Ist Israels Existenz bedroht?
Über Halbwahrheiten der Spiegel-U-Boot-Titelgeschichte
Von Mohssen Massarrat *
Glaubt man dem Mainstream westlicher Medien und Experten, so ist Israel
durch seine Nachbarn und vor allem durch Iran existenziell bedroht, weshalb
sich westliche Staaten, besonders Deutschland, verantwortlich fühlen, die Opfer
von Nazi-Verbrechen vor einem neuen Holocaust zu schützen. Mahmud
Ahmadinedjad, Präsident der Islamischen Republik, trug mit seinen
populistischen Äußerungen kräftig dazu bei, die vorherrschende Auffassung zu
bestätigen. Ungeachtet unterschiedlicher Intentionen werden die immer schärfer
werdenden Sanktionen und Kriegsdrohungen gegen Iran inzwischen in Tel Aviv,
Washington, Berlin und anderswo vor allem mit der Behauptung legitimiert,
Irans Atomprogramm ziele auf die Vernichtung Israels. Dessen
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu fühlt sich gar moralisch berechtigt,
immer offener mit einem präventiven Angriffskrieg gegen Iran zu drohen,
notfalls auch im Alleingang.
Die deutsche Bundesregierung unterstützte Israel nicht erst im aktuellen
Atomkonflikt mit dem Iran, sondern lange bevor der Iran mit der Entwicklung
seines Atomprogramms begann. Laut neustem Spiegel-Bericht beteiligt sich
Deutschland sogar an der Finanzierung der israelischen Atombomben seit den
1960er Jahren. Die Lieferung deutscher U-Boote ist die Fortsetzung einer
deutschen Israel- und Nahostpolitik, die seit beinahe einem halben Jahrhundert
verfolgt wird. Regierung und Opposition spielen in dieser Frage stets Hand in
Hand. Auf die Stellungnahme von Claudia Roth, die Grünen seien gegen die
weitere Lieferung deutscher U-Boote an Israel, wenn diese atomar aufgerüstet
werden könnten, erwiderte Verteidigungsminister Thomas de Maizière:
„Derartige Rüstungsexporte liegen in der Kontinuität der
Vorgängerregierungen“ (FR vom 11. Juni 2012). Die atomare Aufrüstung Israels
mit allen ihren Folgen für die Verschärfung der Konflikte im Mittleren und
Nahen Osten, einer der instabilsten Regionen der Welt, wurde von allen
deutschen Bundesregierungen mehr oder weniger unbekümmert vorangetrieben
und – wie der Spiegel dokumentiert – sogar an der Öffentlichkeit und den
demokratischen Institutionen in Deutschland vorbei. Daß die Spiegel-Enthüllung
der atomaren Aufrüstung Israels durch Deutschland so gut wie keine Debatten
ausgelöst hat und daß beispielsweise ein Experte der Stiftung Wissenschaft und
Politik in der FR vom 5. Juni 2012 die Lieferung der Atom-U-Boote an Israel
auch nachträglich als „moralisch legitim“ darstellt, ist besorgniserregend.
Vor dem Hintergrund dieser Fehlentwicklung erscheint Günter Grass’
Aufschrei auch nachträglich mehr als berechtigt. In seiner Prosa „Was gesagt
werden muß“ hatte er mit seiner These, nicht Iran, sondern Israel bedrohe den
Weltfrieden, die moralische Legitimation der deutschen und internationalen
Israelunterstützung radikal angezweifelt. Angesichts ihrer dramatischen Folgen
für die Zukunft des Mittleren und Nahen Ostens, für den Weltfrieden und für
Israel selbst ist es nun an der Zeit, die immer noch als unerschütterlich geltende
Annahme, Israels Existenz sei bedroht, kritisch auf den Prüfstein zu stellen:
Immerhin liefert diese Behauptung die politische Grundlage für die Israelpolitik
Deutschlands und des Westens insgesamt, nicht zuletzt auch dafür, daß das
iranische Atomprogramm in den letzten Jahren zum Weltproblem ersten Ranges
hochstilisiert wurde.
Unterstellen wir einmal, Teheran belüge – wie gemeinhin behauptet wird -
tatsächlich die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) und die
gesamte Weltöffentlichkeit und wolle unter dem Vorwand des Ausbaus der
Atomenergie in Wahrheit die Atombombe bauen, dann wäre doch die nächste
Frage, ob das Teheraner Regime, hätte es irgendwann die Bombe, diese wirklich
gegen Israel einsetzen würde? Eine solche Annahme, die von westlichen Medien
und Politikern kolportiert wird, übersieht, daß der Iran mit Israels Vernichtung
auch das Risiko einer millionenfachen Tötung der Palästinenser und der
Zerstörung des Felsendoms – nach Mekka das zweitwichtigste Heiligtum der
islamischen Welt – mutwillig in Kauf nehmen würde. Auch das Einmaleins der
nuklearen Abschreckung „wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter“, wird bei der
ständigen Bedrohungsunterstellung schlicht übergangen. Man hätte sicherlich
allen Grund, dem theokratischen Regime die Unterjochung der eigenen
Opposition und der Demokratiebewegung und die rigorose Verletzung der
Menschenrechte vorzuwerfen. Ihm jedoch die Lust auf die eigene Vernichtung
und die Zerstörung von moslemischem Land zu unterstellen, übersteigt die
Phantasie gesunden Menschenverstandes.
Von der nuklearen Abschreckungslogik ausgehend, könnte der Iran mit
eigenem Nuklearpotential bestenfalls das nukleare Monopol Israels untergraben
und, wie während der Kalten-Kriegs-Ära zwischen Ost und West, zunächst
einmal das „Gleichgewicht des Schreckens“ im Mittleren und Nahen Osten
herstellen. Dadurch entstünde aber keinerlei Bedrohung für Israels Existenz,
sehr wohl jedoch eine ernsthafte Bedrohung seines nuklearen Monopols und
seiner Macht, im Nahen Osten, und vor allem in den besetzten palästinensischen
Gebieten, zu schalten und zu walten, wie es ihm paßt, ohne dabei das Risiko
heftiger Reaktionen der arabischen Staaten in Kauf nehmen zu müssen. Selbst
für diesen theoretischen Fall des Verlusts des nuklearen Monopols durch ein
„Gleichgewichts des Schreckens“ (bevor der Iran die Atombombe überhaupt
gebaut hat), ist Israel aber gerade im Begriff, zu der 200 bis 300 Atombomben
umfassenden Erstschlagskapazität eine Zweitschlagskapazität aufzubauen, deren
Herzstück die deutschen „Dolphin“-U-Boote sind. Laut dem bereits erwähnten
Spiegel-Bericht lieferte Deutschland bisher drei dieser U-Boote, die mit allen
nötigen Vorrichtungen für einen nuklearen Einsatz ausgestattet sind. Mit drei
weiteren U-Booten der „Dolphin“-Klasse, die bis 2017 geliefert werden sollen,
könnte Israels Unterwasserarmada im Persischen Golf, also unmittelbar vor dem
Territorium des Iran, operieren und dessen Atomanlagen von den U-Booten aus
mühelos mit nuklear bestückten Marschflugkörpern bedrohen. Denn die neuen
U-Boote sind mit den allerneusten Techniken ausgerüstet und können,
unabhängig von der Außenluft, etwa 18 Tage unter Wasser operieren. Innerhalb
dieser Zeit könnten die U-Boote den Weg zwischen Mittelmeer und Persischem
Golf in beiden Richtungen zurücklegen, ohne auch nur ein einziges Mal
auftauchen zu müssen. Damit würde die logistische Achilles-Ferse von Israels Zweitschlagskapazität beseitigt.
Ami Ajalon, ein israelischer Militärfachmann und früherer Leiter des
Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, nennt den Erwerb dieser U-Boote die
wichtigste strategische Entscheidung. Was Ajalon jedoch als militärischen
Zweck der neuen U-Boote verklausuliert mit der Erlangung von „strategischer
Tiefe“ umschreibt, bezeichnen die Spiegel-Autoren richtig als „nukleare
Zweitschlagskapazität“. Was jedoch die strategische Funktion dieser
Seegestützten Zweitschlagskapazität ist, verschweigen sie und nicht nur das:
Indem die Spiegel-Autoren ihren Bericht mit der Äußerung eines israelsichen
Marineoffiziers „wir können die Vergangenheit nicht vergessen, aber wir
werden alles tun, einen neuen Holocaust zu verhindern“ beenden, lassen sie Tür
und Tor dafür offen, die Lieferung der deutschen U-Boote als eine legitime
Handlung zu interpretieren. Tatsächlich besteht der militärische Sinn der UBoote
und der Zweitschlagskapazität jedoch nicht darin, einen zweiten
Holocaust zu verhindern, sondern vielmehr darin, Israels nukleares Monopol im
Mittleren und Nahen Osten, selbst im Falle der Erstschlagfähigkeit eines andern
Landes, zum Beispiel des Iran, aufrecht zu erhalten. Denn mögliche iranische
Atombomben stünden dann im Visier israelischer Zweitschlagskapazität und
verlören ihre Abschreckungswirkung, da Israel sie vom Persischen Golf aus
ausschalten könnte, bevor sie überhaupt zum Einsatz kämen.
Sollte aber Israel, trotz der nuklearen Erst- und Zweitschlagskapazität, sich
immer noch bedroht fühlen, bliebe ihm noch die realistische Möglichkeit offen,
der NATO beizutreten. Unter dem nuklearen Schirm der USA, Großbritanniens
und Frankreichs dürfte sich Israel einer Sicherheit erfreuen, die nicht einmal von
einer der mächtigsten Nuklearmacht der Welt gefährdet werden könnte, erst
recht nicht durch den Iran, der die Atombombe noch gar nicht besitzt. De facto
steht Israel längst unter dem nuklearen Schutzschirm der NATO. Es gibt diverse
gemeinsame Militärmanöver mit dem westlichen Militärbündnis im Mittelmeer
und anderswo. Obendrein genießt Israel einen zusätzlichen Schutz vor
möglichen feindlichen Mittelstreckenraketen durch den NATORaketenschutzschirm,
der demnächst im Mittelmeer installiert werden soll. Noch
mehr Sicherheit für ein Land wie Israel sie schon hat, kann es im Grunde
genommen gar nicht geben.
Warum begnügt sich aber Israel, muß nun eindringlich gefragt werden,
lediglich mit dem informellen Schutz des westlichen Militärbündnisses und
verzichtet auf den formellen NATO-Beitritt? Sicherheitspolitisch könnte ja
durch den offiziellen Beitritt die Ernsthaftigkeit des Beistandes westlicher
Staaten für Israel von niemandem mißverstanden werden. Dadurch würde doch
jedem potentiellen Feind Israels ein Vernichtungsschlag durch die NATO
signalisiert. Des weiteren stellt sich auch die Frage, weshalb der Westen selbst
Israel die NATO-Mitgliedschaft bisher nicht angeboten hat. Ginge es dem
Westen wirklich um die Sicherheit Israels, so läge nichts näher, als diesem Land
den Beitritt in die NATO anzubieten. Stattdessen zieht er es offensichtlich vor,
andauernd dessen existenzielle Bedrohung durch den Iran zu beschwören.
Warum? Israel und der Westen wissen die Antwort auf diese Fragen nur zu gut
und beide wissen auch, weshalb sie den formellen NATO-Beitritt tunlichst nicht
in Erwägung ziehen:
Um der NATO beizutreten, müßte Israel die Besetzung Palästinas ohne Wenn
und Aber aufgeben und sich hinter seine Grenzen von 1967 zurückziehen.
Letztlich würde Israels Beitrittsansinnen auf den heftigen Widerstand des
NATO-Mitglieds Türkei stoßen, das seine Zustimmung dazu von der
bedingungslosen Erfüllung der UN-Resolution 242 abhängig machen dürfte.
Auch käme das Land nicht länger daran vorbei, dem Vertrag zur Verhinderung
der Weiterverbreitung von Atomwaffen, beizutreten, sein Atomwaffenarsenal
offen zu legen und dieses womöglich auch zu verschrotten. Spätestens an dieser
Stelle, die Regeln der Logik unterstellt, tritt das wahre Motiv der Regierungen
Israels zu Tage. Ihnen geht es im Atomkonflikt mit Iran offensichtlich nicht um
die Verhinderung eines neuen Holocausts und auch nicht um die größtmögliche
Sicherheit, sondern in erster Linie darum, den machpolitischen Status quo, also
sowohl die Besatzungsmacht wie aber auch das nukleare Monopol in der
Region, weiterhin beizubehalten. Israels zionistische Elite scheint ihren
ideologischen Traum von „Erez Israel“ immer noch nicht ausgeträumt zu haben.
Weshalb lesen aber westliche Regierungen den israelischer Regierungen
nahezu alle Wünsche von den Lippen ab, setzen sie Eins zu Eins um und
nehmen dabei in Kauf, einer völkerrechtswidrigen Politik des double standard
überführt zu werden? Israels starke internationale Lobby dürfte als Antwort
kaum reichen, unterstellte sie doch unzutreffend eine Willens- und
Interessenslosigkeit der USA und der übrigen westlichen Staaten. Realistischer
erscheint es vielmehr, von einer Interessensgleichheit beider Seiten, des Westens
und Israels, im Mittleren und Nahen Osten Westen auszugehen. Israel will eine
Nuklearmacht Iran mit allen Mitteln verhindern, um mit seinem
Atombombenmonopol nicht den eigenen Handlungsspielraum für übergeordnete
ideologische Ziele aus der Hand zu geben. Und die USA verfolgen das Ziel, die
eigenen Hegemonialinteressen in einer Region mit den bedeutendsten Öl- und
Gasreserven der Welt wieder herzustellen, die sie durch den Sturz des Schah-
Regimes und die Stärkung der Islamischen Republik auf dem Weg zu einer
Regionalmacht nach dem Sturz von Saddam Hussein teilweise verloren haben.
Israels Monopol an Atombomben bildet dabei einen substantiellen Bestandteil
der militärischen Vorherrschaft der USA in der Region.
„Die Bedrohung der Existenz Israels“ stellt sich im Lichte dieser Analyse als
ein Popanz heraus, den Tel Aviv, Washington und Berlin mit großem
propagandistischem Aufwand aufgebaut haben. Im Ergebnis legitimieren die
USA und Deutschland auf jeden Fall Israels Besatzungsmacht und dessen
Monopol an Atombomben. So gesehen, erklärte Angela Merkel im März 2008 in
der Knesset nicht Israels Sicherheit, sondern eben dessen Besatzungsmacht und
nukleares Monopol, letztlich das zionistische Ziel „Erez Israel“, zur deutschen
Staatsraison. Ein berechtigtes Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung Israels wird
aber nicht durch nukleare Erst- und Zweitschlagskapazität und eine
Sicherheitspolitik gegen die Staaten im Mittleren und Nahen Osten, sondern
durch eine Sicherheitspolitik hergestellt, die mit diesen Staaten gemeinsam
aufgebaut wird. Es ist hohe Zeit für die Vorbereitung einer Konferenz für
Kooperation und gemeinsame Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten nach
dem Muster der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
1975.
* Aus: Ossietzky, Heft 14 / 2012
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