbeiter. Höchstwahrscheinlich werden einige Oligarchen und/oder Politiker bald vor Gericht gestellt. Die spannende Frage ist, ob sie schuldig gesprochen werden.

Viele Isländer bezahlten einen hohen Preis für die Krise: Sie wurden arbeitslos, verloren ihr Wohneigentum, verschuldeten sich maßlos, wanderten aus, wurden obdachlos oder haben aufgrund der enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten geringere reale Einkünfte. Viele Manipulationen der Banken und der Oligarchen wurden aufgedeckt. Manche frühere Helden des »neuen Wikingertums« trauen sich heute nicht mehr auf die Straße. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist groß. Vielleicht wird Island doch noch zum »gallischen Dorf«.

* Unser Autor ist Soziologe, lebt in Berlin und ist im globalisierungskritischen Netzwerk ATTAC engagiert

Aus: junge Welt, 25. März 2010



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