"Mussawi ist sicher keine Alternative"
Iranischer Widerstandsaktivist sieht bei Teherans Eliten kaum politische Unterschiede
Morad Shirin ist Gründungsmitglied der verbotenen Iranischen
Revolutionär-Marxistischen Strömung (IRMT) und Aktivist des Iranischen
Arbeiter Solidaritätsnetzwerks (IWSN). Zudem verantwortet er im Londoner
Exil das Internetportal phistaaz.com. Über die jüngsten Entwicklungen in
Iran und die Perspektiven der Protestbewegung sprach mit ihm für das
"Neue Deutschland" (ND) Felix Brasow.
ND: Wo liegen aus Ihrer Sicht die wesentlichen Gründe für die
Protestbewegung in Iran?
Shirin: Der Auslöser war natürlich der plumpe Wahlbetrug bei den
Präsidentschaftswahlen. Aber die Wurzeln der Unzufriedenheit reichen
weit zurück. Mit dem Sieg der Mullahs über die revolutionäre Bewegung im
Sommer 1981 wurden alle Errungenschaften der Revolution von 1979
beseitigt. Damit wurden die sozialen und ökonomischen Probleme nicht nur
nicht gelöst, sie haben sich sogar verschlimmert. Das gilt im Übrigen
insbesondere für die letzten vier Jahre der Präsidentschaft Mahmud
Ahmadinedschads.
Und Mir Hussein Mussawi stellt hier eine Alternative dar?
Mussawi repräsentiert jenen Teil des Regimes, dem es darum geht, das
Überleben des politischen Systems auf lange Sicht sicherzustellen. Es
sollte nicht vergessen werden, dass er als Premierminister während des
ersten Golfkriegs die schlimmste Repressionswelle in der Geschichte der
Islamischen Republik zu verantworten hat. Das Regime nutzte den Krieg
gegen Irak, um gegen die Opposition im eigenen Land vorzugehen; mehr als
30 000 Oppositionelle wurden damals exekutiert.
Eine Alternative ist er somit sicher nicht und ich prophezeie, sobald
der Machtkampf innerhalb des Regimes beigelegt ist, wird Mussawi seinen
Teil zur Niederschlagung der Protestbewegung beitragen.
Worin unterscheiden sich die beiden Lager dann?
Im Wesentlichen gibt es zwischen den rivalisierenden Fraktionen
innerhalb des Regimes keine Unterschiede. Das ist eher eine Frage des
Stils und nicht der Substanz ihrer politischen Absichten. Sowohl die
Fundamentalisten (Ahmadinedschad, Chamenei) als auch die Reformer
(Mussawi, Rafsandschani) stehen für eine neoliberale Politik, für
Privatisierungen, Steuererhöhungen, die Streichung von Sozialleistungen
und die Einschränkung der Bürgerrechte.
Wenn es im Wesentlichen keine Unterschiede gibt, was ist dann der Grund
für den Riss innerhalb des Regimes?
Ich würde sagen, dass die Differenzen wohl am ehesten in der
Außenpolitik zu suchen sind. Unter dem früheren Reformpräsidenten
Chatami wurde die Urananreicherung 2004/2005 für 18 Monate ausgesetzt
und der Feldzug gegen Afghanistan und Irak unterstützt. Und was hat man
dafür bekommen? Ersatzteile für die zivile Luftfahrt. Daher denken
Chamenei und Ahmadinedschad, dass der Weg der letzten vier Jahre, der
Weg der Konfrontation am ehesten dazu geeignet ist, dem
USA-Imperialismus Konzessionen abzupressen, während Mussawi darin eine
ernsthafte Gefahr für den Fortbestand der Islamischen Republik sieht.
Besteht angesichts dieser Interessenlagen nicht die Gefahr, dass die
gegenwärtige Protestbewegung eine Konsolidierung des Regimes unter
Aufgabe antiimperialistischer Positionen nach einem Sieg Mussawis
vorantreiben könnte?
Zunächst ist das natürlich die Propaganda der Fundamentalisten, die mit
allen Mitteln eine Diskreditierung der Bewegung erreichen wollen. Immer
wieder lässt man etwa im staatlichen Fernsehen Verhaftete auftreten, die
öffentlichkeitswirksam bekennen, sie seien »von westlichen Medien zu
Ausschreitungen inspiriert« worden. Ich warne davor, dieser Propaganda
Glauben zu schenken und den Mut von Millionen Menschen, die in den
letzten Wochen die Straßen Teherans erobert haben, nicht zu achten.
Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass es sich bei der
Protestbewegung vor allem um ein Konglomerat aus Angehörigen der Mittel-
und Oberschicht handelt, dem es vor allem um mehr individuelle Freiheit
und nicht um soziale Emanzipation geht.
Sicherlich war der dominante Teil der Bewegung zunächst jung und aus der
Mittelklasse. Aber die Missstände in Iran sind so weit gefächert und
betreffen so viele soziale und ökonomische Schichten, dass mittlerweile
auch Arbeiter, Studenten, Arbeitslose, nationale Minderheiten und viele
andere mehr Teil der Bewegung geworden sind.
Und damit haben sich zwangsläufig auch die Ziele der Bewegung geändert?
Bedingt ja. Wenn Millionen auf der Straße sind, sind das nicht
notwendigerweise Millionen für Mussawi. Es gibt darunter natürlich auch
radikalere Elemente. Mussawi, der ja nichts mehr fürchtet, als die
Kontrolle über die Bewegung zu verlieren, ist gegenwärtig damit
beschäftigt, zu beruhigen. Aber viele Demonstranten skandierten zuletzt
etwa Slogans wie »Mussawi, Mussawi, wenn du ruhig bleibst, bist du ein
Verräter« oder »Gib uns den Befehl zum Dschihad«.
* Aus: Neues Deutschland, 6. Juli 2009
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