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Iran nach der Wahl: Unruhen, Proteste und Gegenproteste

Erstmals gehen auch die Anhänger Ahmadinedschads auf die Straße - Die Lage ist schwer durchschaubaur, die Zukunft nicht prognostizierbar. Artikel und Kommentare

So glatt, wie das Wahlergebnis vermuten lässt, laufen die politischen Geschäfte im Iran nicht mehr. Der eindeutige Wahlsieg Ahmadinedschads (siehe hierzu: "62,6 Prozent für Ahmadinedschad") hat riesige Menschenmassen in Bewegung gebracht. Die Demonstrationen und Unruhen bleiben nicht einmal mehr auf Teheran beschränkt, sondern breiten sich - wenn man Korresponentenberichten glauben darf - im ganzen Land aus. Ein Ende der Unruhen ist nicht absehbar - ebensowenig ist der Ausgang der innenpolitischen Kämpfe abzusehen.
Trotz dieser Unsicherheiten gibt es zahlreiche Stimmen, die den Iran vor einem grundlegenden Wandel sehen. Rückschläge sind dabei aber nicht ausgeschlossen, zumal die Staatsgewalt im Machtzentrum des amtierenden Präsidenten und der hohen geistigen Führer um den sog. Wächterrat konzentriert ist.
Im Folgenden dokumentieren wir eine Reihe aktueller Artikel und Stellungnahmen. Im Einzelnen:


Ahmadinedschad-Anhänger gehen zum Gegenprotest über

Erstmals seit der Wahl sind die Anhänger von Präsident Mahmud Ahmadinedschad zum öffentlichen Gegenprotest übergegangen. Tausende zogen in einem organisierten Protestmarsch für die Machthaber durch Teheran. Trotz eines Demonstrationsverbots und erster Toter in den Reihen der Anhänger von Oppositionspolitiker Mir-Hossein Mussawi gingen auch dessen Unterstützer wieder massenhaft in der Hauptstadt auf die Straßen.

Ungeachtet mehrerer getöteter Demonstranten protestierten erneut tausende Mussawi-Anhänger und setzten sich damit über einen Appell des Oppositionspolitikers hinweg, nicht genehmigten Demonstrationen fernzubleiben. Eine Reporterin des Satelliten-Kanals PressTv berichtete auf der Website des Senders, dass die Demonstranten Richtung Norden zum Platz Warnak zogen.

Etwa zur gleichen Zeit protestierten tausende Anhänger Ahmadinedschads. Das Staatsfernsehen zeigte Bilder der Demonstranten allerdings nur von weitem. Der Protest wurde von staatlichen Stellen organisiert, die dem geistlichen Führer Ayatollah Ali Chamenei unterstehen. Chamenei unterstützt Ahmadinedschad.

Die iranische Regierung untersagte ausländischen Journalisten mit sofortiger Wirkung, über "nicht genehmigte" Demonstrationen zu berichten. Verboten wurden auch alle Berichte in Bild und Text über Versammlungen, die nicht auf der offiziellen Veranstaltungsliste des Kulturministeriums verzeichnet waren. Die für den Iran beispiellose Anordnung bedeutete, dass ausländische Journalisten im Prinzip nicht mehr außerhalb ihrer Redaktionen arbeiten konnten.

Wie der amtliche Rundfunksender Pajam berichtet, wurden am Vortag (15. Juni) bei den Protesten in Teheran sieben Menschen getötet. Oppositionelle sprachen von weitaus mehr Toten und Verletzten. Berichten zufolge weiteten sich die Proteste von der Hauptstadt auf die Städte Matschhad, Isfahan und Schiras aus.

Der Wächterrat erklärte sich bereit, einen Teil der Stimmen neu auszuzählen. Das für die Organisation der Präsidentschaftswahl zuständige Gremium wolle die Stimmen derjenigen Wahlurnen prüfen, die "Gegenstand von Einwänden" seien, sagte der Sprecher des Rats der amtlichen Nachrichtenagentur Irna. Chamenei hatte eine Prüfung der Ergebnisse auf Forderung Mussawis angeordnet.

Im Ausland wuchs unterdessen die Besorgnis. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) forderte die iranischen Sicherheitskräfte zu einem Ende der Gewalt gegen Demonstranten auf. Die Regierung in Teheran müsse auch Vorwürfe über Manipulationen bei der Präsidentschaftswahl untersuchen.

Quelle: AFP, 16. Juni 2009


Iran lässt Betrugsvorwürfe prüfen

Hunderttausende auf Kundgebung / Augenzeuge: Ein Demonstrant getötet

Angesichts der Massenproteste gegen das offiziell mitgeteilte Ergebnis der Präsidentenwahl in Iran hat der geistliche Führer des Landes, Ayatollah Ali Chamenei, eine Prüfung angeordnet. Bei einer Großkundgebung für den iranischen Präsidentschaftskandidaten Mir Hussein Mussawi in Teheran soll am Montag ein Demonstrant gewaltsam ums Leben gekommen sein.

Teheran (Agenturen/ND). Der Wächterrat sei beauftragt worden, die Betrugsvorwürfe des Unterlegenen Mir Hussein Mussawi »genau« zu prüfen, sagte Chamenei. Ein Sprecher des für die Organisation des Votums zuständigen Wächterrates sagte der Nachrichtenagentur ISNA, das Gremium wolle sich an diesem Dienstag (16. Juni) mit Mussawi treffen, um über dessen Vorwürfe zu beraten.

Auch der bei der Präsidentschaftswahl am Freitag (12. Juni) abgeschlagen auf dem dritten Platz gelandete Kandidat Mohsen Resai solle am Treffen teilnehmen.

In Teheran versammelten sich am Montag (15. Juni) mehrere hunderttausend Anhänger Mussawis. Die Demonstranten protestierten dagegen, dass der bisherige Präsident Mahmud Ahmadinedschad zum Sieger der Wahl erklärt wurde. Die Demonstranten hatten sich trotz eines Verbots in der iranischen Hauptstadt versammelt. Mussawi sprach sich auf dem Meeting für eine Wiederholung des Wahlgangs aus. »Wir sind bereit, wieder an einer Präsidentschaftswahl teilzunehmen«, sagte er.

»Die Wahl des Volkes ist wichtiger als die Person Mussawi oder irgendjemand anders.« Mussawis Ehefrau Sahra Rahnevard sagte der Nachrichtenagentur AFP, sie und ihr Mann würden »bis zum Ende« durchhalten.

Wie ein AFP-Korrespondent berichtete, fielen am Ende der Demonstration Schüsse, auch Tränengas wurde eingesetzt. Den Tod eines Demonstranten meldete ein iranischer Fotograf. Seit Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses kommt es in Teheran zu Protesten.

Die Bundesregierung sei »sehr besorgt« über die Lage in Teheran, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. »Wir verurteilen die Verhaftungswelle, die es gegeben hat.« Die iranische Führung müsse Demonstrationsfreiheit gewährleisten, forderte die Regierungschefin. Zugleich drängte sie auf »Transparenz« bei den Wahlergebnissen.

Auch die Außenminister der Europäischen Union verlangten von Iran Aufklärung über die umstrittenen Wahlergebnisse. Die Chefdiplomaten schlossen sich am Montag in Luxemburg Forderungen von Deutschland, Frankreich und Großbritannien an. In einer gemeinsamen Erklärung brachten die EU-Staaten auch ihre »ernste Sorge über die Gewalt auf den Straßen und die Gewaltausübung gegenüber friedlichen Demonstranten« zum Ausdruck.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sowie seine Kollegen aus Frankreich und Großbritannien, Bernard Kouchner und David Miliband, hatten zuvor eine Untersuchung der Vorwürfe des Wahlbetrugs gefordert. Miliband sprach in Luxemburg von »schwerwiegenden Zweifeln« an der korrekten Auszählung der Wahlergebnisse in Iran. EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner äußerte die Hoffnung, dass Irans Behörden »allen Beschwerden über Unregelmäßigkeiten nachgehen werden«.

Neues Deutschland, 16. Juni 2009


Mäßigung und Protest

Iran: Wahlverlierer Mussawi fordert zu friedlichen Kundgebungen auf. Regierung kündigt an, »samtene Revolution« im Ansatz zu verhindern

Von Jürgen Cain Külbel


Die Anhänger des Verlierers der iranischen Präsidentenwahl, des als »Reformer« angetretenen Politveteranen Mirhossein Mussawi, protestieren weiter. Einem Radiobericht des iranischen Staatssenders Pajam zufolge hat es am Montag in Teheran erste Todesopfer gegeben: »Mehrere Rowdys wollten einen Militärposten angreifen in der Absicht, Waffen zu erbeuten. Dabei wurde öffentliches Eigentum in der Nähe des Azadi Square zerstört. Leider sind sieben Menschen getötet und mehrere andere verletzt worden«, hieß es.

Nach der Großkundgebung am Aza­di Square, bei der Zehntausende, so der Nachrichtensender Al-Dschasira, für den unterlegenen Mussawi friedlich demonstriert hatten, versuchte eine Gruppe, den Posten der mit Irans Revolutionsgarden kooperierenden Freiwilligenmiliz Basij in Brand zu setzen und zu erstürmen. Daraufhin schossen die Milizionäre auf die Provokateure. Mussawi forderte am Dienstag seine Unterstützer, die in den vergangenen Tagen Unmengen Mülltonnen, Reifen sowie Autos und Motorräder angezündet hatten, zur Mäßigung, aber auch zu weiteren Protestkundgebungen auf.

Parallel zu den gewaltsamen Vorkommnissen hatten sich Tausende Anhänger von Präsident Mahmud Ahmadinedschad vor den Toren der britischen und der französischen Botschaft in Teheran versammelt; dort schwenkten sie iranische Flaggen und skandierten antiamerikanische und antibritische Slogans. Demonstranten, die sich eine Einmischung der »westlichen Demokratien« in die inneren Angelegenheiten des Iran, auch in die jüngsten Präsidentschaftswahlen, verbaten, trugen Schilder mit der Aufschrift »Nieder mit den USA, UK und Frankreich«. »Wir haben uns hier versammelt, um gegen die verdeckte Agenda (der Briten und der Welt), die darauf abzielt, Chaos in unserem Lande anzurichten, zu protestieren«, erklärte ein Teilnehmer dem Sender Al-Dschasira in Reaktion auf die Provokation des britischen Außenministers David Miliband, die iranische Regierung setze »Staatsgewalt gegen die eigenen Leute in Teheran und anderswo« ein. Ein Iraner, der vor der französischen Vertretung protestierte, forderte »alle unterdrückenden Regierungen (in den USA und der EU) auf, sich nicht in die Zukunft unseres Landes einzumischen. Wir werden uns ihnen mit all unserer Kraft in den Weg stellen«. Auch Ali Laridschani, Sprecher des iranischen Parlaments, ermahnte am Dienstag »die USA und einige europäische Länder, ihre eigenen Probleme im Auge zu behalten. Es besteht keine Notwendigkeit für die Amerikaner, sich über den Iran und seine Wahlen Sorgen zu machen«. Den Europäern, auch den Deutschen, empfahl er, »da sie sehr vorschnell« auf die Wahlen reagiert hätten, »sich nicht durch Einmischung in diese Angelegenheit zu blamieren«. Der geistliche Führer des Landes, Ajatollah Ali Khamenei, hatte am Montag eine Prüfung des Wahlergebnisses angeordnet, nachdem eine Zweidrittelmehrheit für Präsident Ahmadinedschad gestimmt hatte. Nunmehr werde der Wächterrat die Betrugsvorwürfe des Zweitplazierten Mussawi »genau« prüfen, so Khamenei.

Es ist kein Geheimnis, daß der ehemalige US-Präsident George Bush, der Teheran auf die »Achse des Bösen« hievte, bereits 2002 vom Kongreß 20 Millionen Dollar für das »Vorantreiben von Demokratie in Iran« lockermachen ließ. 2006 schob die Administration weitere 75 Millionen Dollar nach. Ein Teil ging an »Vertraute« im Iran und diverse Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen. Nicht bekannt ist, ob Geldspritzen an Mussawi und seine Berater in London und Paris geflossen sind. Zumindest ist Mussawi seit Mitte der 80er Jahre gut Freund mit dem radikalen US-Neokonservativen Michael Ledeen. 2001 hatte Ledeen die »Koalition für Demokratie im Iran« (CDI) gegründet, um mit Ex-CIA-Direktor Woolsey auf einen »Regimewechsel« in Teheran hinzuarbeiten. Mussawi und Ledeen kennen sich seit der Iran-Contra-Affäre; beider Freund ist der frühere iranische Waffenhändler Manuchehr Ghorbanifar, Schlüsselfigur jener Affäre sowie Agent diverser Geheimdienste.

Jedenfalls warnten die iranischen Autoritäten unmittelbar nach der vereitelten Stürmung des Militärpostens der Basij, sie würden ab sofort jede »samtene Revolution« im Ansatz verhindern.

Aus: junge Welt, 17. Juni 2009


Kulturkampf auf Persisch

VON KARL GROBE

Der Zug von Millionen, der Teherans Innenstadt beherrschte, war nicht der im alten Kampflied besungene proletarische Aufstand. Organisierte Träger einer solchen Bewegung sind, wenn überhaupt im Iran von heute vorstellbar, eine winzige Minderheit.

Es war auch nicht einfach ein Marsch für einen Kandidaten, dem das Regime einen Wahlsieg gestohlen hat. Die Demonstranten als Mussawi-Anhänger zu klassifizieren, wird ihnen nicht gerecht.

Mir Hussein Mussawi ist eine Generation älter als das Gros der Demonstranten, doch diese wissen noch, dass Mussawi, als er acht Jahre lang die Regierung führte, ein harter Hund war, dem Obersten Rechtsgelehrten - damals noch Khomeiny - treu ergeben. Er ist Symbol für etwas anderes, Katalysator für eine Bewegung, die aus den Fesseln des Mullah-Systems ausbrechen will.

Die Herren des Systems - der Diktatur von Mullahs, die sich zu diesem Zweck des schiitischen Islam bedienen - haben dies wohl unterschätzt; wirklich oppositionelle Kandidaten haben sie ohnehin nie zugelassen. Schein-Reformer hätte einer wie Mussawi sein dürfen - als Bewerber um ein Amt im Staat, das ihm in Tat und Wahrheit verwehrt war. Allein dass er ernsthaft antrat, löste aber dem Volk die Zunge und setzte eine Bewegung in Gang, die sich nicht mehr in den Dienst rivalisierender Fraktionen unter der hohen Geistlichkeit nehmen lässt.

Die Auseinandersetzung zwischen - um Namen zu nennen - dem gegenwärtigen Obersten Rechtsgelehrten Chamenei und dem gerade noch aktuellen Präsidenten Ahmadinedschad gegen den kleptokratischen Ex-Präsidenten Rafsandschani, gegen den gemäßigt anders denkenden Rat der militanten Kleriker - sie ist allenfalls ein Widerschein der Spaltungen innerhalb der Machtelite. Selbst wenn es Rafsandschani gelingen sollte, den von ihm geleiteten Expertenrat zu einem Votum gegen Chamenei zu bewegen und damit die oberste Spitze der Macht neu zu besetzen, wäre das immer noch Machtkampf innerhalb des Systems.

Doch der interessiert die Bewegung nicht mehr an erster Stelle. Weil sie viele Ziele in sich vereinigt, weiß sie noch nicht, was ihr allgemeines Ziel ist. Die Bewegung ist spontan, einig in der Ablehnung der Herrschaftsordnung, aber vielgestaltig; sie ist auch sozialer Protest, hauptsächlich aber Kulturrevolution im weitesten Sinn. Sie strebt nach Freiheit der Literatur und der Lieder, sie will Frieden und gleiches Recht für Frauen, sie will die Musik, den Film und das Fernsehen auch aus dem kapitalistischen Westen rezipieren dürfen; aber sie will nicht dem Westen ähnlich werden wie ein Klon. Sie ist islamisch; den dogmatischen Islam der Mächtigen unter den Ayatollahs lehnt sie ab, ja sie verabscheut ihn.

Das passt nicht unter ein zentrales Kommando, und das kann nicht auf pauschale Rezepte warten, auch nicht von fremden Mächten. Doch die spontane Vielfalt des Protestes ist nicht nur Stärke; sie macht auch die Schwäche der Bewegung aus. Die scheinbare Konzession der Macht, binnen zehn Tagen noch einmal nachzählen zu lassen, ist nicht nur aus Angst und Schrecken geboren. Sie ist auch Kalkül: In zehn Tagen kann der Protest sehr wohl zerfasern.

Dass er jetzt nicht siegt, dafür verbürgen sich die bewaffneten Kräfte. Revolutionsgarden - die Elitetruppe - und die ihnen untergebenen Bassidsch haben die Instrumente schon gezeigt. Auch da verbietet es sich, nur auf die Konfrontation auf Teherans Plätzen zu schauen.

Die Bassidsch haben nicht nur dem Namen nach ihre Basis unter den Mostazafin, den Unterdrückten, in den Slums und armen Vorstädten. Sie sind dort über die Reichweite ihrer Schießeisen hinaus verankert, sie sind nicht nur gefürchtete Kettenhunde, sondern auch sozusagen wohltätige Bernhardiner, welche die Dürstenden tränken und die Hungernden speisen.

Das ist unter anderem Ahmadinedschads Hausmacht, und die ist nicht nur städtisch. Ihr Netz reicht landesweit von Moschee zu Moschee. Solange die jungen Bassidsch nicht am Sinn ihrer Aktionen zweifeln, sind sie die militärisch organisierte Stütze des Systems, neben der regulären Armee. Geht es Spitz auf Knopf, so entsteht daraus eine Militärdiktatur eigener Art.

Das alles kann uns nicht kalt lassen, die "innere Angelegenheit" geht uns an. Iran ist Erdöl- und Erdgasmacht, regionale Hegemonialmacht und insofern möglicher Partner für eine vernünftige Friedens- und Ordnungspolitik in Irak, Afghanistan und auch in Zentralasien. An der näheren Zukunft des Iran hängt letztlich die weitere Zukunft des westlichen Asien - und Europas.

Aus: Frankfurter Rundschau-online, 16. Juni 2009; www.fr-online.de


Der iranische Oppositionsführer ist geschickt: Er vermeidet den direkten Konflikt auf der Straße

Von Martin Gehlen

Erfolg macht übermütig, nicht so bei Mir-Hossein Mussawi. Der Mann hat schon ganz andere Schlachten geschlagen – und zeigt auch jetzt eiserne Nerven. Die erste Montagsdemonstration in Teheran ist gelaufen. Bis zur Annullierung der manipulierten Präsidentenwahl jedoch ist noch ein langer Weg. Denn die Hardliner lernen dazu. Am Dienstag schickten sie ihre Gegendemonstranten genau zu dem Platz, wo das Mussawi-Lager seine zweites Megatreffen abhalten wollte. Es braucht nicht viel Fantasie, sich dieses Szenario vorzustellen: Träfen die beiden politischen Heerscharen direkt aufeinander, wären schwere Krawalle mit zahlreichen Toten die wahrscheinliche Folge. Gewalt aber würde die Legitimität der protestierenden Opposition zerstören. Mussawi hat kein Hauptquartier mehr und keine eigene Zeitung. Trotzdem kann er dank Internet von seiner Wohnung aus mit der Millionenschar seiner Anhänger kommunizieren. In Minutentakt verbreiten sich seine elektronischen Botschaften durch den Cyberspace. Und die jüngste hieß: Riskiert nicht euer Leben, bleibt zu Hause und tappt nicht in die Falle organisierter Straßenschlachten. Viele seiner Anhänger zogen trotzdem los – zu einer anderen Stelle in der Stadt.

Der Tagesspiegel, 16. Juni 2009


"Er hat alle seine Reserven mobilisieren können"

Mit Walter Posch* sprach Gudrun Harrer.

* Der Iranist und Turkologe Walter Posch arbeitet am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) der Landesverteidigungsakademie in Wien.

STANDARD: Wie kommentieren Sie das Wahlergebnis?

Posch: Die Faustregel lautet, dass das Regime im Endeffekt gerade fünf Millionen Stimmen manipulieren kann. Wenn man aber dazunimmt, dass Ahmadi-Nejad in den letzten Jahren alle unabhängigen und mächtigen Personen aus dem Geheimdienstbereich entfernt und an ihrer Stelle Vertrauensleute eingesetzt hat, die im Innenministerium auch für die Wahlen verantwortlich sind, dann sind das schon Indizien, dass es zu großen Unregelmäßigkeiten gekommen sein kann.

Allerdings hat Ahmadi-Nejad alle seine Reserven mobilisieren können, alle Leute, die irgendwie politisch in seiner Richtung sind oder, sogar wenn sie ihn abgelehnt hätten, doch eher ihn als einen Reformkandidaten wählen konnten. Und er hatte eindeutig die indirekte Unterstützung, vielleicht sogar mehr, vom Revolutionsführer. Bereits vor der Wahl war es klar, dass Khamenei über einen Sieg Ahmadi-Nejads glücklich wäre.

STANDARD: Welche Kräfte haben genau mit Ahmadi-Nejad gewonnen?

Posch: Ahmadi-Nejads Sieg ist keiner der Konservativen, sondern eine weitere Transformation der politischen Antireform-Rechten. Diese Leute kommen aus einer Minderheitenposition, sie waren im iranischen Gefüge immer vorhanden, aber wurden als unbedeutend ignoriert. Es handelt sich um jene radikalen Gruppen, die in den 1990er-Jahren auch mit Gewalt bereit waren, den Reformprozess zu stoppen.

STANDARD: Und warum sind sie jetzt so stark geworden?

Posch: Zum ersten gelang es offensichtlich Ahmadi-Nejad, diese zerstrittenen Gruppen zu vereinen. Zum zweiten hat er am meisten von der neuen ideologischen Formierung des rechten Lagers profitiert, nach radikalen und neofundamentalistischen Mustern.

Ahmadi-Nejad war ein Mann der zweiten Reihe, so wie sein gesamtes Umfeld, aber diese Leute haben besser als alle anderen die Gunst der Stunde erkannt und durch Ausbooten der eigenen internen Opposition das politische rechte Feld unter ihrem eigenen Banner vereinigen können.

Der Unterschied zwischen diesen Leuten und den anderen fundamentalistischen und konservativen Gruppen ist der, dass in ihrem Denken die Reformbewegung schon längst Khomeinis Ideale verraten hat und daher keinen Platz im politischen System der Islamischen Republik haben darf.

STANDARD: Was wird das reformorientierte Lager jetzt tun?

Posch: Es hatte ja Entgegenkommen den Wünschen und Vorstellungen des Revolutionsführers gezeigt, indem es einen Kompromisskandidaten, der eigentlich eine radikale Vergangenheit hat, eben Mir-Hossein Mussavi, aufgestellt hat. Das war ein eindeutiges Entgegenkommen dem neuen Trend der Re-Ideologisierung des Regimes gegenüber. Das hat auch ermöglicht, dass die Reformisten ihre Kräfte bündeln konnten.

Sie sind jetzt in der Zwickmühle. Stellen sie sich offen gegen das Wahlergebnis, dann stellen sie sich auch offen gegen die Erkenntnis des Revolutionsführers, der gesagt hat, dass das Wahlergebnis rechtens sei. Akzeptieren sie es, geben sie mehr oder weniger kampflos auf. Und in beiden Fällen geht der Revolutionsführer und die Kreise um ihn herum davon aus, dass die Reformisten nichts anderes zu tun haben, als ihre Niederlage zu schlucken und keine weiteren Probleme mehr zu machen.

Und wenn man dann hört, dass Ahmadi-Nejad davon spricht, dass jetzt eine neue Ära beginnt, dann heißt das doch, dass es schon längst einen Plan gibt, eine Übereinkunft verschiedener mächtiger neofundamentalistischer Kreise, wer den Iran zu den revolutionären Idealen zurückführen soll. Es fällt auch auf, dass viele Argumente der Reformisten, nämlich dass das Volk ja Reformen will, von den Neofundamentalisten jetzt in ähnlicher Form übernommen worden sind.

Aus: Der Standard (Wien), 14. Juni 2009 (Auszug)


USA reagieren zurückhaltend auf umstrittene Iran-Wahl

Von Dmitri Babitsch, RIA Novosti

Die Überraschung bei der Präsidentenwahl in Iran war nicht der umstrittene Sieg von Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad mit 63 Prozent der Stimmen.

Noch überraschender war die Reaktion der USA auf die Wahlen und die nachfolgenden Proteste der Verlierer. Außenministerin Hillary Clinton hat nicht etwa Drohungen ausgestoßen und zu weiteren Protesten aufgefordert. Nein, sie "brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Wahlergebnisse den Willen und die Wünsche des iranischen Volks widerspiegeln".

Die Botschaft Washingtons ist: In Iran (vielleicht auch in anderen Ländern) verzichtet die Obama-Administration auf die bunten Revolutionen und bevorzugt Stabilität und Dialog statt Druck und Einmischung. In der Tat, allen Anzeichen nach wäre es in Iran beinahe zu dem gekommen, was Bush sen. und Bush jun. sowie Bill Clinton so lange anstrebten.

Die über den Wahlausgang unzufriedenen Anhänger des oppositionellen Kandidaten Mir Hussein Mussawi mit etwa 34 Prozent der Stimmen sprachen von Wahlbetrug und gingen auf die Straße. Es kam zu den laut Augenzeugen größten Unruhen seit der islamischen Revolution von 1979.

Präsident George W. Bush hätte in dieser Situation schon längst ideologisches Geschütz in Stellung gebracht. Zuerst hätte das US-Außenministerium, dann Freedom House die Wahlen als lächerlich abgetan, dann hätten Studenten mit gedruckten Plakaten auf teurem Papier und nagelneuen Zelten das Zentrum von Teheran blockiert. Bei Schüssen hätte auch der Vorwand für eine militärische Einmischung vorgelegen.

Aber nichts davon ist zu sehen. Offenbar will der neue US-Präsident Obama sich von seinem Vorgänger abgrenzen. Seine jüngste Einladung an Iran zu einem Dialog ist demnach kein Scherz und kein Propagandatrick.

Völlig offensichtlich ist, dass nach all den bekannten Ereignissen dieser Dialog schwierig ausfallen wird. In der iranischen Elite hat die durch Ahmadinedschad vertretene konservative Gruppierung gesiegt, die sich auf die Landbevölkerung und die traditionelle Geistlichkeit stützt.

Den um den oppositionellen Kandidaten Mussawi gruppierten Reformern sind die Flügel ganz schön gestutzt worden. Der Einfluss der ehemaligen Präsidenten Ali Haschemi Rafsandschani und Mohammad Chatami, die Mussawi unterstützten, wird abnehmen. Darüber hinaus entgleitet den Reformern ihre wichtigste Kraft: die Fähigkeit, die nach Wandel lechzende Stadtbevölkerung zu mobilisieren. Die verärgerten Stadteinwohner könnten nach der für sie enttäuschenden Wahl sie das nächste Mal einfach schwänzen.

Falls die iranisch-amerikanischen Verhandlungen einmal stattfinden sollten, wird Obama es mit einem resoluten Gegenüber zu tun haben. Wahrscheinlich wird es derselbe Ahmadinedschad als Stellvertreter der konservativen Elite sein, die laut der "New York Times" nach all den Geschehnissen "einheitlich wie niemals zuvor" sei und ihren Einfluss ausbauen werde.

Weder für die USA, noch für Iran, noch für die übrige Welt, einschließlich Russlands, wäre das sicherlich die beste Variante. Aber ein zweifellos noch schlimmerer Ausgang wäre der Versuch einer bunten Revolution in Iran mit nachfolgender Destabilisierung eines Staates, der an der Schwelle zu Atomwaffen steht.

Es ist sehr gut, dass Obama bereit ist, auf das Know-how von Bush jun., der anderen Staaten Lektionen in Sachen Demokratie erteilen wollte, zu verzichten.

Etwas anderes ist, dass der Vertrauensschwund gegenüber der Demokratie in Iran selbst langfristige Risiken in sich birgt. Entgegen der verbreiteten Meinung ist Iran keine Despotie in Asien. Im politischen System dieses Landes werden auch alternative Wahlen nach westlichem Modell angewandt - unter der Bedingung, dass sich der Sieger dieser Wahlen nicht an der islamischen Ausrichtung des Staates vergreift.

Die obersten Geistlichen, die auf dieses Staatsprinzip aufpassen, spielen in etwa die gleiche Rolle wie das viel zitierte Establishment im Westen: Sie stabilisieren den politischen Prozess und lassen ihn nicht über den erlaubten Rahmen hinausgehen. Doch die Erfahrung zeigt: Sobald das Establishment sich das politische System völlig unterordnet, führt das zum Verlust der Beziehungen zu den Wählern und letztendlich zur sozialen Explosion.

Im Prinzip haben die USA in Iran viele Anhänger unter den einfachen Bürgern. Wäre nicht die Politik von Clinton und Bush jun. gewesen, so wäre eine "samtene Revolution" möglicherweise ohne viel Lärm und recht schmerzlos über die Bühne gegangen - die Voraussetzungen dafür versuchte bereits Ende der 90er Jahre der ehemalige Präsident Chatami zu schaffen.

Aber durch ihre langjährige Blockade haben die USA die einfachen Iraner wütend gemacht. Außerdem haben sie durch ihre Invasionen in Irak und Afghanistan ungewollt den iranischen Staat gestärkt, der kein so mächtiges Gegengewicht wie das Regime von Saddam Hussein hatte.

Bedenkt man, dass die USA in den letzten 15 Jahren die Beziehungen auch zu Russland - dem besten Vermittler für Kontakte mit Teheran - verschlechtert haben, ergibt das ein ganz trauriges Bild.

Allerdings wurde es nicht von Obama gemalt.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 16. Juni 2009



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