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Wie man den Iran auf die Anklagebank bringt

Kommentar von Kaveh L. Afrasiabi

Eine britische Denkfabrik, das Internationale Institut für Strategische Studien (IISS), hat vor kurzem eine neue Studie über Irans Massenvernichtungswaffen herausgegeben unter dem Titel „Das strategische Waffenprogramm des Iran – eine Einschätzung”. Darin wird lauthals erklärt, dass Teheran in etwa fünf Jahren Atombomben haben könnte.

Wie sich doch die Geschichte wiederholt: Man fühlt sich an den vorigen „strategischen Bericht“ des IISS zum Irak von 2002 erinnert. Dieser wurde bei Washingtons neokonservativem Kreuzzug zu Paul Wolfowitz' Bibel und sollte dazu dienen, die geplante Invasion als rationales Handeln darzustellen.

Auf den Internetseiten des IISS findet man tatsächlich noch das Foto des damaligen Verteidigungsministers Wolfowitz zusammen mit einem Pressebericht, in dem er sich auf den Bericht des Instituts mit dem Titel „Das strategische Waffenprogramm des Irak – eine Einschätzung” bezieht. Sie wurde im September 2002 veröffentlicht, ein paar Tage bevor US-Außenminister Colin Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Faust auf den Tisch schlug. In seiner berüchtigten Rede bestand er darauf, dass der Irak über ein fortgeschrittenes Programm zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen verfüge und bezog sich unter anderem auf die Erkenntnisse Großbritanniens über die Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen.

Zwei Jahre später – dazwischen liegen die kostspielige militärische Besetzung eines souveränen arabischen Staates mit über 100.000 zivilen Opfern und unsagbares Leid – hat Powell wie verlautet in einem Interview zugegeben, dass seine Rede vor der UNO ein „Schandfleck in meiner politischen Laufbahn“ gewesen sei. Solche freimütigen Geständnisse sind in der Tat selten in den Vereinigten Staaten, obgleich sie spät kommen und wirkungslos bleiben. In Großbritannien sind sie noch dünner gesät: Man hätte gehofft, dass die „objektiven” und „leidenschaftlslosen“ Experten des Londoner Think Tank vielleicht eine Erklärung herausgeben würden, in denen sie ihre übertriebenen Behauptungen über Iraks Massenvernichtungswaffen zurücknehmen.

Dies haben sie nicht getan – und noch schlimmer: sie sind in ihre alte Gewohnheit zurückgefallen, indem sie mit einem großen Medienrummel einen neuen Bericht zum Iran veröffentlicht haben.

Der Bericht des IISS über den Irak aus dem Jahr 2002, der Premierminister Tony Blair und seinen Ministern so gelegen kam, enthielt provozierende Behauptungen, die sich später als völlig falsch herausstellten, wie zum Beispiel „Irak hat alle Anstrengungen unternommen, um sich für die Zukunft nukleare Fähigkeiten zu erhalten... Der Irak könnte innerhalb weniger Monate Atomwaffen bauen, wenn er spaltbares Material von ausländischen Lieferanten erhalten würde“.

Im Rückblick erinnern wir uns natürlich alle daran, wie Präsident George W. Bush in seiner Rede zur Lage der Nation im Jahr 2002 behauptete, der Irak versuche sich spaltbares Material aus Afrika zu beschaffen ﷓ und dies trotz gegenteiliger Erkenntnisse des CIA.

Die Leitung des IISS mag sich verständlicherweise wünschen, dass wir alle die Erklärung John Lipmans, dem Direktor des Instituts, vom 9. September 2002 vergessen. Damals verteidigte er die „Irakstudie“ als Ergebnis einer „genauen“ und „nüchternen“ Untersuchung, deren Autoren sich von dem Gedanken an die „zunehmende Bedrohung durch das irakische Programm zur Entwicklung atomarer, biologischer und chemischer Waffen“ leiten ließen.

Lipman behauptete damals kategorisch: „Die Beibehaltung der Fähigkeit zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen ist offensichtlich das Kernziel des irakischen Regimes... Krieg, Sanktionen und Inspektionen haben weder die atomaren Fähigkeiten des Irak noch Bagdads anhaltendes Interesse an der Entwicklung dieser Fähigkeiten beseitigt.“

Genau zwei Jahre nach diesen offenkundig falschen Aussagen über irakische Massenvernichtungswaffen, die durch eigene Erkenntnisse der US-Regierung widerlegt wurden, schlagen Lipman und sein Abteilungsleiter Gary Samore schon wieder in die gleiche Kerbe. Sie behaupten unmissverständlich, dass Iran die Absicht habe, sich Kernwaffen zu verschaffen. Sie stützen teilweise die jüngsten Erkenntnisse aus US-Geheimdienstkreisen, dass Teheran von der Erreichung dieses Ziels viele Jahre entfernt sei, kürzen die vom US-Geheimdienst angegebene Periode jedoch um etwa fünf Jahre, indem sie behaupten, dass der Iran „bis zum Ende des Jahrzehnts“ sein erstes Atomwaffenarsenal haben könnte.

Zufall oder nicht, der Bericht des IISS kommt zu einem kritischen Zeitpunkt heraus, kurz vor einer Zusammenkunft der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) über Iran am 19. Dezember. Im Ergebnis könnte Teherans Atomprogramm vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gebracht werden, der möglicherweise Sanktionen verhängen könnte.

Der Chef der Behörde, Mohammed El Baradei, legte in diesem Monat einen umfassenden Bericht über das iranische Atomprogramm vor, in dem er Teheran dafür kritisierte, dass es seine Aktivitäten zur Urananreicherung nicht weiter ausgesetzt habe. Eine Kooperation Teherans mit der Behörde bezeichnete er als „überfällig“.

US-amerikanische Politiker und Tony Blair versuchen in Moskau und Peking Einfluss zu nehmen, damit diese kein Veto einlegen, wenn der Fall Iran vor den Sicherheitsrat kommt.

Auf den ersten Blick scheint der Bericht des IISS die Behauptung Lipmans zu stützen, dass er „keine bestimmte Politikempfehlung für den Umgang mit dem iranischen Atomproblem darstelle“. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit, denn die Aussage einer angesehenen Einrichtung, dass der Iran unter dem Deckmantel seines Programms zur friedlichen Nutzung der Atomenergie mit Volldampf auf Atomwaffen hinarbeite, hat ganz klar eine politische Tragweite. Kurz gesagt, er ist bedeutend für die sich herausbildende Einheitsfront zwischen den USA und der EU gegen den Iran und verleiht ihr „wissenschaftliches“ Gewicht.

Die drei EU-Staaten Großbritannien, Deutschland und Frankreich standen bei den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm an vorderster Front, haben aber Teheran jetzt aufgefordert, alle Aktivitäten zur Urananreicherung auszusetzen.

Der Iran-Report des IISS enthält weitgehend Bekanntes. Es finden sich darin keine neuen Detailinformationen über das iranische Atomprogramm und er baut in weiten Zügen auf den Erkenntnissen der IAEA auf, gewürzt mit Samores persönlichen Beobachtungen aus seinen Besuchen in einigen Atomanlagen. Die in dem Bericht enthaltene Chronologie der iranisch-europäischen Gespräche enthält ebenfalls nichts Neues. Die ersehnten Einblicke in die Denkweise der iranischen Atompolitiker sucht man in diesem Abschnitt vergebens.

Die in dem Bericht vermuteten iranischen Bestrebungen, Atomwaffen zu produzieren, stützen sich auf Hypothesen. Wiederholt wird gesagt: „wenn“ sich Iran bei seinen Anstrengungen zur Urananreicherung auf hochangereichertes Uran verlege, könne das Land möglicherweise in etwa fünf Jahren über die Bombe verfügen. Zunächst muss es allerdings Uranhexafluoridgas (UF6) von besserer Qualität herstellen, als es zurzeit in den Anlagen von Isfahan und an anderen Standorten möglich ist.

Solche Übertreibungen und Hypothesen lassen jedoch vieles offen. Zum einen gibt es zu viele Wenns und Abers. Auch ist die gegenwärtige Zusammenarbeit Irans mit der Atomenergiebehörde zu beständig, um diese Annahmen wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Der Chef der IAEA machte in seinem Bericht über den Iran deutlich, dass das Land in den vergangenen achtzehn Jahren einen beträchtlichen Aufwand betrieben hat, um einen Brennstoffkreislauf zustande zu bekommen, der es von äußerer Hilfe unabhängig macht. All dies geschieht jedoch im Rahmen des Vertrags über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (Atomwaffensperrvertrag). Die Tatsache, dass der Iran nach diesem technischen Durchbruch möglicherweise zur Weiterverbreitung dieser Waffen geneigt sein könnte, bedeutet nicht automatisch, dass dies der Motor seines Handelns ist.

Der Iran ist stolz darauf, auf innovative Weise seine Unabhängigkeit zu wahren, indem das Land viele atomare Komponenten selber herstellt, die der Westen ihm verweigert. Dies unterscheidet den Iran zum Beispiel von Libyen, das vollständig von importierter Technologie abhängig ist und nicht über eine wissenschaftliche Infrastruktur für diesen Bereich verfügt. Dadurch kann man Libyen die Atomtechnologie leicht wieder aus der Hand nehmen, während der Iran mit seiner einheimischen Technologie durchaus zum Nachbau importierter Komponenten in der Lage ist.

Es ist nicht so sehr eine Frage der technischen Fähigkeiten, oder, um es in den Worten des IISS auszudrücken der „hochgerechneten zukünftigen Fähigkeit“, die bezweifelt werden, denn beinahe jedes Land, das über einen geschlossenen Brennstoffkreislauf verfügt, kann in relativ kurzer Zeit eine Bombe bauen. Die Hauptfrage besteht eher darin, ob sich die zivile Natur des iranischen Atomprogramms auch nachweisen lässt und ob das Land seine Verpflichtungen gegenüber der IAEA dauerhaft einhalten wird.

Es klingt wie ein Widerhall offizieller Erklärungen der britischen Regierung, wenn das Institut für internationale strategische Studien den Willen Irans zur Befolgung des Zusatzprotokolls, das weit mehr Einmischung von Seiten der IAEA erlaubt, unterschätzt und zu gering bewertet. Gleichzeitig verwirft das Institut die erklärte Ablehnung atomarer Waffen durch die iranische Führung als unerheblich. Man sollte in Betracht ziehen, mit welcher Vehemenz die iranische Regierung atomare Waffen abgelehnt hat, ganz zu schweigen von dem Umfang der iranischen Zusammenarbeit mit den Inspektoren der IAEA. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass eine traditionelle Bedrohung, wie sie Saddam Hussein darstellte, nicht vorhanden ist.

Eine solide Bedrohungsanalyse aus der Sicht des Iran hätte wahrscheinlich zu gegenteiligen Schlussfolgerungen zu denen des IISS geführt: Sie hätte nämlich die kontraproduktive Wirkung atomarer Waffen für die Politik des Iran in der Region gezeigt, insbesondere dem Persischen Golf, wo das Land sich stabiler Beziehungen mit Saudi-Arabien, dem wichtigsten Land des Golf-Kooperationsrats erfreut.

Anstatt als Abschreckung gegen Israel zu wirken, wird ein atomar ausgerüsteter Iran wahrscheinlich die arabische Welt durcheinander bringen. Trotz der seit langem bestehenden arabisch-persischen Rivalität besteht die Gefahr der Weiterverbreitung sowohl nach Saudi-Arabien als auch nach Ägypten. Oder vielleicht sollte man das Wort Rivalität besser durch den milderen Ausdruck Wettbewerb ersetzen.

Damit will ich die Möglichkeit eines nuklear bewaffneten Iran für die Zukunft keinesfalls ausschließen, besonders wenn sich die Sicherheitsbedrohung durch Israel für das Land wesentlich erhöhen sollte. Dies gilt insbesondere, weil Israels Aktivitäten unter den Kurden, im Irak usw. das Verhältnis belasten; auch die schroffe Reaktion Irans nach der jüngsten durch die Türkei vermittelten Annäherung zwischen Israel und Pakistan spricht dafür.

Mit anderen Worten: nicht nur der Iran ist am Ball. Wenn Israel wirklich ernsthaft eine Verpflichtung zur Nichtweiterverbreitung von Iran erwartet, muss es sich selbst beschränken und in Eigeninitiative Maßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel Inspektionen der IAEA erlauben und damit das Ideal eines atomwaffenfreien Nahen Ostens unterstützen. Es sollte sich flexibler zeigen in Bezug auf den Rüstungswettlauf in der Region und auf eine gerechte Lösung für das unterdrückte palästinensische Volk hinarbeiten. Irans oberster Führer, der Ayatollah Ali Khamenei hat Israels Rückzug aus dem Gazastreifen bereits als „Teilsieg“ bezeichnet.

Abschließend lässt sich sagen, dass der Iran, wenn es darauf ankommt, einen mäßigenden Einfluss auf radikale Islamisten ausüben kann. Es wäre nachlässig von Israel und den Vereinigten Staaten, dauernd die negative Rolle Irans in Bezug auf die Palästinenser zu betonen. Darin liegt tatsächlich ein weiterer Schwachpunkt im Bericht des IISS, der die außenpolitischen Absichten und Prioritäten des Iran karikiert, ohne genaues Verständnis für die komplexe und vielschichtige Politik des Iran in der turbulenten Region des Nahen Ostens erkennen zu lassen.

* Dr. Kaveh L. Afrasiabi, Teheran, Politikwissenschaftler, ist der Autor von "After Khomeini: New Directions in Iran's Foreign Policy" (erschienen bei Westview Press) sowie Mitautor von "Negotiating Iran's Nuclear Populism", erschienen in "The Brown Journal of World Affairs" Band X11, Ausgabe 2, Sommer 2005, zusammen mit Mustafa Kibaroglu.

Übersetzung aus dem Englischen: Doris Werder

Der Originalartikel erschien am 14. September 2005 in "Asia Times": "Building a case, any case, against Iran". (www.atimes.com)
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.



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