Flucht aus Mossul
Eine halbe Million Menschen sollen die nordirakische Stadt nach ihrer Einnahme durch die islamistische Terrorgruppierung ISIL bereits verlassen haben
Von Karin Leukefeld, Damaskus *
Mit der Einnahme der nordirakischen Stadt Mossul hat die Gruppe »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL) – auch bekannt als »Islamischer Staat im Irak und in Syrien« (ISIS) – ihr Einflußgebiet im Mittleren Osten weiter ausgebaut. Regionalen Medienberichten zufolge sollen die Kämpfer den Gouverneurssitz, Regierungsgebäude, Banken, Polizeistationen, Armeeposten, zwei Fernsehanstalten, Krankenhäuser und den Flughafen der Millionenstadt unter ihre Kontrolle gebracht haben. Nach Angaben westlicher Hilfsorganisationen sollen eine halbe Million Menschen aus der Stadt geflohen sein. Die staatlichen Angestellten seien von den Kämpfern über Lautsprecher aufgefordert worden, zur Arbeit zurückzukehren, berichtete Hassan Al-Jubauri (45) der Onlinezeitung Middle East Online per Telefon. Neben Mossul sollen auch andere Orte in der Provinz Niniveh sowie in den benachbarten Provinzen Kirkuk und Salaheddin unter Kontrolle von ISIL stehen. Der irakische Minister für die Wasserressourcen, Muhanad Al-Saadi, sagte, die Kämpfer hätten den Falludschah-Damm am Euphrat, nordwestlich von Bagdad geschlossen. Damit sei eine der wichtigsten Wasserzufuhren für Zentral- und Südirak blockiert.
Der irakische Ministerpräsident Nuri Al-Maliki kündigte an, die Bevölkerung »und die Söhne der Stämme« zu bewaffnen, »um die Heimat zu verteidigen«. Die Regierung habe einen Krisenstab eingerichtet«, sagte Maliki im irakischen Fernsehen. Er kündigte eine »Umstrukturierung und Neuorganisierung« der Sicherheitskräfte an und forderte das Parlament auf, den Notstand zu verhängen. Der irakische Außenminister Hoshjar Zebari, der der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) angehört, erklärte, die kurdischen Streitkräfte würden an der Seite der irakischen Truppen gegen ISIL kämpfen.
ISIL, der angibt einen Staat unter dem Banner des Islam errichten zu wollen, hat sich im vergangenen Jahr zu einer schlagkräftigen und gut ausgerüsteten Truppe gegen die Regierungen in Damaskus und Bagdad entwickelt. Das sichert ihm Zulauf und Geld. Die irakischen Streitkräfte seien wenig motiviert und schlecht ausgebildet, sagte John Drake von der britischen Sicherheitsfirma AKE (London).
Bleibt die Frage, wie ISIL so stark werden konnte. Regierungsgegner in beiden Ländern gehen davon aus, daß die Gruppierung von Geheimdiensten durchsetzt sei. ISIL solle die Bevölkerung einschüchtern und den »Kampf gegen den Terror« rechtfertigen. Manche Vermutungen, insbesondere von Oppositionellen in Syrien, sehen selbst den Iran als Sponsor von ISIL.
Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die Schwächung der irakischen Streitkräfte bedeutet eine klare Schwächung von Nuri Al-Maliki, der nach den Wahlen Ende April ein drittes Mal Staatschef werden will. Das von ISIL mittlerweile kontrollierte Gebiet treibt – von der Grenze Saudi-Arabiens im Süden bis zu Grenze der Türkei im Norden – einen Keil zwischen die Bündnispartner Irak und Syrien. Eine weitere Trennungslinie zieht ISIL vom Westen Syriens (Aleppo) bis in den Osten des Iraks (Mossul), parallel zur Grenze der Türkei. In dem dazwischen verbliebenen Streifen leben vor allem Kurden. Diese Fakten machen klar, daß die Türkei und Saudi-Arabien zu den Nutznießern der ISIL-Angriffe gehören. Vermutlich sind in beiden Ländern auch die Sponsoren zu finden.
* Aus: junge welt, Donnerstag 12. Juni 2014
ISIS rückt auf die Hauptstadt Bagdad vor
Radikale sunnitische Freischärlertruppe genießt die diskrete Unterstützung der arabischen Monarchien
Von Roland Etzel **
ISIS-Freischärler in Irak sind auf
dem Vormarsch: Am Mittwoch fiel
ihnen die Stadt Baidschi, auf halbem
Weg zwischen Bagdad und
Mossul, in die Hände. Bis zur Hauptstadt
sind es noch 200 Kilometer.
Sie nennen sich selbst ISIS – Islamischer
Staat in Irak und Syrien. Das ist
eine recht offenherzige Bezeichnung
dessen, was sie anstreben mit ihrem
seit etwa drei Jahren laufenden Krieg,
der sich von Guerilla-Aktionen zur inzwischen
veritablen Feldschlacht
entwickelt hat. Was sie nicht sagen,
ist, dass sie als »islamisch« für ihren
Herrschaftsbereich einzig die sunnitische
Hauptrichtung des Islam gelten
lassen wollen und das in einer
ziemlich rigiden Auslegung.
Damit ist gleichzeitig das ISISFeindbild
definiert: Es ist erstens die
momentane irakische Regierung unter
dem Schiiten Nuri al-Maliki; zweitens
Syrien, das unter der Assad-
Herrschaft gemessen an anderen
Staaten der Region geradezu ein Hort
der Religionsfreiheit ist oder besser:
bis zum Ausbruch des dortigen Krieges
war; drittens schließlich Iran, das
einzige Land, in dem der Schiismus,
die zweitgrößte Richtung des Islam,
Staatsreligion ist und somit natürlicher
Verbündeter von Damaskus und
Bagdad.
ISIS kontrolliert jetzt in Irak die
Millionenstadt Mossul und die dazugehörige
Provinz Ninive an der Grenze
zu Syrien. Daran schließt sich
grenzübergreifend ein etwa 30 bis 50
Kilometer breiter Streifen an, der im
Westen über die syrischen Großstädte
Deir Ezzor und Rakka bis Aleppo
reicht.
Hatte Bagdads Premier Maliki
dem syrischen Präsidenten Baschar
al-Assad lange Zeit Schützenhilfe
leisten können, indem er den
Nachschub an Kämpfern und Waffen
über die lange irakisch-syrische
Grenze größtenteils verhinderte, so
haben sich die Vorzeichen inzwischen
umgekehrt. Jetzt bedarf Maliki
wohl der Unterstützung durch Assads
Truppen, um den ISIS-Marsch
auf Bagdad wenigstens zu bremsen.
Ob der Syrer das kann oder überhaupt
will, steht allerdings dahin.
Das gilt auch für die Frage, ob der
Schiit Maliki politisch überhaupt noch
zu retten ist. Einst unter dem Sunniten
Saddam Hussein ein politisch
Verfolgter, wurde er nach dem Einfall
der US-Amerikaner in Irak und
mit deren Segen 2006 an die Macht
gespült. Maliki hatte es danach nicht
nur sehr eilig mit der Liquidierung
Saddams, sondern ließ anschließend
dessen gesamte (sunnitische) Führungsstruktur
entmachten, mit Politikverbot
belegen und nicht wenige
hinrichten. Mit Maliki wurden die
Chefs der ehemals unterdrückten
Schiiten nun selbst zu Unterdrückern
der sunnitischen Minderheit.
Maliki hat einen Ausgleich nie gesucht
und bekommt nun die Antwort
eines inzwischen stark radikalisierten
sunnitischen Untergrunds. Dieser
hätte allerdings ohne die allseitige
Unterstützung der – sunnitischen –
Monarchien auf der Arabischen Halbinsel
kaum eine Chance. Die Könige
und Emire tun dies weniger aus Mitleid
mit ihren sunnitischen Brüdern
und Schwestern in Irak und Syrien,
sondern wollen mit Assad und Maliki
die regionalen Verbündeten ihres
Erzfeindes in Teheran zu Fall bringen.
Zu wessen Gunsten diese Rechnung
mit vielen Unbekannten ausgeht,
ist indes völlig offen.
** Aus: neues deutschland, Donnerstag 12. Juni 2014
Königskrieger
Roland Etzel zu den Kämpfen in Irak und Syrien ***
Der irakische Ministerpräsident
bittet die »internationale Gemeinschaft
« – damit meint er die
USA und andere Länder des
Westens – um Hilfe im »Kampf
gegen den Terror«. Ob der Appell
erhört wird, ist aber sehr zweifelhaft.
Zwar möchte Washington
eigentlich nicht, dass Maliki so
endet wie der von ihm mit Bushs
Hilfe gehenkte Saddam Hussein.
Deshalb hat man ihn bereits mit
Milliarden Dollar aufgerüstet.
Erreicht hat der Westen damit
vor allem, dass nun noch mehr
Waffen auf dem Schauplatz sind.
Mit den jetzt zu besichtigenden
Folgen. Ein schlüssiges politisches
Konzept von Washington ist dabei
nicht zu erkennen. Malikis bewaffnete
Widersacher sind vor
allem anonyme Dschihadisten aus
Algerien bis Tschetschenien, die
in Irak wie Syrien die Unzufriedenheit
der Bevölkerung nutzten,
aber längst auf eigene Rechnung
unterwegs sind. Deren Kampf gegen
Assad ist dem Westen recht,
der gegen Maliki aber nicht.
Ebenso verhält es sich mit der
umfassenden Hilfe der Golfmonarchien,
ohne deren Geld und
Waffen für die »Rebellen« heute
wohl weder Assad noch Maliki
derart in Bedrängnis wären.
Vor allem Katar und Saudi-
Arabien wären als Sponsoren der
Kriege in Irak wie Syrien zu nennen,
wobei beide Monarchen
wiederum einander verfeindete
Terrorgruppen aushalten und
damit auf dem Territorium der
Bürgerkriegsländer ihr Fingerhakeln
um die regionale Vorherrschaft
austragen. Wie lange will
die Bundesregierung eigentlich
noch ihre Waffendeals mit den
kriegswütigen Königen auf der
Halbinsel rechtfertigen?
*** Aus: neues deutschland, Donnerstag 12. Juni 2014 (Kommentar)
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