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Am Tag danach

Die USA haben die militärische Konfrontation mit dem Iran verschoben, aber nicht abgesagt

Von Knut Mellenthin *

Die Veröffentlichung des Berichts der US-Geheimdienste über die »atomaren Absichten und Fähigkeiten« Irans am Montag abend (3. Dezember) hat weltweit wie eine Bombe eingeschlagen. Richtiger gesagt: Sie hat eine tickende Zeitbombe zwar nicht entschärft und unschädlich gemacht, aber immerhin fürs erste abgeschaltet.

Die Aufmerksamkeit der Medien hat sich am Dienstag auf die Aussage des National Intelligence Estimate (NIE), der Einschätzung der 16 US-Geheimdienste, konzentriert, daß Iran im Herbst 2003 »sein Atomwaffenprogramm gestoppt« und seither nicht wiederaufgenommen habe. Weniger Beachtung fand die damit unmittelbar verbundene Behauptung, daß Irans Militär bis zum Herbst 2003 »unter Leitung der Regierung« an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet habe. Außerdem heißt es im NIE-Bericht, »daß Teheran sich die Option auf Entwicklung von Atomwaffen zumindest offenhält« und nicht abzusehen sei, wie lange der derzeitige Stopp aufrechterhalten bleibt. Zusammen mit der »Einschätzung«, daß Iran sein Atomwaffenprogramm »hauptsächlich aufgrund des internationalen Drucks« unterbrochen habe, finden die Befürworter von noch schärferen Sanktionen gegen Iran ausreichend Argumente im gemeinsamen Papier der insgesamt 16 US-amerikanischen Geheimdienste.

Die veröffentlichten NIE-Berichte erreichen regelmäßig maximale öffentliche Aufmerksamkeit, obwohl sie absolut keinen Erkenntniswert haben. Das zeigte sich zuletzt im Juli, als die Geheimdienste die Behauptung publizierten, Al-Qaida habe in Nordwestpakistan eine neue Basis aufgebaut. Die NIEs bestehen ausschließlich aus Behauptungen, den sogenannten Key Judgements. Für diese »Einschätzungen« werden keinerlei Fakten, keine Begründungen mitgeliefert. Unterschieden werden die Vermutungen nur nach dem Grad der Sicherheit, mit dem die Dienste angeblich von der Richtigkeit der jeweiligen Annahme ausgehen. Sowohl die Behauptung, daß Iran seit Ende der 80er Jahre an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet habe, als auch die Aussage, daß die Arbeiten vor vier Jahren gestoppt wurden, sind mit dem höchsten Prädikat »high confidence« versehen. Das bedeutet, daß sie angeblich auf »hochwertigen Informationen« beruhen.

Logisch ist es zwar nicht, daß Dienste, die angeblich über qualifizierte Informationen (und Informanten) verfügen, drei bis vier Jahre brauchen, um nachträglich festzustellen, daß im Iran das »Atomwaffenprogramm« gestoppt wurde. Es ist aber zu befürchten, daß NIE trotzdem das auf keinen Indizien aufbauende Vorurteil verstärken kann, daß Iran tatsächlich an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet hat – und die Arbeiten natürlich jederzeit wiederaufnehmen könnte, wenn der Druck von außen nachließe. Insofern ist es vielleicht kein Zufall, daß das NIE nach zehnmonatiger Arbeit am Text genau in dem Moment veröffentlicht wurde, in dem die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zu der Schlußfolgerung kam, daß es keine Anzeichen für ein iranisches Atomwaffenprogramm in der Vergangenheit gibt.

Mit der Aussage, Iran arbeite derzeit nicht weiter an der Entwicklung von Atomwaffen, nimmt das NIE von der US-Regierung den unmittelbaren Zugzwang zu einer Militäraktion in den nächsten Monaten, in den sie sich selbst durch irreale, alarmistische Äußerungen gebracht hatte. Andererseits steht in dem Papier aber auch: »Die iranische Führung zu überzeugen, auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten, wird schwierig sein (...), angesichts der beträchtlichen Bemühungen, seit zumindest den späten 1980ern bis 2003 solche Waffen zu entwickeln.« – Sollte Iran sich für die Wiederaufnahme des »Atomwaffenprogramms« entscheiden, heißt es weiter, würde es vermutlich versteckte, der IAEA unbekannte Anlagen für die Urananreicherung benutzen. Und: »Wir schätzen mit hoher Sicherheit ein, daß Iran die wissenschaftlichen, technischen und industriellen Fähigkeiten zur Produktion von Atomwaffen hat, falls es sich dafür entscheidet.«

* Aus: junge Welt, 6. Dezember 2007

"Freundschaft auf der Kippe"

Kritik aus Israel an Washington wegen NIE-Bericht der US-Geheimdienste

Von Rainer Rupp (Auszüge) *

Die Freundschaft steht auf der Kippe«, titelte die angeblich von ehemaligen Geheimdienstlern betriebene israelische Webseite DEBKA am Dienstag (4. Dez.). Warum? Weil »der Streit über Irans Atomprogramm die israelisch-amerikanischen Beziehungen in eine schwere Krise gestürzt« habe. Die Tatsache, daß im inneramerikanischen Gerangel um das Für und Wider eines Angriffskrieges gegen Iran die kühlen Köpfe in den US-Geheimdiensten und im US-Militär die Oberhand gewonnen haben, macht den Hardlinern in Tel Aviv offensichtlich schwer zu schaffen. Angeblich beschweren sich führende israelische Geheimdienstler, daß »Washington sich geweigert« habe, »die von den israelischen Diensten gesammelten Informationen« in die am Montag veröffentlichte Einschätzung der 16 US-Geheimdienste (NIE) zu Iran einzubauen. Durch die Tatsache, daß der NIE-Bericht bezüglich der angeblichen iranischen Atomdrohung Entwarnung gibt, hätten sich die USA »auf einen für Israel schädlichen Weg begeben«, heißt es weiter.

(...) Derweil bemühte sich der israelische Verteidigungsminister und zionistische Ultra Ehud Barak um Schadensbegrenzung. Am Dienstag (4. Dez.) focht er die Richtigkeit der jüngsten NIE-Schlußfolgerung an. Teheran mag vielleicht sein geheimes Atomwaffenprogramm im Jahr 2003 gestoppt haben, argumentierte er, aber in der Zwischenzeit habe es das Programm »anscheinend wiederaufgenommen«.

In den USA fällt Baraks Kritik (...) auf fruchtbaren Boden. So beschuldigte z.B. die Online-Ausgabe des bekannten, erzkonservativen Newsmax-Nachrichtenmagazins die US-Geheimdienste, sich vom iranischen Geheimdienst übertölpeln zu lassen. Dennoch dürfte jetzt der scheinbar unaufhaltsame Marsch der Bush-Administration in den nächsten Angriffskrieg vorerst gestoppt sein. So hat z.B. die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) den NIE-Bericht der US-Dienste begrüßt, weil er mit den eigenen Untersuchungsergebnissen übereinstimme, wonach – so IAEA-Chef Mohamed ElBaradei am Dienstag – »Iran weder über ein aktives Atomwaffenprogramm verfügt noch geheime Atomanlagen unterhält«.
(...)

* Aus: junge Welt, 6. Dezember 2007




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