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Teheran im Kriegsvisier

Ein Angriff gegen Iran noch in der Amtszeit von US-Präsident Bush wird wahrscheinlicher

Von Jürgen Elsässer *

Der Countdown läuft. Man fühlt sich an die Wochen und Monate vor dem 20. März 2003 erinnert, als die USA mit einer »Koalition der Willigen« Irak angriffen. Dieses Mal geht es gegen Iran. Wieder heißt es, ein nahöstlicher Diktator, ein Wiedergänger Adolf Hitlers, greife nach Massenvernichtungswaffen. Wieder heißt es, Israel sei tödlich bedroht, ein zweiter Holocaust werde vorbereitet. Wieder heißt es, alle Verhandlungen scheiterten an der Starrsinnigkeit der Gegenseite, und allein eine Ultima Ratio könne noch Abhilfe schaffen: der Krieg.

Immer wieder gab es in den letzten Jahren Kriegsdrohungen gegen Iran aus Washington und Jerusalem, und immer wieder ging diese Phase hitziger Rhetorik auch wieder vorbei. Was diesen Sommer von früheren unterscheidet, ist die Besorgnis auch bei Politikern, die sich nicht durch Alarmismus einen Namen gemacht haben. So sagte etwa Joschka Fischer am 30. Mai 2008: »So wie die Dinge aussehen, dürfte Israel Iran bald angreifen.« Und weiter: »Der Mittlere Osten treibt 2008 auf eine neue große Konfrontation zu.«

Offensichtlich wurde der frühere deutsche Außenminister zu dieser Warnung durch seine nach wie vor guten Kontakte in das internationale diplomatische Establishment inspiriert. Jedenfalls begann nur wenige Tage nach dem Ruf der grünen Kassandra das propagandistische Trommelfeuer.

Am 6. Juni drohte der israelische Transportminister Schaul Mofaz (Likud-Block): »Es wird unvermeidlich sein, Iran anzugreifen, um seine Atompläne zu stoppen.«

Am 7. Juni sagte der israelische Infrastrukturminister Benjamin Ben-Elieser von der sozialdemokratischen Arbeitspartei: »Wir müssen ihnen (den Iranern) sagen: Wenn ihr so sehr davon träumt, Israel anzugreifen, dann wird es, bevor ihr noch zu Ende geträumt habt, kein Iran mehr geben.«

Mitte Juni übten über 100 israelische Kampfflugzeuge über der griechischen Ägais den Angriff. Die Entfernung zu den hellenischen Inseln entspricht etwa der zu der in Erprobung befindlichen iranischen Atomanlage in Natanz.

Am 13. Juni fasste die Londoner »Times on Sunday« den Diskussionsstand im Weißen Haus zusammen: »Präsident George W. Bush hat der israelischen Regierung gesagt, dass er darauf vorbereitet ist, einem künftigen Militärschlag auf iranische Nuklearanlagen zuzustimmen, wenn die Verhandlungen mit Teheran zusammenbrechen, so ein hoher Pentagonsprecher.«

Am 24. Juni sagte Bushs früherer UN-Botschafter John Bolton, Israel werde im Falle eines Wahlsieges von Barack Obama Iran angreifen. »Der wahrscheinlichste Termin ist nach unseren Wahlen und vor der Amtseinführung des neuen Präsidenten«, also zwischen dem 4. November 2008 und dem 20. Januar 2009.

Am 29. Juni zitierte der britische »Telegraph on Sunday« den früheren Chef des israelischen Geheimdienstes, Shabtai Shavit: »Israel muss das iranische Atomprogramm innerhalb der nächsten 12 Monate angreifen ...«

Am 21. Juli, pünktlich zum Start der neuen Atomverhandlungen zwischen Teheran und der EU am nächsten Tag, meldete sich der israelische Historiker Benny Morris im »Tagesspiegel« zu Wort: »In den kommenden vier bis sieben Monaten wird Israel die iranischen Nuklearanlagen angreifen – das ist so gut wie sicher.« Auch er sah als Wunschtermin die von Bolton genannte Periode vor dem Amtswechsel im Weißen Haus. Morris fügte an: »Falls der Angriff misslingt, wird es im Nahen Osten höchstwahrscheinlich einen Atomkrieg geben (...)«

Mach’s noch mal, Sam?

Die Zielstrebigkeit, mit der nach dem Irak-Krieg 2003 ein Überfall auf den Nachbarstaat Iran angesteuert wird, wäre schon für sich genommen atemberaubend. Was aber an Dreistigkeit nicht mehr überboten werden kann, ist die schlichte Wiederholung der Propagandalügen vom letzten Mal, als ob diese sich nicht bis auf die Knochen blamiert hätten.

Gegen Iran und seinen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad werden einfach alle Textbausteine recycelt, die schon gegen Irak und seinen Präsidenten Saddam Hussein Verwendung gefunden hatten: ein zweiter Hitler, Massenvernichtungswaffen, ein neuer Holocaust.

Lediglich ein Unterschied zur Propaganda vor dem Irak-Feldzug sticht ins Auge: Damals bemühte sich die US-Regierung immerhin noch darum, der Öffentlichkeit die Existenz der gegnerischen Massenvernichtungswaffen zu beweisen. Unvergessen wird etwa die Power-Point-Präsentation bleiben, mit der der damalige Außenminister Colin Powell im Februar 2003 den Weltsicherheitsrat von der furchtbaren Bedrohung durch Saddam Hussein überzeugen wollte. Die fahrbaren Biowaffenlabors, die er in Schaubildern und Luftaufnahmen vorführte, erwiesen sich später als ebenso ungefährlich wie rollende Toilettenwagen. Zwei Jahre oder schätzungsweise 200 000 Tote später hatte Powell der Katzenjammer gepackt: In einem Interview mit dem US-Fernsehsender ABC sagte er im Mai 2005, er fühle sich »furchtbar« wegen seiner damaligen Falschbehauptungen. Dies sei ein »Schandfleck« in seiner Karriere, klagte Powell.

Für die Bush-Administration hatte das Debakel aber nur eine Konsequenz: Wenn sie Iran das Streben nach Massenvernichtungswaffen unterstellt, so macht sie das, anders als im Falle Iraks, nicht mit konkreten Hinweisen auf geheime Waffenlabors, Konstruktionspläne oder Vorräte von waffenfähigem Material, was sich verifizieren und gegebenenfalls widerlegen ließe. Kunststück: Sämtliche Nuklearanlagen werden von den Kontrolleuren der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO überwacht, ebenso alle anfallenden Spaltstoffe wie angereichertes Uran. Die vierteljährlichen Berichte der Behörde dementierten regelmäßig alle Atomwaffenvorwürfe an die Adresse Teherans. Kleinere Lücken in der Berichtslegung wurden im November 2007 von der IAEO als geklärt definiert.

Stattdessen arbeitet man mit Unterstellungen: Dass Iran überhaupt Uran anreichern wolle, deute auf Bombenaspirationen hin. Deswegen sei Teherans immer wieder erklärte Treue zum Atomwaffensperrvertrag reine Heuchelei.

Kampf zweier Linien

Zum Jahresende 2007 sah es so aus, als ob die Kriegspartei endlich an ihre Grenzen gestoßen sei. Nach monatelanger Verzögerung wurde eine gemeinsame Lageeinschätzung aller US-amerikanischen Geheimdienste zum Atomprogramm Irans veröffentlicht, die eindeutig Entwarnung gab. Die »Zeit« titelte in ihrer Ausgabe vom 6. Dezember 2007: »Amerikas große Lüge – Das Atomwaffenprogramm des iranischen Diktators gibt es nicht mehr.« Und weiter: »Ein Neun-Seiten-Papier hat die Weltlage im Handumdrehen verändert. Noch nie hat ein Geheimdienstbericht einen weltpolitischen Streit so plötzlich, so vollständig auf den Kopf gestellt. Die amerikanischen Nachrichtendienste – und zwar alle 16 unisono – konstatieren im soeben veröffentlichten National Intelligence Estimate (NIE), der Iran habe sein Atomwaffenprogramm im Herbst 2003 aufgegeben.«

Die geballte Intervention der Geheimdienste ist das bisher deutliche Zeichen für die Opposition, die den Kriegstreibern aus ihrem eigenen Apparat entgegenschlägt. An dessen Spitze steht mit Verteidigungsminister Robert Gates seit Jahresende 2006 ein Mann, der einen positiven Kontrast zu seinem Amtsvorgänger Donald Rumsfeld bildet. Gates gehörte vor seinem Wechsel an die Spitze des Pentagons zur Iraqi Study Group (ISG) unter Leitung des früheren US-Außenministers James Baker, die einen schrittweisen Rückzug der US Army aus dem Zweistromland und direkte Verhandlungen der USA mit Syrien und Iran vorschlug.

Gates schaffte es immerhin im Frühjahr 2007, auf den höchsten militärischen Posten im Kriegsgebiet Persischer Golf mit Admiral William Fallon einen Mann zu setzen, der ähnlich denkt wie er. Bei einem informellen Arbeitstreffen mit demokratischen Kongress-Abgeordneten am Jahresende warnte Fallon vor einem Angriff auf Iran: »Wir werden damit Generationen von Gotteskriegern schaffen, noch unsere Urenkel werden gegen unsere Feinde in Amerika kämpfen.« Auf Nachfrage eines Gesprächsteilnehmers, ob dies auch die Sicht von Bush und Vize-Präsident Dick Cheney sei, antwortete Gates: »Sagen wir einfach, ich spreche hier für mich selbst.«

Gates’ Kriegsgegnerschaft wurde vom Oberkommando der Streitkräfte unterstützt. Dieses »schlug sehr hart zurück«, als das Weiße Haus im Jahr 2007 Druck machte, berichtete der Vorsitzende des Gremiums, Admiral Mike Mullen. »Zumindest zehn hohe und höchste Generäle haben ihr Gewicht in die Waagschale geworfen«, darunter die Vier-Sterne-Generäle, die rund um den Globus Kampfeinsätze kommandieren.

Doch im März 2008 warf Admiral Fallon das Handtuch. Er resignierte, als er realisierte, wie wenig er zu sagen hat. Die Bush-Administration hatte nämlich nach dem 11. September 2001 einen Parallelstrang zur bisherigen Kommandokette in der Militärpolitik aufzubauen begonnen. Bis dahin liefen Befehle vom Präsidenten über den Verteidigungsminister zu den Befehlshabern der insgesamt sechs Kontinentalkommandos (von denen Fallon eines ausübte). Seither hat Bush, quer zu den Regionalkommandos und diesen übergeordnet, immer mehr Spezialkommandos aufgebaut, die nicht vom Verteidigungsministerium, sondern direkt aus dem Weißen Haus gesteuert werden. Fallon protestierte: »Es gehen eine Menge seltsame Dinge bei diesen Sondereinheiten vor sich.« Um welche seltsamen Dinge es sich dabei handelt, hat Seymour Hersh recherchiert und in der Juni-Ausgabe des US-Magazines »The New Yorker« veröffentlicht. Hersh ist einer der besten investigativen Journalisten weltweit: Er hat das My-Lay-Massaker im Vietnamkrieg enthüllt und als erster über die Folterhölle in Abu Ghraib berichtet. Seine Kontakte in CIA und Pentagon versorgen ihn regelmäßig mit heißen Informationen, etwa über den eben geschilderten Sturz von Admiral Fallon.

Hersh berichtet, dass die Arbeit von US-Sondereinheiten in Iran seit etwa einem Jahr kontinuierlich zunimmt. Sie sind im Kontakt mit drei Widerstandsgruppen und führen gemeinsam Terroranschläge durch: mit den Volksmudschahedin, der kurdischen Guerilla PJAK (einem Ableger der PKK) und der sunnitischen Jundallah. Für diese Wühlarbeit wurde 2007 in einem Kongressausschuss ein Sonderetat von 400 Millionen US-Dollar bewilligt. Die Demokraten unterstützen das Geheimprogramm, weil sie diese Terroroperationen in Iran als »kleineres Übel« im Verhältnis zu einer großen militärischen Konfrontation betrachten – als Beitrag zu einem »Regime Change« durch die inneriranische Opposition. Doch die Falken in der Bush-Administration sehen die bewaffnete Wühlarbeit der Sonderkommandos nicht als Alternative zum Krieg, sondern als dessen erste Stufe.

Zusammenstöße werden inszeniert, um einen Kriegsvorwand zu schaffen. So im Januar 2008, als fünf Boote der iranischen Küstenwache sich in der Meerenge von Hormuz drei US-Kriegsschiffen näherten. Washington spielte den Zwischenfall hoch und berichtete, die Iraner hätten per Funk mit der Sprengung der US-Kreuzer gedroht. Ein britisches Blatt titelte gar »Noch zwei Minuten zum Krieg«. Die Lage konnte entschärft werden, weil der zuständige US-Flottenkommandeur, Vize-Admiral Kevin Cosgriff, nicht von einer Bedrohung sprechen mochte. Der provokative Funkspruch, so stellte sich später heraus, war gar nicht von den Iranern gekommen. Von wem aber sonst?

Ein paar Wochen später fand im Büro von Vize-Präsident Dick Cheney eine Besprechung statt. »Thema war, wie man einen Casus belli zwischen Teheran und Washington schaffen könnte«, wurde Hersh von einem ehemaligen Geheimdienstler berichtet.

Krise und Sanktionen - Eine Chronologie

  • 15.08.2002 – Die Volksmudschahedin – eine iranische Oppositionsgruppe – setzen mit großem Tamtam die Meldung von zwei »geheimen« Atomanlagen in Iran in die Welt, die auch zur Waffenprodukion taugten: die Urananreicherungsanlage in Natanz und die Schwerwasserfabrik in Arak. Anlagen dieses Typs sind Iran nach dem Atomwaffensperrvertrag allerdings erlaubt, sofern sie von der Kontrollbehörde IAEO überwacht werden. Die Anmeldung von Natanz und Arak bei der IAEO war laut Teheran noch nicht erfolgt, weil die Anlagen noch weit von einer Fertigstellung entfernt waren.
  • 12.09.2003 – Erstes Ultimatum der IAEO. Gefordert wird u. a. die Einstellung der Bauarbeiten in Natanz. Iran gibt diesem Ultimatum am 21.10. nach und verkündet ein Moratorium.
  • 18.09.2004 – Zweites Ultimatum der IAEO. Gefordert wird der endgültige Verzicht Irans auf alle mit der Urananreicherung »im Zusammenhang stehenden« Aktivitäten. Iran gibt diesem Ultimatum am 14.11. nach und einigt sich mit der EU auf die Ausweitung des Moratoriums. Im Gegenzug sollte die EU Anreize zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit formulieren.
  • 17.06.2005 – Mahmud Ahmadinedschad gewinnt überraschend die Präsidentschaftswahlen in Iran.
  • 05.08.2005 – Die EU übergibt ihr Vorschlagspaket, das von Teheran als »völlig unzureichend« zurückgewiesen wird.
  • 08.08.2005 – Iran kündigt sein Uran-Moratorium. Die EU bricht die Verhandlungen sofort ab.
  • 24.09.2005 – Die IAEO überweist die Frage des iranischen Atomprogramms »in die Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrates«.
  • 26.10.2005 – Ahmadinedschad soll auf einer Konferenz gesagt haben, er werde »Israel von der Landkarte radieren« (AFP) bzw. »Israel ausrotten« (dpa). Tatsächlich hatte er gesagt: »in rezhim-e eshghalgar bayad az safhe-ye ruzgar mahv shavad.« Das bedeutet: »Dieses Besatzerregime muss von den Seiten der Geschichte verschwinden.«
    dpa-Chefredakteur Wilm Herlyn räumte am 13.06.2008 den Fehler ein: »dpa wird in Zukunft bei der Berichterstattung darauf achten, dass der Iranische Präsident, Mahmud Ahmadinedschad, nicht die Auslöschung Israels oder dessen Tilgung von der Landkarte gefordert hat.«
  • 10.01.2006 – Iran nimmt Vorarbeiten der Urananreicherung auf.
  • 08.11.2006 – Die Republikaner verlieren die Nachwahlen zum US-Kongress. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld tritt zurück.
  • 23.12.2006 – Erste UN-Sicherheitsratsresolution: Wirtschaftssanktionen gegen Iran verbieten Handel von Waren und Know How, die mit dem Atomprogramm und dem Raketenbau in Verbindung stehen.
  • 24.03.2007 – In einer zweiten Resolution verschärft der UN-Sicherheitsrat die Sanktionen.
  • 03.12.2007 – Ein gemeinsames Memorandum aller US-amerikanischen Geheimdienste hält fest, dass Iran spätestens 2003 sein militärisches Atomprogramm eingestellt hat.
  • 03.03.2008 – Dritte UN-Sicherheitsratsresolution: Iran erhält 90 Tage Frist, um alle Arbeiten an der Urananreicherung (einschließlich Forschung) und den Bau eines Schwerwasserreaktors zu stoppen.
  • 19.07.2008 – Beginn neuer Verhandlungen EU – Iran. »Dies dürfte so ziemlich die letzte Chance sein, die Krise um das iranische Atomprogramm friedlich zu lösen.« (»Handelsblatt«). jel


* Aus: Neues Deutschland, 2. August 2008


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