Krieg als vermeidbares Unglück
Die Debatte um Günter Grass war vor allem ein Schlachtfeld der Polemik. Aber hat sie auch etwas bewirkt?
Von Daniela Dahn *
Ist die Debatte um den als Gedicht kostümierten
Warnruf von Günter Grass
als Gelegenheit zum kollektiven Nachdenken
genutzt worden? Das wäre ein
Wunder gewesen, bei den tradierten
Riten der deutschen Öffentlichkeit. Diese hat
ein Beschimpfen und Beleidigen vorgezogen,
ein Unterstellen von Schuld und falscher Gesinnung,
ein Anempfehlen von Schreibverzicht
und Klappe halten. Die Risiken und Nebenwirkungen
intellektueller Einmischung
sind hierzulande hoch. Dass da jemand, ob
altersweise oder -eigensinnig, einzig die Sorge
um einen von Tag zu Tag absehbareren,
ebenso verheerenden wie vermeidbaren Krieg
umtreibt, wird auf dem Schlachtfeld der Polemik
als Motiv nicht durchgelassen.
Stimmt der Vorwurf von Grass, die eigentliche
Substanz seines Textes sei gar nicht aufgegriffen
worden? Wurde nicht zumindest über
blinde Flecke reflektiert, die zuvor, obwohl
spürbar, nachlässig ignoriert wurden? Oder
war es nicht Nachlässigkeit, sondern die von
den Großmedien-Machern geleugnete Selbstzensur,
die anhaltende Verunsicherung der
Deutschen, sich über „etwas Jüdisches im Allgemeinen
und Israel im Speziellen zu äußern“,
wie der Schriftsteller Pierre Assouline vermutet?
Weil der niedermachende Vorwurf des
Antisemitismus unberechenbar oder gar voraussehbar
hinter jeder Zeile lauert?
Es sei „bar jeglicher Realität“, dass die Kritik
an Israel ein Tabu sei, behauptet die Antisemitismusforscherin
Juliane Wetzel im Freitag Nr
16 und widerspricht sich dann gleich selbst:
Indem sie dem Israel kritisierenden Grass unterstellt,
„er schürt negative Gefühle gegenüber
Juden“. Welche Kritik an Israel davor gewappnet
ist, solche Gefühle auszulösen, bleibt
trotz aller Forschung völlig unklar. Was auch
nicht anders sein kann, da in diesem Punkt die
Grenze purer Rationalität überschritten wird.
Einer meiner wenigen ostdeutschen Kollegen,
die sich noch regelmäßig couragiert in
Debatten einmischen, erklärte unlängst in
kleinem Kreis, weshalb er sich diesmal zurückhalten
wolle. Er sei gleich nach der Vereinigung
von westdeutschen Publizisten gewarnt
worden, er könne nun alles öffentlich
sagen, mit einer Ausnahme: Kritik an Israel,
also Kritik an jüdischen Politikern, sei den jüdischen
Kollegen vorbehalten. Zwar müsse
man sich an eine solche, aus Erfahrung gegebene,
Empfehlung nicht halten, aber er habe
im Moment nicht die Kraft, den offenen Flanken,
die er in anderen Scharmützeln zu verteidigen
hat, eine noch offenere hinzuzufügen.
Holzhammer und Agitprop?
Wenn nicht nebbich mein Großvater, den kennenzulernen
mir aus den vermaledeiten
Gründen nicht vergönnt war, durch ein
Quäntchen Chuzpe in meinen Genen, in mir
spürbar weiterleben würde, so würde ich mich
wohl ähnlich verhalten. Denn geschützt fühle
ich mich durch dieses Quäntchen nicht. Das
Bedrohende, und sei es nur als Herabsetzung
und Ausgrenzung, ist mir immer bewusst.
„Das macht Risches“, soll der Großvater ängstlich
gesagt haben, wenn in Breslau Geschäftspartner
oder sonstige Mitglieder der Mischpoche
Anlässe boten, die die Gojien ärgerlich
oder neidisch machen könnten.
Nach der Shoah Zuflucht in Israel suchend,
sind die Juden dort von Anbeginn mit Krieg
konfrontiert. Und haben die Palästinenser von
Anbeginn schlecht behandelt. „Wer lange verfolgt
wird, wird schuldig“, sagt Camus sehr weise.
Ich gehe soweit zu sagen, dass der faschistische
Völkermord Juden in nie dagewesener,
immer noch unbegreiflicher Weise derart zu
Opfern gemacht hat, dass den Nachwachsenden
eine Selbstbehauptung aufgezwungen
wurde, die andere, etwa ihre Nachbarn, befremden
kann. In diesem weitesten Sinne haben
auch wir Nachkommen in Deutschland eine erhöhte
Verantwortlichkeit für das heutige Empfinden
und Verhalten in Israel. Das verlangt
sensible Einfühlung, nicht die Lieferung atomwaffenfähiger
U-Boote, die in einem als Verteidigung
angekündigten Angriffskrieg eingesetzt
werden könnten. Es verlangt aber auch die ehrlich
benannte Sorge des wohlgesonnen Mitfühlenden,
der sagt: Das macht Risches.
In der Sache kann man in deutschen Medien
alles nachlesen: Dass John F. Kennedy 1963
in einem Brief an Ben-Gurion die internationale
Kontrolle über die Atomanlagen von Dimona
gefordert hat, und dass Israel dies ablehnte.
Dass 2010 die 189 Mitgliedstaaten des
Atomwaffensperrvertrages, darunter auch die
USA, Israel vergeblich aufgefordert haben, das
Krieg als vermeidbares Unglück
Abkommen zu unterzeichnen und dass auch
Initiativen zu friedlicher Konfliktlösung von
Israel nicht mit Nachdruck aufgegriffen wurden.
Aber eine kritische Wertung dieser Vorgänge
ist eben doch weitgehend tabuisiert.
Es sind letztlich zwei Formulierungen von
Grass, die weltweit Aufregung, ja Empörung
auslösten: die Behauptung, dass ein Erstschlag
(das politisch korrekte Wort wäre Präventivschlag,
besser noch harmlos Luftschlag gewesen)
das iranische Volk auslöschen könnte.
Der Begriff „Auslöschen“ im Zusammenhang
mit dem Wort „Volk“ ist ein für alle mal besetzt
und seine andersartige Verwendung ist
berechtigt verletzt zurückgewiesen worden.
Aber wurde in der Debatte ernsthaft die Frage
gestellt, wie die Folgen eines Bombenkrieges,
der dem selbst drohenden Iran droht, zutreffend
zu beschreiben wären? Die Behauptung,
es ginge doch nur um die „Ausschaltung der
Gefahr“ einer iranischen Atombombe ist unverantwortlich
verharmlosend.
Militärs wissen: Bevor eine iranische Atomanlage
bombardiert werden könnte, müsste
die gut ausgerüstete Luftabwehr kampfunfähig
geschossen werden. Wie lange das dauert
und wie viele in der Nähe liegende zivile Ziele
unvermeidlich mitgetroffen würden, wagt
niemand vorherzusagen. Ob Verbündete des
Iran eingreifen und damit den Krieg zu einem
Flächenbrand machen würden, auch nicht.
Wenn schließlich die Anlagen nachhaltig zerstört
werden sollen, so wird der einstige USVize-
Verteidigungsminister Joseph Nye recht
haben, dass etwa 600 Ziele in ganz Iran angegriffen
werden müssten und dass dies „alles
andere als ein Präzisionsschlag“ wäre. Viele
der Anlagen liegen unter dicken Betonschichten
tief unter der Erde und Fachleute räumen
ein, es gäbe keinerlei Gewissheit, ob sie mit
konventionellen Waffen überhaupt erreicht
werden können. Wie viel Infrastruktur – Straßen,
Brücken, Gaspipelines, Kraftwerke,
Wohngebiete, Krankenhäuser und Märkte
werden bei diesen Versuchen mitzerstört werden?
Hätten die Bomben schließlich die Anlagen
mit spaltbarem Material und Plutonium
erreicht, so würde zweifellos radioaktives Material
austreten – in welcher Stärke weiß niemand
vorherzusagen. Wo immer solche Strahlung
freigesetzt wird, verursacht sie zahllose
Todesfälle, schwere Erkrankungen, genetische
Schäden. Wie also lautet die politisch korrekte
Beschreibung dessen, was das iranische Volk
erwartet? Und was hätten weitere Völker unter
den Folgen des Krieges zu leiden – darunter
auch das israelische?
Die zweite Aussage von Grass, die als „ekelhaft“
abgetan wurde, ist die Behauptung , die
„Atommacht Israel gefährdet den ohnehin
brüchigen Weltfrieden“. Von Holzhammer war
die Rede und Agitprop. Was aber sagt das über
eine Medienlandschaft, die nur noch auf
Hochdosiertes von Hochprominenz reagiert
und differenzierte Erörterung durch Nichtwahrnehmung
abstraft? Wenige Tage vor Abdruck
von „Was gesagt werden muss“ haben
hunderte Intellektuelle in eben der Süddeutschen
Zeitung (und im Freitag) in einer großen
Anzeige in anderer Sprache aber mit ähnlichen
Argumenten vor den Gefahren eines
Iran-Krieges gewarnt. Die Erklärung blieb
ohne Reaktion.
Israels Doktrin
Dabei hat Grass nichts Neues gesagt. Dass israelische
Aktionen „eine Gefahr für den Weltfrieden“
sind, wurde schon in der UN-Resolution
487 im Juni 1981 ausgesprochen, der
selbst die USA zustimmte. 14 israelische
Kampfflugzeuge hatten den von Frankreich
gebauten Atomreaktor in der Nähe von Bagdad
zerstört – der unter der Kontrolle der Internationalen
Atomenergiebehörde in Wien
stand. „Eine klare Verletzung der Charter der
Vereinten Nationen“ hieß es und Israel wurde
aufgefordert, künftig solche Attacken oder die
Drohung damit zu unterlassen. Als im Herbst
2007 eine mutmaßliche Atomanlage bei Al-
Kibar in Syrien von der israelischen Luftwaffe
bombardiert wurde, hatte sich die Welt offenbar
schon an die Doktrin gewöhnt, dass Israel
entscheidet, wer Atomanlagen im Nahen Osten
betreiben darf und wer nicht. Selbst wenn
offensichtlich ist, dass Deutschland hier nicht
nur aus schuldbeladener Staatsraison solidarisch
ist, sondern auf diesem Ticket eigene
machtpolitische Ziele in der Region verfolgt.
Krieg ist immer Versagen von Politik, auch
von Intellektuellen. Weg mit all den Eitelkeiten,
Verletztheiten, Selbstprofilierungsversuchen
– sie haben zurückzutreten hinter die
gemeinsame Anstrengung, nicht nur den Völkern,
sondern den einzelnen absehbaren Opfern,
dem geschundenen Planenten, den leeren
Kassen, jedem von uns, dieses vermeidbare
Unglück zu ersparen.
* Daniela Dahn ist Schriftstellerin und Autorin des
Freitag.
Oben stehender Beitrag befindet sich in der Ausgabe Nr. 17 des Freitag (26. April 2012); mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
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