Krieg oder Frieden im Mittleren und Nahen Osten
Eine Kritik an Harald Müllers Studie zum Iran-Atomstreit
von Mohssen Massarrat *
Harald Müller, geschäftsführendes
Vorstandsmitglied der Hessischen
Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung,
hat in einem »Standpunkt
« der HSFK unter dem Titel
»Krieg in Sicht?«[pdf-Datei; externer Link] Position bezogen
zum iranischen Nuklearprogramm
und dem Sicherheitsdilemma Israels.[1] Müller kritisiert, dass die Regierung
Obama merkwürdig verhalten
auf die Drohkulisse des Iran reagiere,
und legt dar, warum in der gegenwärtigen
Situation ein militärischer
Schlag Israels gegen den Irak
wahrscheinlicher und aus seiner
Sicht auch verständlicher werde.
Mohssen Massarrat verurteilt nicht
nur diese »Kriegsrechtfertigung«, er
befasst sich auch kritisch mit der
Analyse des Konfliktherdes durch
Harald Müller und schlägt eigene
Alternativen zu dessen Lösung vor.
Im Mittleren und Nahen Osten stehen
die Zeichen wieder auf Sturm, Fidel
Castro warnte gar eindringlich vor einem
Atomkrieg, der in dieser Region losgetreten
werden könnte. Norman Birnbaum,
linker Soziologie-Professor der Georgetown
University und Kennedy-Berater,
beklagt bitter das Desinteresse der
amerikanischen Öffentlichkeit für die
Krieggefahr in fernen Regionen und sieht
die Israel-Lobby in Washington am Werk,
um den Weg für einen israelischen Angriff
auf den Iran zu ebnen.[2] Deshalb und auch
wegen fehlender Fantasie der US-Regierung,
den Afghanistan-Krieg mit Hilfe der
Nachbarstaaten Indien, Pakistan und Iran
zu beenden, wendet sich Birnbaum beinahe
verzweifelt an die
„europäischen Freunde“,
die „vielleicht helfen könnten, eine
kriegskritische Haltung auch in der US-amerikanischen
Öffentlichkeit zu verankern“,
um dann allerdings nüchtern hinzuzufügen,
dass
„ für eine solche Herkulesaufgabe
Freunde von Format nötig wären,
die wir aber nicht haben. Denn Cameron,
Merkel, Sarkozy haben sich längst in den
Marsch der Lemminge eingereiht, der uns
an den Rand des Abgrunds führen wird.“
Ich stimme dem Kriegsgegner aus Washington
uneingeschränkt zu.[3] Tatsächlich verharrt Europas politische Klasse
geistig immer noch in den sicherheitspolitischen
Denkkategorien der Kalten-
Kriegs-Ära, und davon scheinen auch
Friedens- und Konfliktforscher nicht
ausgenommen. Manchen fällt beispielsweise
im aktuellen Atomkonflikt des
Westens mit Iran nichts weiter ein, als
auf den sicherheitspolitischen Geist vergangener
Epochen zu blicken, der die
Welt den Zielen Frieden und Stabilität
keinen Millimeter näher gebracht hat.
Die Rede ist hier konkret von einer Studie
des Direktors der Hessischen Stiftung
für Friedens- und Konfliktforschung,
Harald Müller, über »Das iranische Nuklearprogramm
und das Sicherheitsdilemma
Israels«.[4] Schon der Titel der Studie
verrät den einseitigen Blick auf das
Problem, der – wie die Studie insgesamt
– die Realität von Israels Atomwaffenarsenal
als dem eigentlichen historischen
Hintergrund und das Sicherheitsdilemma,
das sich daraus für alle Nachbarstaaten
ergibt, regelrecht auf den Kopf stellt.
Bedrohungsanalyse
Die Bedrohung komme, so Harald Müller
gleich in der Einleitung seiner Studie,
eindeutig aus dem Iran, während Israels
Führung in einem Dilemma stecke,
„das
sich immer mehr zuspitzt, je weiter der
Ausbau iranischer Anreicherungsanlagen
voranschreitet“ und, so Müller weiter,
„dieses Sicherheitsdilemma [macht] einen
militärischen Schlag [Israels] wahrscheinlich
und verständlich“ (S. 1f.).[5] In seinem
Text findet man tatsächlich einen roten
Faden, der, wenn man ihm folgt, einen
Militärschlag Israels verständlich macht.
Müller beginnt seine Analyse mit einem
„Sachstandsbericht“ über Irans Nuklearprogramm,
in dem er eine lange Liste der tatsächlichen oder vermeintlichen iranischen
Vergehen (Lügen, Verheimlichungen
und sonstige Verstöße) gegen den
nuklearen Nichtverbreitungsvertrag
(NVV)) zusammenstellt (S. 2f.).
Selbst wenn man das Sündenregister
Irans für bare Münze nähme, das Müller
auflistet, bliebe die Frage offen, warum
Müller – wie übrigens auch westliche Regierungen
und sämtliche etablierte Medien
– nur ein einziges Land kennt, das
gegen den NVV verstößt. Bekanntlich
waren es Länder wie Israel, Indien und
Pakistan, die mit ihrem Atomwaffenarsenal
– sogar mit heimlicher Beteiligung
bzw. Billigung der Atomwaffenmächte –
die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen
eingeleitet haben. Diese Länder legen auf
das Völkerrecht und auf eine internationale
Kooperation in Atomwaffenfragen
offensichtlich keinen Wert und sind deshalb
dem NVV auch nie beigetreten.[6]
Müller vergisst ebenfalls die Erwähnung,
dass sämtliche fünf »offiziellen», d.h. vom
NVV anerkannten, Atomwaffenstaaten
den NVV in einem existentiellen Punkt
verletzen, indem sie ihrer Verpflichtung
nicht nachkommen,
„in redlicher Absicht
Verhandlungen zu führen über wirksame
Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen
Wettrüstens in naher Zukunft
und zur nuklearen Abrüstung sowie
über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und
internationaler Kontrolle“ (Artikel 6
NVV). Mir ist nicht bekannt, dass die
Atomstaaten wegen ihrer groben und
auch folgenreichen Missachtung des Völkerrechts
je so massiv die Gemüter berührt
hätten, wie die vermeintlichen Verstöße
des Iran gegen den NVV. Dabei ist
m. E. diese Missachtung der Atomwaffenstaaten
selbst eine wesentliche Ursache dafür,
dass Staaten wie der Iran sich legitimiert
fühlen, den NVV ebenfalls nicht
ernst zu nehmen bzw. ihn für ihre Zwecke
zu instrumentalisieren.
Doch ist es nicht allein die Missachtung
des NVV, die Iran zur Last gelegt
wird. Dieses Land habe nach Müller
auch einen gefährlichen Präsidenten, dessen
Ideologie des Mahdismus,
„eine millenarisch-
messianisch-apokalyptische Version
des Schiismus“, u. a. das Ziel der
„Zerstörung
Israels als Fremdkörper im »Heiligen
Land des Islam«“ verfolge (S. 3f.).
Viele Iraner, auch ich als iranischstämmiger
Bürger der Bundesrepublik Deutschland,
teilen durchaus Müllers Sorge, was
Mahmud Ahmadinedschad tatsächlich
im Schilde führt und was er der Mehrheit
der Iraner, die er gar nicht repräsentiert,
noch alles zumuten wird. Insofern
trifft Müller hier tatsächlich einen wunden
Punkt. Dennoch ist es höchst irreführend,
die unterstellte iranische Bedrohung
selektiv auf Ahmadinedschads Gesinnung
abzustellen:
Erstens reichen die Planungen des iranischen
Atomprogramms – übrigens mit
amerikanischer und deutscher Hilfe – bis
in die 1960er Jahre,[7] also in einen Zeitraum
zurück, in dem Ahmadinedschad
noch ein Kind war und der Schah regierte.
Zweitens ist Ahmadinedschads Spielraum
in Fragen von Krieg und Frieden,
zumal im Konflikt mit einer Atommacht
wie Israel, gerade jetzt nach der Wahlfälschung
und nachdem er beträchtlich an
Ansehen und Macht innerhalb des Systems
verloren hat, erheblich eingeschränkt.
Das weiß Harald Müller auch;
so hebt er an einer anderen Stelle seiner
Studie hervor, wie vorsichtig die politische
Führung der Islamischen Republik
mit Israels Gaza-Krieg umgegangen ist.
Er selbst weist darauf hin: Der iranische
„Sicherheitsberater Jalili verlangte während
eines kurzfristigen Besuches im Libanon
von der Hisbollah, gegenüber Israel stillzuhalten,
Revolutionsführer Khamenei untersagte
es, iranische Freiwillige als Selbstmordattentäter
Richtung Palästina ausreisen zu
lassen“ (S. 10).
Abgesehen von Widersprüchen in
Müllers Expertise, die man zwischen den
Schlussfolgerungen und den von ihm
selbst angegebenen Fakten an mehreren
Stellen feststellt, und ungeachtet seiner
Behauptung einer akuten iranischen Bedrohung,
fragt man sich, weshalb Müller
den Bedrohungen, die für den gesamten
Mittleren und Nahen Osten von einer gefährlichen
Entwicklung in Israel ausgeht,
keine einzige Silbe widmet. Israel wird inzwischen
von Männern wie Netanyahu,
einem notorischen Gegner des Nahostfriedens
sowie der Zweistaatenlösung, und
noch schlimmer von Avigdor Liebermann
regiert, der offen für die Vertreibung israelischer
Araber plädiert. Müller blendet in
seiner Bedrohungsanalyse auch die unüberhörbaren
Drohungen von Israels Regierungen
mit Militärschlägen gegen den
Iran aus und suggeriert mit der Bemerkung,
„es kann keine Rede davon sein, dass
die Mehrheit der Israelis und ihre Regierung
auf einen militärischen Konflikt mit dem
Iran aus sind“ (S. 9), das Bild eines friedfertigen
Israels. Dass aber
„die Iraner –
ausweislich der Umfrage – mit großer Mehrheit
für eine politische Versöhnung mit den
vermeintlichen Feinden“ sind, wie Müller
selbst an einer anderen Stelle feststellt
(S. 8), hindert ihn nicht daran, Iran
Kriegswilligkeit zu unterstellen.
Müller scheint auch in der historischen
Entwicklung der feindseligen Beziehungen
zwischen Israel und Iran die
Reihenfolge zu verwechseln. Schon das
Politikkonzept des israelischen Ministerpräsidenten
Rabin seit 1992 beinhaltete
eine Dämonisierung des Iran, wie »Le
Monde diplomatique« in der nüchternen
Geschichtsanalyse »Wie der Iran zum
Feind wurde« herausarbeitete.
„Jossi Alpher,
einer der engsten Berater Rabins, erklärte
vier Tage nach dem Wahlsieg Bill
Clintons im November 1992 laut New
York Times: ,Der Iran muss als Feind
Nummer eins identifiziert werden’. Seither
beschuldigen Israel und seine Verbündeten
in Washington den Iran immer wieder,
nach Nuklearwaffen zu streben. Schon im
Oktober 1993 warnte Rabins Außenminister
Schimon Peres die internationale Gemeinschaft,
der Iran werde bis 1999 im
Besitz einer Atombombe sein“[8] Israels
Haltung gegenüber dem Iran begann also
lange vor dem Amtsantritt Ahmadinedschads
und setzte sich auch während der
moderaten iranischen Präsidentschaft
Khatamis fort.
Bei einer halbwegs objektiven Betrachtung
sind Ahmadinedschad und seine aggressive
Haltung gegenüber Israel eher das
Produkt von dessen feindseliger Politik
und der Haltung der USA gegenüber
Iran, vor allem nach der Machtübernahme
durch die Neokonservativen im Weißen
Haus. Dass Ahmadinedschads Wahl
im Iran Israels Politik sogar gelegen kam,
ist durchaus kein Geheimnis. Kein anderer
wäre geeigneter als Ahmadineschad,
ganz im Sinne von Israels Feindbildkonstruktion
so leicht als »neuer Hitler« stigmatisiert
zu werden. Müller ignoriert die
innenpolitische Legitimationsfunktion
von Feindbildproduktionen gerade auch
in Israel (aber nicht nur dort) und knüpft
an dem Bedürfnis israelischer Regierungen
nach der Konstruktion von neuen
Hitlern an, indem er die fundamentalistische
Ideologie Ahmadinedschads aufbauscht
und ihm zahlreiche antisemitische
Äußerungen zuschreibt, um dann zu resümieren:
„Vieles klingt wie ein Echo aus dem
‚Stürmer’ der NSDAP.“ (S. 5).
„Das Ganze“, so Müller, stelle sich für
Israel als
„immenses Dilemma“ (S. 9) dar,
obwohl weder Iran noch ein anders arabisch-
islamisches Land über Atomwaffen
verfügt. Die unbestreitbare Bedrohung
von 200-300 israelischen Atombomben
und Trägersystemen einschließlich U-Booten,
der sich alle Staaten der Region
ausgesetzt fühlen, lässt Müller aber außen
vor. Es sei denkbar, so Müller, dass
Iran in Zukunft Israel provozieren könne,
„in der vermeintlich sicheren Erwartung,
dass Israel mit Rücksicht auf das iranische
Atomwaffenpotential von Vergeltung
absehen würde“, was jedoch ein
„extrem
risikoreiches Kalkül“ wäre (S. 8). Was
Müller hypothetisch Iran unterstellt,
wenn dieser im Besitz von Atomwaffen
wäre, praktiziert Israel schon längst.
Ohne Vergeltungsschläge befürchten zu
müssen erlaubt sich Israel nahezu alles,
was es wahrscheinlich ohne Atomwaffen
nicht wagen würde: Israel hält Palästina
entgegen allen UN-Resolutionen weiterhin
besetzt, veranstaltet gegen die Nachbarn
– mal gegen Libanon, mal in Gaza
– Angriffskriege, bombardiert auf Verdacht
palästinensische Häuser, tötet Zivilbevölkerung,
kapert ein Schiff in internationalen
Gewässern, das mit humanitärer
Absicht die Blockade von Gaza
durchbrechen will, und erschießt dabei etliche Aktivisten. Indem Müller mögliche
Absichten des Iran, was dieser alles
mit seinen Atomwaffen machen wolle, in
den Vordergrund stellt, argumentiert er
nach der Methode »haltet den Dieb«. So
gesehen, richtet sich Müllers Kritik nicht
grundsätzlich gegen Atomwaffen im
Mittleren und Nahen Osten, sondern lediglich
gegen solche, die Israels Atomwaffenmonopol
aushebeln würden.
Müller blendet in seiner Bedrohungsanalyse
auch die alltäglichen Demütigungen
systematisch aus, die Israel als nuklear
bewaffnete Besatzungsmacht den Arabern
und Moslems zumutet. Dies ist aber
ein Grund dafür, dass es arabisch-islamischen
Populisten immer wieder mit antiisraelischen
Ressentiments gelingt, Massen
für ihre Zwecke zu instrumentalisieren
und die Auffassung im Bewusstsein
vieler Menschen zu verankern, dass man
nur mit einer nuklearen Gegenmacht Israels
Aggression Grenzen setzen kann.
Gute Atombomben, böse Atombomben
Israels Atompotential schaffe, nach Müller,
kein Sicherheitsdilemma für die anderen
Staaten, auch nicht für Iran, sehr
wohl aber würden iranische Atombomben,
so sie kommen sollten, für Israel ein
Sicherheitsdilemma hervorrufen. Im
Übrigen benötige Israel sein Atomarsenal
nur zu seiner Verteidigung, während die
Führung der Islamischen Republik, deren
Rationalität äußerst fraglich sei
(S. 8), Israel vernichten wolle. Es ist offensichtlich:
Hier dominiert weiterhin
der Geist des Kalten Krieges. Auch damals
bedrohten in der Wahrnehmung
vieler die sowjetischen Atomarsenale den
Westen, aber nicht umgekehrt. Die Unterscheidung
zwischen den guten und
den bösen Atombomben brachte damals
die Welt an den Rand eines Atomkrieges.
Und sie wird auch im Mittleren und Nahen
Osten keinem Land, weder Israel
noch Iran noch anderen Staaten, mehr
Sicherheit verschaffen, sondern ausschließlich
dazu beitragen, die gesamte
Region in den Abgrund zu führen.
Die Idee des Gleichgewichts des Schreckens
produzierte schon immer und produziert
auch heute wieder Sackgassen, die
in Wettrüsten und Krieg einmünden. Israels
Nuklearstrategie eine Rationalität und
der iranischen eine Irrationalität zuzuweisen,
blockiert die Sicht für friedenspolitische
Alternativen, die es durchaus gibt.
Beide Seiten handeln im Denkgebäude
der »realistischen« Theorie der »balance of
power« durchaus rational. Irrational ist
aber die Theorie selbst, die sich alle Konfliktparteien
im Atomstreit mit Iran – so
wie auch Harald Müller in seinem
»Standpunkt« – zu eigen gemacht und
den Konflikt deshalb bisher nur weiter
verschärft haben. Indem man Israels
Atomarsenal nicht thematisiert, wohl aber
die Gefahr einer Atommacht Iran an die
Wand malt, verfolgt man offensichtlich
das Ziel, den eigenen nuklear gestützten
Machtvorsprung im Mittleren und Nahen
Osten beizubehalten. Der Westen und Israel
ignorieren so beharrlich auch das Sicherheitsdilemma,
das Israels Atomarsenal in der Region schon längst hervorgerufen
hat.
Will man nicht einen neuen »gerechten
« Krieg rechtfertigen, sondern den
Iran-Atomkonflikt wirklich friedlich lösen,
dann muss man sich zunächst die Sicherheitslage
aller Staaten in der Region
nüchtern und vorurteilsfrei vor Augen
führen:
Pakistan ist eine Atommacht und verfügt
somit über ein eigenes Abschreckungspotential,
vor allem als Antwort auf indische Atomwaffen. Die Türkei
ist Mitglied der NATO und steht dadurch
unter deren nuklearem Schutzschirm.
Alle bedeutenden arabischen Staaten im Mittleren und Nahen Osten
sind, mit Ausnahme Syriens, militärische
Verbündete der USA; die US-Armee verfügt
in manchen dieser Staaten über Militärbasen.
Israel verfügt nicht nur über
eigene Atomwaffen, sondern ist darüber
hinaus wegen beträchtlicher gemeinsamer
Interessen der einzige natürliche
Verbündete der USA in der Region [9] und
dürfte daher im Konfliktfall mit Iran
oder einem anderen Staat der Region
auch mit dem vollen Schutz der NATO
rechnen können.
Wie steht es aber mit Iran? Dieses
Land steht, im Unterschied zu allen
Staaten der Region, nach der sicherheitspolitischen
Logik der realistischen
Schule de facto schutzlos da. Mehr
noch: Der Iran ist von den Atomwaffenstaaten
Russland, Indien, Pakistan
und Israel umringt. Hinzu kommt die
militärische Einkreisung durch die USA
mit ihrer Präsens im Irak von der westlichen
Seite, im Indischen Ozean von der
südlichen, in Afghanistan von der östlichen
und in den zentralasiatischen Staaten
von der nördlichen Seite des Iran.
Kann man vor dem Hintergrund dieser
unbestreitbaren Bedrohungssituation
mit einem Mindestmaß an Objektivität
– selbst unter Berücksichtigung des Problems
Ahmadineschad – allen Ernstes
über die
»iranische Bedrohung« und »Israels
Sicherheitsdilemma« reden und die
Realität so krass auf den Kopf stellen?
Harald Müller zieht gegen jede Regel
der Friedensforschung ausschließlich die
Sicherheitsprobleme Israels in Betracht,
lässt das Sicherheitsdilemma Irans aber
außer Acht.
Müller liefert mit seinem »Standpunkt
« nicht nur die Legitimierung der
von den USA und der EU bisher vorgebrachten
einseitigen Forderung an den
Iran zum Verzicht auf eigene Urananreicherung,
er geht sogar deutlich darüber
hinaus und diskreditiert die im Westen
leise vertretenen Überlegungen,
„mit der
Politik der begrenzten Sanktionen zu brechen
und stattdessen eine umfassende Entspannungspolitik
zu betreiben“ (S. 2), als Appeasement und warnt genauso wie die
israelische Regierung den Westen vor
Hoffnungen, die sich, so Müller,
„am
Ende als so falsch herausstellen wie Chamberlains
Hoffnung von 1938, mit Hitler
könne man vernünftige Regelungen treffen“
(S 10f ). Nein, Israelis können sich diesen
historischen Fehler nach Müller nicht erlauben
und müssen mit ihrer
„existentiellen
Bedrohung […] jetzt und hier fertig
werden“ (S. 10). Müller ist sich über die
Folgen eines israelischen Militärschlages
zwar im Klaren und verweist auch auf
manche technische und logistische
Schwierigkeiten einer militärischen Operation,
„dennoch scheint die Mission israelischen
Experten grundsätzlich für durchführbar“
(S. 9).
„Ein israelischer Angriff auf die Infra -
struktur des iranischen Nuklearprogramms
ist riskant und wird schwerwiegende negative
Folgen haben. Die politischen Führer
Israels können“, so Müllers Resümee,
„–
in voller Erwartung dieser negativen Folgen
– zu dem Schluss kommen, dass er dennoch
die einzige Option ist, die ihnen
bleibt, um ihr Land und Volk vor einem
nuklearen Holocaust zu schützen. Wenn es
zu einer Militäroperation Israels kommt,
werde ich diese Folgen fürchten und die
Opfer auf beiden Seiten beklagen. Aber ich
hoffe, dass der Westen und mein eigenes
Land dann nicht Israel die Schuld zuschieben.
Ahmadinejad und die Extremisten,
die ihn umgeben, fordern die Tragödie heraus.“
(S. 12)
Bisher hat nur Israels Propaganda dem
Iran die Vorbereitung eines »nuklearen
Holocaust« unterstellt. Demnach soll die
Führung der Islamischen Republik, entgegen
jedweder Logik und Rationalität,
das Risiko auf sich nehmen, nicht nur Israels
Nachbarstaaten, sondern auch Iran
selbst und das eigene Volk vernichten zu
wollen. Die nukleare Abschreckungsmaxime,
dass derjenige, der als erster Atomwaffen
gegen einen Atomstaat einsetzt,
als zweiter vernichtet wird, ist jedoch
eine Binsenwahrheit. Ungeachtet dessen,
ob Müller an seine Schimäre glaubt oder
nicht, steht nur so viel fest: Er liefert mit
seiner Expertise einen Beitrag zur Kriegslegitimation
und nicht zur Kriegsverhinderung.
Damit beschädigt er seinen Ruf
als Friedensforscher.
Die große Mehrheit der Iraner will,
wie Müller richtig feststellt, mit den
USA, aber auch mit Israel, Frieden
schließen. Warum unterstützt sie aber
die Nuklearpolitik der Regierung? Sicherlich
nicht nur deshalb, weil die Bevölkerung
durch die Regierungspropaganda
manipuliert wird, wie Müller
meint (S. 6), sondern vor allem deshalb,
weil sie dem Westen wegen seiner doppelbödigen
und diskriminierenden Haltung
misstraut und sich auch von ihm
bedroht fühlt.
Gibt es Alternativen?
Die Antwort auf diese Frage, um es vorwegzunehmen,
ist eindeutig Ja, und sie
kann nicht darin bestehen, dass der Iran
ein eigenes Atomarsenal als Gegengewicht
zu Israels Atomwaffen aufbaut und damit
die »balance of power« oder einGleichgewicht
des Schreckens im Mittleren und
Nahen Osten herstellt. So erhielte das nukleare
Wettrüsten und die Vernichtung
von menschlichen, finanziellen und ökologischen
Potentialen beträchtlichen Ausmaßes
neuen Auftrieb, ohne in der Region
die Rahmenbedingungen für mehr Sicherheit
im Geringsten zu verbessern. Die
alles bestimmende Voraussetzung für die
Perspektive eines dauerhaften Friedens ist
der Wille und die Bereitschaft aller Staaten
zur Kooperation. Diese Bereitschaft
fällt freilich nicht vom Himmel und kann
auch nicht über Nacht, sondern vielmehr
nur in einem Lernprozess entstehen, der
allerdings sofort beginnen müsste und
auch könnte. Ich skizziere im Folgenden
Schritte, die diesen Prozess einleiten
könnten.
Erstens müsste die internationale Gemeinschaft
Israel davon überzeugen, dem
NVV beizutreten, wie Barack Obama dies
nach seiner Wahl zunächst gefordert hatte
und dann unter dem Druck der Israel-
Lobby vorerst nicht weiter verfolgt hat.
Zur Überzeugungsarbeit gehört eine offene
Debatte in der westlichen Öffentlichkeit
über die existenzielle Gefährdung Israels
und darüber, dass bis auf weiteres die
USA und die NATO Israels Sicherheit garantieren.
Sicherheit durch eigene Atomwaffen
– diese Strategie hat sich für Israel
als Trugschluss erwiesen. Israels Bevölkerung
lebt weiterhin in ständiger Angst vor
der Feindschaft seiner Nachbarstaaten.
Durch eigene Atomwaffen fühlen sich Israels
Regierungen obendrein in der trügerischen
Annahme bestärkt, Israel könne
Palästina auf Dauer besetzt halten. Zur
Überzeugungsarbeit gehört weiter die
Aufklärung darüber, dass Israel seine geostrategische
Funktion als Flugzeugträger
der USA längst eingebüßt hat. Die USA
selbst sind gegenwärtig dabei, sich mit ihrer
neuen Rolle als einer Supermacht unter
vielen Supermächten abzufinden und
zu begreifen, dass nicht länger ihre Hegemonialmacht,
sondern die Konkurrenz
unter den großen Energieverbrauchern
der Welt (China, USA, Indien, EU, Brasilien
etc.) das Geschehen auf den internationalen
Ölmärkten bestimmt.[10]
Zweitens müsste die internationale
Gemeinschaft auch den Iran auffordern,
bis zu einer regionalen Konferenz für
eine massenvernichtungsfreie Zone im
Mittleren und Nahen Osten, die nach einem
Beschluss der Überprüfungskonferenz
des Nichtverbreitungsvertrages vom
Mai 2010 im Jahr 2012 beginnen soll,
freiwillig auf die Urananreicherung zu
verzichten. Im Gegenzug sollten sich
UN, USA und EU bereit erklären, alle
gegen Iran verhängten Sanktionen unverzüglich
aufzuheben. Keine iranische Regierung
könnte sich dieser qualitativ
neuen – weil nicht mehr einseitigen –
Forderung verschließen. Die oppositionelle
Reformbewegung würde sich diese
neue Forderung der Weltgemeinschaft
auf jeden Fall zu eigen machen.
Drittens müsste die bei der NVVÜberprüfungskonferenz
beschlossene Konferenz für eine massenvernichtungsfreie
Zone imNahenOste auf ein möglichst
zeitnahes Datum vorverlegt werden.
Diese Konferenz, an der alle Staaten
der Region, insbesondere Iran und Israel,
mitwirken sollten, könnte den geeigneten
Rahmen bilden, um sowohl den endgültigen
Verzicht Irans auf eine eigene
Urananreicherung wie auch die Schritte
zur Abrüstung israelischer Atomwaffen
zu regeln.
Es muss allerdings damit gerechnet
werden, dass zunächst extremistische
Kräfte in allen Konfliktparteien der Region
alle möglichen Vorwände einbringen,
umden Beginn eines solchen Prozesses
zu vereiteln. Denn gerade ein Prozess,
der Kooperation, Abrüstung und vielleicht
auch gemeinsame Sicherheit im
Mittleren und Nahen Osten zum Gegenstand
hätte, würde diesen extremistischen
Kräften den Boden entziehen, der
ihnen den Nährstoff liefert, weitere
Feindbilder zu konstruieren und fundamentalistischen
Ideologien, Aufrüstung
und Kriegsdrohungen zu legitimieren.
Umso größer würde umgekehrt der
Handlungsspielraum moderater gesellschaftlicher
Gruppen werden, gelänge es,
diesen Prozess tatsächlich in Gang zu setzen.
Damit hätten reformorientierte politische
Strömungen in allen Staaten des
Mittleren und Nahen Ostens und nicht
zuletzt in Israel und im Iran eine ernsthafte
Chance, gesellschaftliche Mehrheiten
für eine Perspektive der Abrüstung,
der ökonomischen Kooperation und des
friedlichen Zusammenlebens aller Staaten
in der Region zu gewinnen. Auch die
Besatzungspolitik und der Nahost-Konflikt
könnten dabei – wenn man so will
–, als Nebenprodukt einer neuen Perspektive
für die gesamte Region ein Ende
finden. Eine ökonomische Kooperation
und eine Politik der gemeinsamen Sicherheit
mit allen islamischen Nachbarstaaten
wäre die beste Garantie für die
Sicherheit und Existenz des Staates Israel.
Die EU liefert uns ein lebendiges Beispiel
für ökonomische und sicherheitspolitische
Vorteile von regionaler Kooperation.
Tief verwurzelte Feindschaften und
zwei Weltkriege gerieten inzwischen in
Vergessenheit. Staaten, die noch nicht
Mitglied der EU sind, drängen unablässig
darauf, den Anschluss an dieses Erfolgsmodell
nicht zu verpassen.
Anmerkungen
-
Müller, Harald (2010): Krieg in Sicht? Das iranische
Nuklearprogramm und das Sicherheitsdilemma
Israels. In: HSFK Standpunkte, Nr.2/2010; http://hsfk.de [externer Link]
- Birnbaum, Norman (2010): The war must go
on, in: tageszeitung, 31. Juli/1. August 2010.
- Siehe dazu auch meine europakritischen Stellungnahmen,
darunter: Massarrat, Mohssen
(2006): Der Iran und Europas Versagen. In:
Blätter für deutsche und internationale Politik,
Heft 5/2006.
- Müller, Harald (2010), op.cit.
- Die im Text angeführten Seitenangaben beziehen
sich alle auf Harald Müllers »Standpunkt«,
ebenda.
- Israel torpediert sogar demonstrativ die von
der NVV-Überprüfungskonferenz im Mai
2010 beschlossene nukleare Abrüstung im
Mittleren und Nahen Osten, die ab 2012 im
Rahmen einer Konferenz vorbereitet werden
soll. IAEO-Chef Yukiya Amano, der deshalb
nach Israel gereist war, „traf auf verschlossene
Türen“; Frankfurter Rundschau vom 27.
August 2010.
- Rudolf, Peter/Lohmann, Sascha (2010): Amerikanische
Iran-Politik unter Barack Obama.
SWP-Studie. August 2010, S. 14.
- Crooke, Alastair (2009): Wie der Iran zum
Feind wurde. Koordinaten der israelischen Außenpolitik
von Ben Gurion bis Peres. In: Le
Monde diplomatique, Februar 2009.
- Ausführlicher dazu siehe Massarrat, Mohssen
(2006): Kapitalismus. Machtungleichheit.
Nachhaltigkeit. Hamburg, S. 124 f.
- Ausführlicher dazu: Massarrat, Mohssen
(2009): Rätsel Ölpreis. In: Blätter für deutsche
und internationale Politik 10/2008.
* Prof. Dr. Mohssen Massarrat ist Prof. i.R.
für Wirtschaft und Politik an der Universität
Osnabrück mit Arbeitsschwerpunkten
im Bereich Politische Ökonomie, Internationale
Beziehungen, Friedens- und
Konfliktforschung, Mittlerer und Naher
Osten.
Aus: Wissenschaft & Frieden, 4/2010, S. 61-65
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