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Ein attraktiver Markt

Iran und die Zukunft: Westliche Sanktionen haben die Wirtschaft des Landes schwer gezeichnet. Nun wittern ausländische Firmen das große Geschäft

Von Raoul Rigault *

Der Weltwirtschaft fehlt es an »Performance«, jammern Analysten, Banker und Politiker. Mit anderen Worten, sie läuft mehr schlecht als recht. Da kommt ein zahlungskräftiger Kunde mit großem Nachholbedarf sehr gelegen. Genau das könnte der Iran sein, wenn nach einem endgültigen Abkommen über sein Atomprogramm im Sommer die seit 2011 geltenden Sanktionen aufgehoben werden. Seit sich vor einigen Monaten ein Durchbruch bei den Verhandlungen abzuzeichnen begann, häuften sich die Anfragen potentieller Lieferanten und Investoren. »Viele Ausländer haben mich kontaktiert«, berichtet der stellvertretende Industrieminister Mehdi Karbasian iranischen Medien zufolge. Die Interessenten kamen zum Großteil aus Frankreich, Deutschland, Belgien, Großbritannien, Australien und Kanada.

Riesiger Bedarf

Das mögliche Geschäftsvolumen schätzen Experten kurzfristig auf einen zweistelligen Milliarden-Dollar-Betrag. Allein der Handel mit der EU könnte sich bis 2018 vervierfachen, denn die Iraner brauchen nach jahrelangem Embargo einfach alles. Ganz oben auf der Liste stehen Kraftwerke und Raffinerien. Auch die zivile Luftfahrt hat erheblichen Investitionsbedarf. Einem Regierungsvertreter zufolge benötigt die Islamische Republik bis 2025 ungefähr 400 neue Flugzeuge. Durch den Mangel an Ersatzteilen befindet sich die vorhandene Flotte in einem miserablen Zustand, was in den letzten Jahren zu diversen Abstürzen mit einer hohen Zahl an Todesopfern führte. Trotz der feindseligen Politik der letzten Jahrzehnte sind US- und EU-Firmen ein begehrter Partner, um die Abhängigkeit von China zu reduzieren. Die von dort importierten Waren seien oft minderwertig, Versprechen würden gebrochen und es mangele den Lieferfirmen schlicht an westlicher Technologie, beklagen Teheraner Offizielle.

Geld dürfte kein Problem sein. Es steht zu erwarten, dass die tägliche Erdölförderung (die sich seit 2011 aufgrund der Sanktionen halbiert hatte) nach einer Normalisierung wieder steigt und die Staatseinnahmen entsprechend zulegen. Auch wäre das Land dann international wieder kreditfähig. Die Staatsverschuldung ist ohnehin extrem gering und liegt unter fünf Prozent der Wirtschaftsleistung. Vor allem aber verfügt das 78-Millionen-Einwohner-Land über Währungsreserven im Volumen von 110 Milliarden US-Dollar.

»Big Brother« egoistisch

Gebremst wird die Euphorie von EU-Unternehmen dadurch, dass die USA die Daumenschrauben angezogen halten. Auf Basis des »Patriot Act« hat Washington den Iran vor einigen Jahren kurzerhand zum Geldwäschestaat erklärt. Französische Geschäftsleute, die 2014 von einer Sondierungstour aus Teheran zurückkehrten, wurden laut dem Londoner Economist von der Pariser US-Botschaft gewarnt, sie sollten sich hüten, Vorverträge abzuschließen. Andernfalls würden ihre Konten eingefroren und sie vom US-Markt ausgesperrt. Eine Gruppe von Deutschen erhielt einige Monate später ähnliche Drohungen.

In ihrer Hilflosigkeit beklagen die Betroffenen die mangelnde Fairness des »großen Bruders«. Dessen Konzerne sind – »Patriotismus« hin oder her – intensiv damit beschäftigt, sich über Strohmänner die größten Stücke vom Kuchen zu sichern. Einer dieser Mittelsmänner, der im Öl- und Bankensektor aktiv und häufiger Besucher im iranischen Erdölministerium ist, sagte gegenüber dem Wirtschaftsmagazin: »Wenn es einen Atomdeal gibt, werdet ihr über Nacht feststellen, dass die Amerikaner Ein-Jahres-Optionen für die besten Projekte unterzeichnet haben. Die Europäer werden Schlange stehen, aber am Ende mit Chevron und Exxon Mobile verhandeln, genauso wie es in Libyen der Fall war.«

Auf dieses Hase-und-Igel-Spiel will sich Russland nicht einlassen. Unmittelbar nach der Grundsatzeinigung in Lausanne begann man mit der Lieferung von Getreide und Baumaterial. Außerdem gab Präsident Wladimir Putin die Exporterlaubnis für Flugabwehrraketen des Typs S-300. Teheran hatte 2007 fünf solcher Systeme zum Gesamtpreis von 800 Millionen Dollar bestellt. Im September 2010 wurde das Geschäft Israel und dem Westen zuliebe gestoppt, was dazu führte, dass der Iran die staatliche Rüstungsagentur Rosoboronexport vor einem Genfer Schiedsgericht auf vier Milliarden Dollar Schadenersatz verklagte. Außenminister Sergej Lawrow betonte nun, der Lieferstopp sei nicht länger nötig, da es sich um eine reine Defensivwaffe handele, die nicht unter die UN-Resolution vom Juni 2010 falle. Falls gewünscht, werde man der iranischen Armee, zum Preis von gut einer Milliarde Dollar, gern auch die modernisierte Version S-300 VM verkaufen. Russland sieht hier Potential, hat sich der Handel mit der Islamischen Republik doch seit 2010 binnen vier Jahren von 3,4 Milliarden auf magere 700 Millionen Dollar reduziert.

Bevölkerung hoffnungsvoll

Die iranischen Bevölkerung begleitet die Aufhebung der Sanktionen mit großen Hoffnungen. Die Isolation hatte in vielen Bereichen zu Perspektivlosigkeit und Zukunftsängsten, aber auch zu massiven Alltagssorgen geführt. Einer Umfrage der offiziellen Nachrichtenagentur IRNA zufolge äußerten 82,6 Prozent der Iraner, sie seien »glücklich« und »optimistisch« über die provisorische Einigung. Immerhin hat sich die Haupteinnahmequelle, der Erdölexport, seit 2011 auf 1,1 Millionen Barrel (Fass, je 159 Liter) pro Tag halbiert, und der jüngste Preisverfall ließ die Einkünfte weiter sinken. Der zuständige Ressortchef Bijan Namdar Zanganeh bezeichnete den Zustand der Industrie vor dem Parlament öffentlich als »grauenhaft«. »Dieses Ministerium hat Probleme, seine Angestellten zu bezahlen, von Investitionen ganz zu schweigen.«

Die Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) ging 2012 um 6,6 und 2013 noch einmal um weitere 1,9 Prozent zurück. Das Plus von 1,5 Prozent im vergangenen Jahr ist kaum als Erholung zu bezeichnen. Auch der Wert der Landeswährung schrumpfte drastisch. Entsprach 2011 ein US-Dollar noch 10.618 Rial, so sind es aktuell 33.000 Rial. Zwar wurde die Inflation unter dem neuen Präsidenten Rohani von 34,7 Prozent Ende März 2013 auf 15,8 Prozent Ende Februar 2015 gesenkt, allerdings zum Preis einer rigiden Geldpolitik und dem Abschied von verschiedenen Sozialprogrammen seines linksnationalistischen Amtsvorgängers Mahmud Ahmadinedschad.

Auf der Suche nach alternativen Einnahmequellen hat das Parlament soeben einen Plan gebilligt, der jungen Iranern erlaubt, sich für Summen zwischen 3.600 und 18.000 Dollar vom Wehrdienst freizukaufen. Viele Angehörige der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der unteren Mittelschicht werden dieses Angebot auch deshalb nicht nutzen, weil die offizielle Erwerbslosenrate unter 15- bis 24jährigen derzeit bei gut 25 Prozent liegt. Selbst Güter des Grundbedarfs sind extrem teuer und die Einkommen der Beschäftigten gering. Ein durchschnittlicher Arbeiter der Teheraner Stadtverwaltung kommt, mit massenhaft Überstunden, auf 500 Dollar im Monat. Kaum genug, um die Familie durchzubringen.

Ein enormes Problem für den Neustart bleibt zunächst der Bankensektor. Mit Gesamteinlagen von umgerechnet 482 Milliarden Dollar übertrifft seine Dimension die von Saudi-Arabien, Malaysia und den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammengenommen. Doch er ächzt unter faulen Krediten. Nach Aussagen des ehemaligen Vizegouverneurs und des aktuellen Chefjuristen der Zentralbank, Heydar Mostakhdemin Hosseini und Gholam-Hossein Mohseni-Ejei, beläuft sich deren Umfang auf 72,2 Milliarden, das heißt rund einem Drittel aller verliehenen Gelder. Eine Größenordnung, die an Griechenland erinnert.

Analysten zufolge werden die Behörden Insolvenzen um jeden Preis verhindern. Angesichts der Währungsreserven ist dies bis zu einem bestimmten Punkt wohl möglich. Fürs erste soll eine Beschränkung der Sparzinsen auf maximal 22 statt der aktuellen 27 Prozent die Bilanzen verbessern. Doch auch bei der Sanierung der teils privaten, teils staatlichen Banken setzt man die größten Hoffnungen in ausländische Investoren. Immerhin wäre der Iran seit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre das größte Land, dass sich dem Weltkapital wieder öffnet. Ob dabei mehr als die gehobene Mittelschicht im Teheraner Norden Grund zum Jubeln hat, wird sich zeigen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. April 2015


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