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"Alle Optionen"

US-Präsident will beim Vorgehen im Irak »nichts ausschließen«, agiert aber offensichtlich ohne Konzept. Auch Republikaner ohne konkrete Vorschläge

Von Knut Mellenthin *

Die US-Regierung will ihre militärische Unterstützung für den Irak verstärken, um den Vormarsch der »Dschihadisten« aufzuhalten und zu verhindern, daß diese sich dort oder in Syrien dauerhaft festsetzen können. Das kündigte Barack Obama am Donnerstag vor Journalisten an, ohne auch nur geringe Anhaltspunkte zu geben, worum es dabei praktisch gehen könnte. Das einzige, was sich der Präsident der USA entlocken ließ, war die Aussage, daß »mein Team rund um die Uhr arbeitet, um festzustellen, wie wir ihnen (der Regierung in Bagdad, jW) am wirkungsvollsten helfen können«. »Alle Optionen« würden geprüft und »ich schließe nichts aus«.

Da hatte sich Obama jedoch offenbar nicht an die festgelegte Sprachregelung gehalten. Pressesprecher Jay Carney mußte seinen Chef wenig später öffentlich korrigieren: Der Präsident habe dabei nur an Waffenlieferungen und Luftangriffe gedacht. Der Einsatz amerikanischer Bodentruppen im Irak komme auf keinen Fall in Frage.

Zu berücksichtigen ist dabei, daß Obamas viel zitierter Satz, er schließe nichts aus, bei einem gemeinsamen Presseauftritt mit dem australischen Regierungschef Tony Abbott fiel, der gerade Washington besuchte. Es handelte sich also nicht um eine gut vorbereitete Rede und nicht einmal um eine Pressekonferenz zum Thema Irak. Überdies hatten die teilnehmenden Journalisten keine Gelegenheit, Nachfragen zu stellen.

Der Aussage des Präsidenten sollte nicht übermäßige Bedeutung beigemessen werden. Immerhin deutet sie aber darauf hin, daß die US-Regierung angesichts der dramatischen Entwicklung im Irak, die nicht erst in den allerletzten Tagen zu erkennen war, noch kein praktisches Konzept hat. Obama schien zunächst lediglich darauf bedacht, den Verdacht der Untätigkeit, der nicht nur von den oppositionellen Republikanern, sondern auch von den meisten Mainstreammedien gegen ihn erhoben wird, abzuwehren, gleichzeitig aber jede Festlegung zu vermeiden.

Die USA haben dem Irak in den letzten Jahren Waffen im Wert von rund 14 Milliarden Dollar verkauft. Im vorigen Jahr wurden die Lieferungen aufgrund der Verschlechterung der militärischen Lage und des Drängens der Regierung in Bagdad gezielt verstärkt. So erhielten die irakischen Streitkräfte unter anderem Aufklärungsdrohnen und Luft-Boden-Raketen vom Typ »Hellfire«, mit denen der Irak zunächst einmal Kleinflugzeuge bestücken will. Mit der grundsätzlich schon versprochenen Lieferung von Apache-Kampfhubschraubern und F-16-Düsenjägern läßt sich das Pentagon allerdings immer noch Zeit.

Verantwortlich ist dafür nicht zuletzt der Kongreß, der Waffenlieferungen an den Irak durch Obstruktion verzögerte und zum Teil sogar blockierte. Im November 2013 veröffentlichten sechs der einflußreichsten Senatoren aus beiden großen Parteien einen offenen Brief an Obama, in dem sie den Präsidenten aufforderten, jede Hilfszusage an Bagdad von der Erfüllung scharfer Vorbedingungen abhängig zu machen. Ganz oben rangierte die Forderung, den »bösartigen Einfluß Irans in der irakischen Regierung« zurückzudrängen. Unterzeichner des Briefes waren neben den republikanischen Hardlinern John McCain und Lindsey Graham auch die Demokraten Robert Menendez, der den Außenpolitischen Ausschuß des Senats leitet, und Carl Levin, der den Vorsitz im Streitkräfteausschuß führt.

Aus dem Vormarsch der sunnitischen Extremisten im Norden und im Zentrum Iraks möchte McCain jetzt maximalen politischen Gewinn ziehen. Am Donnerstag forderte der Senator Obama auf, sein gesamtes Sicherheitsteam zu entlassen, da es für die Lage – »die größte Bedrohung seit dem Kalten Krieg« – verantwortlich sei. McCain hatte schon in der Vergangenheit immer wieder heftig gegen den Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte aus dem Irak polemisiert, der im zweiten Jahr der Präsidentschaft Obamas Ende 2011 abgeschlossen wurde. Der Republikaner ließ dabei unberücksichtigt, daß Obama nur ein Abkommen ausführte, das sein Vorgänger George W. Bush in den letzten Monaten seiner Amtszeit ausgehandelt und unterzeichnet hatte.

An praktischen Empfehlungen, was die Regierung jetzt tun sollte, hat McCain selbst nur sehr wenig anzubieten. Man solle »alle Optionen der Luftstreitkräfte prüfen« und »ein Team nach drüben schicken, das sie (die Iraker, jW) berät«, sagte der Senator am Donnerstag. Widerspruch kam sofort von seinem Parteifreund James Inhofe, dem ranghöchsten republikanischen Senator im Streitkräfteausschuß: Um über Luftangriffe nachzudenken, sei es »noch zu früh«.

Dagegen veröffentlichte der im Ruhestand befindliche General James Dubik in einem Meinungsartikel für die Washington Post am Donnerstag recht weit gehende Vorschläge: Erforderlich sei »eine koordinierte Luft- und Bodenoperation« gegen die Rebellen. Dazu sei Irak allein nicht in der Lage. Die nötige Feuerkraft aus der Luft müsse hauptsächlich von den USA zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sollten US-amerikanische »Militärberater« in den Irak geschickt werden, um die »Luftunterstützung« zu koordinieren und bei der Aufstellung kampffähiger irakischer Einheiten mitzuwirken. Dubik war von 2007 bis 2008 Kommandeur der US-Besatzungstruppen im Irak.

* Aus: junge Welt, Samstag 14. Juni 2014


Irak zerfällt, Bush feiert

ISIL-Islamisten rücken auf Bagdad vor, Kurden nehmen Erdölstadt Kirkuk ein, Regierung rekrutiert Freiwillige. Und die Verantwortlichen in den USA – machen Party

Von Rüdiger Göbel **


Die Meldungen vom Vormarsch islamistischer Gruppen im Irak überschlagen sich. Presseberichten zufolge rückten Einheiten der Organisation »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS) am Freitag aus drei Richtungen weiter auf die Hauptstadt Bagdad vor. Die Gruppierung soll bis zu 15000 Mann unter Waffen haben. Nach Behördenangaben lieferten sich die irakische Armee und Aufständische Kämpfe am Stadtrand von Mukdadijah unweit von Bakuba in der Provinz Diala. In den Tagen zuvor hatten ISIL-Kämpfer zunächst die Millionenstadt Mossul im Norden und dann die gesamte Provinz Ninive sowie weitere nördliche Städte und Regionen erobert. In Tikrit, Geburtsstadt des 2003 von den USA gestürzten irakischen Präsidenten Saddam Hussein, feuerte ein Hubschrauber der Armee Raketen auf eine Moschee ab. Das berichteten Augenzeugen und örtliche Behörden. In Bagdad rechnet die Bevölkerung seit Tagen mit einem Einmarsch der Islamisten. »Die Straßen waren am Freitag weitgehend menschenleer«, meldete AFP.

Kurdische Milizen wiederum rücken im Windschatten der Islamisten ebenfalls vor. Offiziell unterstützten sie die Truppen Bagdads im Kampf gegen ISIL-Gruppen. Am Donnerstag übernahmen Peschmerga-Kämpfer die vollständige Kontrolle über die Großstadt Kirkuk – die kurdische Autonomieregierung im Norden des Irak beansprucht die ölreiche Gegend dort schon lange für sich. Sie dürfte ihre Truppen auch nicht ohne weiteres wieder abziehen. Am Freitag sollen kurdische Einheiten im Nordosten von Bakuba die Bezirke Saadijah und Dschalawla unter ihre Kontrolle gebracht haben.

Der irakische Großajatollah Ali Al-Sistani rief derweil die Bevölkerung zum Widerstand auf. Die Bürger sollten zu den Waffen greifen und »ihr Land, ihr Volk und ihre heiligen Stätten verteidigen«. Wer könne, solle sich den Sicherheitskräften im Kampf gegen die sunnitischen ISIL-Kämpfer anschließen. Das meldete dpa unter Verweis auf die arabische Nachrichtenseite Ilaf am Freitag. Auch die Regierung von Nuri Al-Maliki in Bagdad rekrutiert Freiwillige.

UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay gab sich »extrem beunruhigt« angesichts der »dramatischen Verschlechterung der Situation« im Irak. Sie sei »besorgt« über Berichte von willkürlichen Hinrichtungen und »außergerichtlichen Tötungen«. Nach UN-Angaben wurden bei Kämpfen in den vergangenen Tagen mehrere Hundert Zivilisten getötet und etwa 1000 verletzt. Eine halbe Million Menschen sei inzwischen auf der Flucht.

Und die für die Zerstörung des Irak Verantwortlichen, allen voran der US-Präsidentenclan Bush? Der feierte runden Geburtstag und spendierte seinem Senior zum 90. einen Fallschirmsprung. Zur Erinnerung: George H. W. Bush war von 1989 bis 1993 US-Präsident. Anfang 1991 hatte er das Zweistromland in der »Mutter aller Schlachten« (Saddam Hussein) bombardieren lassen, Vorwand war der Einmarsch irakischer Truppen im benachbarten Ölemirat Kuwait. Nachdem die Infrastruktur des Irak zerstört worden war, wurden die 28 Millionen Einwohner schließlich auch noch mit Sanktionen belegt. Mehr als 1,5 Millionen Menschen starben an den Folgen, ein Drittel von ihnen Kinder. 2003 schließlich gab Bush junior (von 2001 bis 2009 US-Präsident) Befehl zum Einmarsch und zur Besetzung des Irak. Das gab dem Land den Rest. Das Gros der US-Truppen zog 2011 ab, Chaos und Gewalt blieben.

** Aus: junge Welt, Samstag 14. Juni 2014


Propagandameldungen über Teherans Auslandseinsätze

Von Syrien nach Irak verlegt: Iranische Truppen sollen schiitischer Regierung in Bagdad helfen – Beweise dafür gibt es nicht

Von Knut Mellenthin ***


Das neokonservative Wall Street Journal weiß es wieder einmal ganz genau: »Iran hat Einheiten der Revolutionsgarden entsandt, um die von Al-Qaida inspirierten Rebellen zu bekämpfen, die eine Reihe irakischer Städte überrannt haben (…). Zwei Bataillone der Quds-Streitmacht, der Elitetruppe des Korps der Revolutionsgarden Irans für Auslandseinsätze, die schon lange im Irak operiert, sind der bedrängten, schiitisch dominierten Regierung von Premier Nuri Al-Maliki zu Hilfe gekommen.«

Für diese sensationelle Meldung beruft sich die eng mit der Pro-Israel-Lobby der USA verbundene Tageszeitung allein auf nicht näher bezeichnete »iranische Sicherheitsquellen«. Von diesen will das Blatt auch erfahren haben, daß Teheran in Erwägung ziehe, iranische Truppen aus Syrien abzuziehen, um sie in den Irak zu verlegen, falls die Lage dort sich noch weiter verschlechtert. Der Kommandeur der Quds-Streitmacht, General Kasim Sulaimani, halte sich zur Zeit in Bagdad auf, um die Iraker bei der Bewältigung der Krise zu beraten. Auch dafür scheint es außer einer dubiosen, angeblich iranischen Website keine Belege zu geben.

Wall Street Journal klingt eher nach einer seriösen Wirtschaftszeitung als nach einem politischen Kampfblatt. Entsprechend leicht fand die durch nichts bewiesene, nach Lage der Dinge völlig unüberprüfbare Story den Weg auch in deutsche Mainstreammedien. Mit Zusätzen wie »Die Regierung in Teheran hat bislang nicht bestätigt, daß jetzt auch iranische Truppen gegen die Dschihadisten im Nachbarland kämpfen« (Spiegel online), wahrt man scheinbar ein Mindestmaß an Distanz.

Das Gerücht wurde, wie leider üblich, sofort auch von Internetagitatoren wie Alex Jones aufgegriffen und ausgeschmückt. Was vom Mainstream aber immerhin noch mit einem an professionellen Journalismus erinnernden Fragezeichen versehen wurde, erhielt bei dessen Webportal Infowars – und nicht nur dort – den Charakter feststehender Tatsachen. Daß ausgerechnet Leute, die auf teilweise lächerliche Weise ständig Verschwörungen auf der Spur sind, mit größtem Vertrauen Gerüchte und Desinformationen weiterverbreiten, die nachweislich und erkennbar von neokonservativen, pro-israelischen oder ganz schlicht israelischen Quellen wie ­»DEBKAfile« in die Welt gesetzt wurden, ist ebenso auffällig wie unverständlich.

Fakt ist: Alle iranischen Regierungsstellen, das Militär und auch die Revolutionsgarden haben viele Male ausdrücklich bestritten und es als Lüge bezeichnet, daß Truppen ihres Landes im syrischen Bürgerkrieg mitgekämpft hätten. Das wird sich im Fall Iraks voraussichtlich auch nicht anders entwickeln. Nun sollte man selbstverständlich nicht jedes Dementi einfach glauben. Aber angesichts der Tatsache, daß für einen Einsatz iranischer Einheiten in Syrien noch niemals Beweise geliefert wurden, sind die Aussagen aus Teheran als wahrscheinlicher einzustufen.

*** Aus: junge Welt, Samstag 14. Juni 2014


Dschihadisten ziehen von drei Seiten vor Bagdad

Schiitenführer ruft zu Widerstand auf ****

Aus mindestens drei Richtungen sind die Dschihadisten in Irak am Freitag weiter auf Bagdad vorgerückt. In einem Umkreis von weniger als hundert Kilometern näherten sie sich der Hauptstadt aus den Provinzen Al-Anbar im Westen, Salaheddin im Norden und Dijala im Osten. Nach Polizeiangaben lieferten sich die Armee und Aufständische der Organisation Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIS) unter anderem Kämpfe am Stadtrand von Mukdadijah etwa 35 Kilometer nordöstlich von Bakuba, der Hauptstadt der Provinz Dijala. Andernorts stießen die Dschihadisten kaum auf Widerstand.

In Bagdad rechnet die Bevölkerung mit einem Einmarsch der Islamisten. Die Straßen waren am Freitag weitgehend menschenleer. Der Direktor des Instituts für Militäranalyse im Nahen Osten und am Golf, Riad Kahwadschi, schätzte die Zahl der kampfbereiten Dschihadisten in den Regionen nördlich von Bagdad auf 15 000. Der Internationalen Organisation für Migration in Genf zufolge ergriffen in den Städten Tikrit und Samarra etwa 40 000 Menschen die Flucht.

Das geistliche Oberhaupt der irakischen Schiiten, Ayatollah Ali al-Sistani, rief zum Widerstand gegen die radikalen Sunniten auf. Ein Sprecher von Sistani sagte beim Freitagsgebet in der Schiitenhochburg Kerbela, die Bürger sollten zu den Waffen greifen und »ihr Land, ihr Volk und ihre heiligen Stätten verteidigen«. Wer könne, solle sich den Sicherheitskräften im Kampf gegen die ISIS-Kämpfer anschließen.

Iran sagte der geschwächten irakischen Regierung von Ministerpräsident Nuri al-Maliki seine Unterstützung zu. Teheran wolle helfen, »das Massaker und die Straftaten der Terroristen zu bekämpfen«, sagte Präsident Hassan Ruhani in einem Telefonat mit Maliki. Die USA prüfen nach den Worten von US-Präsident Barack Obama »alle Optionen«. Ein US-Regierungsvertreter gab an, die US-Regierung erwäge Drohnenangriffe.

**** Aus: neues deutschland, Samstag 14. Juni 2014


Irakische Amnesie

Roland Etzel zu deutschen Vergesslichkeiten *****

»Es kommt jetzt darauf an, dass das Voranschreiten von ISIS in Irak gestoppt wird«, gab sich Frank-Walter Steinmeier besorgt. Vielleicht war er es in diesem Moment sogar wirklich. Aber der Zweifel daran ist groß. Darf man einem amtierenden Außenminister soviel partielle Amnesie zubilligen? Das Urteil neigt klar zum Nein, und der SPD-Mann macht einem dies zusätzlich leicht, indem er auch jetzt noch tapfer offensichtliche Zusammenhänge leugnet.

Zum Beispiel das großzügige Darüberhinwegsehen, dass in Deutschland Gotteskrieger für Nahost fast wie in einem Reisebüro vermittelt werden konnten. Man kann wohl nicht sagen, dass deutsche Behörden an dieser Stelle versagt hätten. Eher, dass sie Dschihad-Tourismus nach Kräften nicht verhinderten – was sie in in anderen Fällen durchaus taten, wenn das vermutliche Reiseziel Afghanistan war.

Noch erstaunlicher ist, dass sich Steinmeier auch jetzt noch dem Eingeständnis verweigert, dass deutsche Waffenlieferungen nach Katar oder Saudi-Arabien mit dem Mordfeldzug der Dschihadisten in Irak (und Syrien) irgendetwas zu tun haben könnten. Man müsse »auch mit solchen Staaten weiter im Gespräch bleiben«, so der beleidigt reagierende Außenminister auf entsprechende Vorhaltungen von links.

Die Eigenart von Politikern, öffentlich über Kriege zu jammern und gleichzeitig die hauseigenen Rüstungsschmieden jubeln zu lassen, hatte schon immer etwas sehr Bestechendes.

***** Aus: neues deutschland, Samstag 14. Juni 2014 (Kommentar)


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