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Auslandskorrespondent und Nahost-Experte Tilgner: Iran-Sanktionen schaden der Zivilgesellschaft

Auszüge aus einem Interview von der Internetseite "irananders.de"


Der Auslandskorrespondent Ulrich Tilgner studierte Empirische Kulturwissenschaft, Politische Wissenschaft und Wirtschaftsgeschichte in Freiburg im Breisgau und Tübingen. Er war Augenzeuge der Islamischen Revolution in Iran, dem 1. und 2. Golfkrieg und dem Irak-Krieg 2003. Insgesamt berichtet Tilgner 25 Jahre aus dem Nahen Osten, davon 15 Jahre aus Iran. Von 2002 bis 2008 leitete er das ZDF-Büro in Teheran und 2003 erhielt er den Hans-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus. Seit Februar 2009 berichtet Tilgner für das Schweizer Fernsehen (SF1) aus Iran.

Das folgende Interview, das wir in großen Teilen dokumentieren, ist zuetrst auf der Internetseite "irananders.de" erschienen.


Irananders: Herr Tilgner, Sie berichten schon insgesamt 15 Jahre aus Iran. Wie wichtig ist die Berichterstattung aus Iran für den Gesamteindruck über die Region?

Ulrich Tilgner: Ich bin der Meinung, dass Iran eine zentrale Rolle im Mittleren Osten einnimmt. Insbesondere weil man von dort aus eine bestimmte Optik auf Afghanistan und Irak hat. Diese Optik ergänzt die westliche Optik. Es lenkt nicht von der Wahrheit ab, sondern durch Zusatzinformationen ergänzt es diese. Dadurch merkt man erst, dass die gängige Sicht nicht immer die ist, die man haben sollte, sondern, dass es noch andere Auffassungen gibt, unabhängig davon ob man sie teilt oder nicht.

Irananders: Nach den Präsidentschaftswahlen 2009 wurde viel aus Iran berichtet. Nun waren Sie in der Zeit für das Schweizer Fernsehen tätig. In Deutschland war es nun so, dass man den Eindruck gewann, dass die Mehrheit ihrer deutschen Kollegen aktiv für die „Grüne Bewegung“ Partei ergriffen hat, quasi von ihrer Welle mitgenommen worden sind. Dabei gab es auch Ausnahmen wie Herrn Peter Metzger von der ARD, der interessanterweise wiederum von der iranischen Auslandsopposition und ihren Sympathisanten für seine angebliche Parteiergreifung für das Regime angegriffen wurde.

Ulrich Tilgner: Das Interessante ist gewesen - und das merkt man immer in solchen Situationen, weil man nicht nur auf der einen Seite die Nähe zu der Oppositionsbewegung hat, sondern weil sie auch in Teheran dominant ist -, dass man ein Stückchen mitgerissen wird, aber gleichzeitig muss man aufpassen, wenn man merkt, dass diese Bewegung instrumentalisiert wird, um damit andere Interessen durchzusetzen. Und das ist ja ganz oft in Iran so, wenn sich Oppositionelle regen.

Irananders: Können Sie ein Beispiel nennen?

Ulrich Tilgner: Also wie bei der Frage der Steinigung von der Frau Sakineh Ashtiani. Einerseits ist Steinigung furchtbar und nicht akzeptabel, andererseits ging es jedoch nicht nur um die Steinigung, sondern diese Sache bekam Kampagnencharakter. Ich habe jetzt für das Schweizer Fernsehen über eine Steinigung, die in Afghanistan geplant ist, berichtet und da darüber redet niemand in den westlichen Medien. In Afghanistan werden Frauen gesteinigt, weil 90 Prozent der Urteile von dörflichen Gerichten gefällt werden. Und wenn in Iran irgendwo ein Urteil gefällt wird, wo ja auch ein radikaler Richter in der Provinz nicht ultra konservativen Rechtsgelehrten in Teheran eins auswischen möchte, da wird sofort gesagt, das ist die Islamische Republik. In Afghanistan redet man aber erst einmal gar nicht darüber, weil es nicht ins Bild passt und in Iran wird der konkrete Kontext nicht richtig dargestellt.

Irananders: Sie sind schon 25 Jahre lang in der Region präsent, haben Erfahrungen bei verschiedenen Rundfunkanstalten und Medien gesammelt. Wie schätzen Sie die Berichterstattung über Iran ein, welche Stärken und Schwächen gibt es denn?

Ulrich Tilgner: Also ich kenne die Berichterstattung nicht im Einzelnen, weil ich da zu wenig die Medien hier in Deutschland lese. Aber was ich an den Reaktionen der Leuten und Freunden und Bekannten in Deutschland merke, ist eine völlige Uninformiertheit über bestimmte Entwicklungen und Auseinandersetzungen, z. B. dass Leute aus meiner Familie sagen, die Iraner bauen die Bombe. Ich sage dann, woher wisst ihr das? Und dann wissen die Leute es gar nicht, sondern sie sagen es erst einmal. Das sind für mich Zeichen dafür, dass sie auch etwas wiederholen, was im Mainstream der Berichterstattung das Bild eines Landes prägt. In Iran fing das schon früh zur Beginn der Revolution an. Es gab bestimmte Stereotypen, z. B. dass man sagte, dass die ganze islamische Bewegung vorher nicht existierte. Die gab es aber natürlich vorher. Die islamische Bewegung in Iran gab es schon Jahrzehnte vor dem Sturz des Schahs. Unabhängig davon, ob man das gut findet oder nicht, die islamische Bewegung in Iran hatte eine führende Stellung und sie war nicht das Ergebnis, weil der US-Stratege Henry Kissinger das gerade wollte oder weil die westlichen Medien Ayatollah Khomeini groß geredet haben, sondern es entsprach dem Zeitgeist und hatte seine Wurzeln in der iranischen und der regionalen Geschichte. Die Linken und die Nationalisten haben sich in Iran nicht durchgesetzt und als dritte große politische Strömung gab es die islamische Bewegung und die war die entscheidende Kraft beim Sturz des Schahs. Das war sozusagen Ausdruck des Zeitgeistes. Deswegen waren auch 95 Prozent der Bevölkerung für eine Islamische Republik und nicht für eine Demokratische Islamische Republik (Anm. der Red.: Vor dem Referendum gab es innerhalb der politischen Lager Meinungsverschiedenheiten über die künftige Ausrichtung der zukünftigen Republik. Die nicht-klerikalen Kräfte waren für die Herrschaftsform der Demokratischen Islamischen Republik und das islamisch-klerikale Lager um Revolutionsführer Ayatollah Khomeini war für die Islamische Republik.)

(...)

Irananders: Wie hoch schätzen Sie den Einfluss der Auslandsopposition bei der Bevölkerung in Iran?

Ulrich Tilgner: Ich glaube, dass es da ganz unterschiedliche Aspekte gibt. Die Oppositionsgruppen im Ausland haben keinen großen Einfluss und die radikalen und militanten Gruppen erst Recht nicht. Aber der Einfluss durch die zahlreichen persischsprachigen TV-Stationen, die vom Ausland senden, ist größer, als man so allgemein denkt. Der Einfluss schwankt jedoch und geht so hin und her. Gerade aber in Zeiten von Demonstrationen steht die iranische Bevölkerung unter einem bestimmten medialen Einfluss, jedoch nicht unter dem Einfluss einer bestimmten Oppositionsgruppe.

Irananders: Ist dieser Einfluss größer als durch Internet, Facebook und Twitter?

Ulrich Tilgner: Das kann ich nicht pauschal beurteilen. Das kommt auf die Situation an. Nach den Präsidentschaftswahlen 2009 beispielsweise, wo das Internet funktionierte, hat Youtube sicherlich einen großen Einfluss gehabt. Ich glaube mich zu erinnern, dass die Unruhen in Teheran schon fast vorbei waren als das Internet abgestellt wurde. In den vergangenen 18 Monaten ist es oft so gewesen, dass die Leute sich zu Hause angeschaut haben, was auf der Straße passiert ist, anstatt selbst auf die Straße zu gehen. Ich war verwundert, dass das Internet zwar nicht so schnell wie üblich, aber dennoch noch zugänglich war. Von daher glaube ich, dass die Verantwortlichen, die das Internet beeinflussen, davon ausgehen, dass das Internet nicht nur mobilisierend, sondern auch demobilisierend wirkt. Wenn das Internet abgestellt wäre, wären möglicherweise wieder mehr Oppositionelle auf der Straße.

Irananders: Ist denn eine Reform von Innen heraus möglich?

Ulrich Tilgner: Das kann ich so nicht beurteilen. Ich glaube, es gibt Situationen, in denen ich sagen würde, dass das nicht möglich ist, und es gibt viele Situationen, in denen die Möglichkeit durchaus besteht. Jetzt würde ich sagen, dass für eine wirkliche Reformbewegung die Türen weitgehend verschlossen sind. Aber das kann bei den Wahlen im kommenden Frühjahr völlig anders sein. Also es kommt darauf an, welche Kandidaten aufgestellt werden und ob die Kandidaten mit Reformabsichten gewählt werden. Denn die Wahlen in Iran - das sollte man auch wissen - hatten eine Beteiligung von 18 bis 80 Prozent. Also wenn interessante Kandidaten da sind, wird sicher viel gewählt werden und dann haben automatisch Oppositionelle eine Chance. Das sind keine Fundamentaloppositionelle, aber Leute, die eine Reformpolitik wollen. Die könnten eine Dynamik auslösen, von der man gar nicht weiß, wo sie letztendlich endet.

Irananders: Wie kann der Westen diese Reformbestrebungen unterstützen? Wären Sanktionen ein geeignetes Mittel?

Ulrich Tilgner: Ich glaube nicht, dass Sanktionen zu einer Stärkung der Reformisten führen. Entweder man verhängt Sanktionen mit dem Ziel, ein politisches Regime zu stürzen, dann müssen sie so sein, dass sie wirklich treffen. Oder man praktiziert Sanktionen, wie sie jetzt laufen, um das Land in seiner Entwicklung zu behindern. Sie sind nicht stark genug, um die Veränderung politischer Verhältnisse zu erzwingen. Sie sind auch nicht stark genug, um ein politisches Einlenken der herrschenden politischen Elite zu erzwingen. Aber sie sind stark genug, um die gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Entwicklung schwer zu behindern. Und genau das passiert heute in Iran. Man sieht das zwar nicht im Alltag, weil immerhin der Ölpreis sehr hoch ist und dadurch Iran relativ hohe Deviseneinnahmen hat. Aber nur wegen der Höhe des Ölpreises können die wirklich katastrophalen Auswirkungen der Sanktionen abgefedert werden, zum Beispiel die in der Ölindustrie selbst, die nicht mehr entwickelt werden darf, was aber im Prinzip mit einem Atomprogramm gar nichts zu tun hat. Das sind Sanktionen, die darauf hinauslaufen können ein Regime zu schwächen, um es irgendwann stürzen zu können. Gleichzeitig höhlen die Sanktionen aber die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Irans aus. Die Islamische Republik – mit den weltweit zweitgrößten Gasvorkommen - exportiert bereits heute weniger Gas, als eingeführt wird. In den kommenden Jahren werden die Ölexporte sinken, da eine Modernisierung der iranischen Ölindustrie durch Sanktionen der westlichen Staaten, die weit über die vom Weltsicherheitsrat verabschiedeten hinaus gehen, blockiert wird. Auf lange Sicht soll Iran die Fähigkeit genommen werden, sich gegen einen militärischen Angriff zu verteidigen. Eine unter zwei Aspekten besorgniserregende Perspektive: Zum einen werden mögliche Absichten, eine Atombombe zu bauen, befördert und die Idee genährt, dass der Besitz der Bombe gegen einen von außen erzwungenen Wechsel der politischen Verhältnisse schützen kann. Zum anderen könnten Befürworter eines Krieges gegen Iran, die Schwächung des Landes nutzen, einen Angriff auszuführen, um einen Wechsel der politischen Verhältnisse von außen zu erzwingen. Dabei lässt sich schon heute absehen, dass solch eine Absicht ins Chaos führt, weil die schleichende Zerrüttung von Wirtschaft und Gesellschaft dem Aufbau einer anderen Gesellschaft entgegensteht.

(...)

Irananders: Wie stabil ist das iranische Regime im Vergleich zu den arabischen Nachbarstaaten und Nordafrika?

Ulrich Tilgner: Das ist eine sehr schwierige Frage. Also ich würde sagen, die Islamische Republik befindet sich zur Zeit in der Spitzengruppe der stabilen Länder, weil die wirtschaftliche Lage nicht so schlecht ist wie im Vergleich zu anderen Staaten mit vergleichbarer Bevölkerungsgröße. Die Möglichkeiten, sich im Bereich, Kunst, Kultur und auch Presse zu artikulieren, sind größer als in vielen anderen Staaten. Das wird hier im Westen leider nicht gesehen. Jedenfalls wird mit Sanktionen die Opposition nicht befördert. Sanktionen werden dazu führen, dass sich die Verbitterung gerade den politischen Aktivisten der Islamischen Republik vergrößert, weil sie sagen werden: „Wir können nicht das machen, was wir eigentlich wollen.“ Der Westen wird – und wurde - immer für alles Mögliche verantwortlich gemacht. Auch die katastrophale Situation im Jemen und im Bahrain führt natürlich dazu, dass die Opposition in Iran sagt: „Wenn mit amerikanischer Unterstützung Panzer gegen die Demonstranten geschickt werden und die Amerikaner protestieren nicht, dann können wir uns ja überhaupt nicht darauf verlassen, dass wir, wenn wir hier z. B. einen Aufstand machen, wirklich vom Westen unterstützt werden.“ Die Fragezeichen, die in den Köpfen vieler Kritiker der iranischen Führung existieren, basieren darauf, dass man nicht weiß, ob der Westen tatsächlich eine Änderung der Machtverhältnisse möchte. Und ich glaube, es handelt sich um eine Politik des Zynismus, wenn man Iran in eine Art von Würgegriff nimmt. Denn es bleibt doch unklar, ob die Planer westlicher Politik auf eine Änderung der politischen Verhältnisse abzielen oder nur ein Zu-Kreuze-Kriechen – a la Gaddafi – anstreben. Was ist das wirkliche Ziel, das letzte Ziel westlicher Politik? Ich weiß es nicht.

Irananders: Wünscht man sich in Iran die westliche Einmischung?

Ulrich Tilgner: Es gab Zeiten, da haben sich viele die westliche Einmischung gewünscht, aber ich glaube diese Wünsche sind nach dem, was im Irak seit 2003 passierte, fast völlig verschwunden. 2003 konnte man schon in Irans Taxis Leute hören, die gesagt haben, dass die Amerikaner bis Teheran vorrücken sollten. Aber in dieser Form höre ich das heute nicht mehr. Weil einfach das, was in Afghanistan und was im Irak passiert ist, dazu geführt hat, dass man sagt, Intervention von außen führt nicht zu einer Verbesserung der Situation, sondern zu einer Verschlechterung. Ich persönlich bin auch der Meinung, dass Protestbewegungen eher dort - wie in Ägypten, Tunesien und im Jemen - kommen, wo man von außen keine Veränderungen erwartet.

Irananders: Iran nennt sich Islamische Republik, was kann man darunter verstehen, ist der Iran eine Diktatur oder eine Demokratie?

Ulrich Tilgner: Ich würde sagen, Iran hat diktatorische, autoritäre und demokratische Elemente. Jeder, der versucht, eines dieser Elemente zu absolutieren, wird der gesamten Vielschichtigkeit der Islamischen Republik nicht gerecht. Es gibt Situationen, da sind die demokratischen Momente sehr stark. Zum Beispiel nach Wahlen. Die Auslandsopposition hat immer gesagt, dass die Wahlen eine Farce sind, und auf einmal ist man 2009 in die Konsulate gerannt und hat die Stimme abgegeben. Und es kann sein, dass bei den nächsten Wahlen Kritiker nicht zugelassen werden. Dann würde ich sagen, dass das demokratische Element quasi beendet ist und damit die Möglichkeit von Reformen. Aber entscheidend zum Verständnis der Verhältnisse in Iran scheint mir zu sein, dass diese unterschiedlichen Elemente existieren.

Irananders: Herr Tilgner, wir danken Ihnen für das Gespräch.

* Aus: Iran anders, 12. Juni 2011; http://irananders.de


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