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Neues Kalifat erschreckt arabische Fürsten

Abu Bakr al-Bagdadi gibt sich als neuer Auserwählter, doch nicht alle Glaubenskämpfer sind bereit zur Gefolgschaft

Von Roland Etzel *

Seit Sonntag gibt es in Teilen Iraks und Syriens wieder ein islamisches Kalifat. Jene, die es proklamiert haben, lösen Furcht und Schrecken aus – auch in den Ländern, über die sie gekommen waren.

Rücksturz um fast 1400 Jahre ins Mittelalter? Die arabische Welt macht’s möglich: Es gibt einen neuen Kalifen, und der heißt Abu Bakr al-Bagdadi. Jedenfalls lässt er sich so nennen, denn dass er diesen Namen bereits nach seiner Geburt erhalten hat, ist zu bezweifeln. Al-Bagdadi heißt nichts anderes als Mann aus Bagdad, und Abu Bakr ist der Name des ersten Kalifen (Nachfolgers) des Propheten Mohammed, dessen Schwiegervater er war.

Der auf diese Weise gekürte Führer der Freischärlertruppe, die sich bisher »Islamischer Staat in Irak und Syrien« (ISIS) nannte, trägt diese Namen nicht ohne Grund. Als »Abu Bakr« hat Bagdadi seine prinzipielle Feindschaft gegenüber den Schiiten zu verstehen gegeben. Letztere erkennen allein direkte Nachfahren des Propheten Mohammed als »rechtgeleitete Kalifen« an – also nicht Abu Bakr, den Schwiegervater von Mohammed. Für die Schiiten war Ali, Mohammeds Schwiegersohn, der erste »Rechtgeleitete«, weshalb sie sich seit seiner Ermordung 661 »Schia Ali« – Partei Alis, deutsch: Schiiten nennen.

Die Legende passt also zur angestrebten Politik. Der heutige Abu Bakr und seine Gefolgsleute haben folglich wenig Interesse, die neue Lichtgestalt am islamischen Himmel durch das Bekanntwerden profaner irdische Fakten aus seinem Leben vom Sockel zu holen.

Im Netz kursiert eine Vielzahl ursprünglicher »bürgerlicher« Namen von Abu Bakr. Ibrahim Awwad Ali al-Badri genannt – geboren 1971 in der nördlich Bagdads gelegenen Großstadt Samarra, pikanterweise ein den Schiiten heiliger Ort.

Zweifellos ist hier eine Spur Größenwahn im Spiel. Dennoch wird die Attitüde von ISIS, das sich jetzt nur noch IS – Islamischer Staat – nennt, wohl von vielen Irakern begrüßt. In einer Zeit des staatlichen Verfalls wird jedem Muslim, besonders im heutigen Irak, die Rückbesinnung auf das Kalifat als glorreiches Kapitel der eigenen Geschichte zunächst als Positivum erscheinen.

Die Republik Irak ist seit 1980 in einem nahezu permanenten Kriegszustand. Erst der vom Bagdader Staatschef Saddam Hussein selbstherrlich vom Zaun gebrochene Konflikt mit der schiitischen Islamischen Republik Iran, daran sich fast nahtlos anschließend der Überfall auf das Emirat Kuwait 1990, der den US-Amerikanern in den folgenden Jahrzehnten bis heute Gelegenheit gab, sich in der gesamten Region auf der arabischen Seite des Golfs militärisch festzusetzen.

Als Folge all dessen sind die staatlichen Strukturen Iraks heute nachhaltig zerstört. Die ebenso lächerlichen wie unverschämten Versuche des aktuellen schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, sich weiter an die Macht zu klammern, tun ein Übriges, um dem »Kalifen« vor allem unter den unterprivilegierten Sunniten Zulauf zu verschaffen.

Allerdings endete die Sympathie im (sunnitischen) Volk vielerorts auf jähe Weise, wo ISIS als Eroberer einzog. Berichtet wird von – ganz wie nach Feldzügen im alten Kalifat – Massenhinrichtungen und anderen martialischen Bestrafungen der Besiegten; einmal ganz abgesehen vom Verbot von Fußball und aktueller Musik.

Es ist allerdings nicht so, dass die Anführer der anderen in Irak und Syrien marodierenden bewaffneten Haufen jetzt alle dem »Kalifen« huldigen. Sie bleiben wohl, was sie bisher waren: Todfeinde der jeweiligen schiitisch (Bagdad) und – noch schlimmer – säkular (Damaskus) orientierten Regierungen und gleichzeitig erbitterte Konkurrenten.

Die wichtigsten islamistischen Rebellengruppen in Syrien haben die Ausrufung des »Kalifats« zurückgewiesen. Dies sei »null und nichtig«, erklärten am Montag in einer gemeinsamen Mitteilung die Islamische Front, die größte Rebellenkoalition in Syrien, und die Mudschaheddin al-Scharkija aus der Provinz Dair as-Saur, zu der auch die Nusra-Front gehört. Alle Muslime werden gewarnt, sich in den Dienst von IS zu stellen.

In Aufregung sind nun auch Staaten wie Jordanien, die ISIS/IS bis dato gewähren ließen, als es gegen Damaskus ging. Der jordanische König Abdullah II. bat am Montag »die internationale Gemeinschaft« um Unterstützung. Die IS-Drohung gegen ihn ist unverblümt: Ein YouTube-Video zeigt einen Kämpfers mit Sprengstoffgürtel, der einen jordanischen Pass zerreißt und droht: »Ich habe eine Botschaft für den Tyrannen von Jordanien: Wir kommen mit Tod und Bomben zu euch.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 2. Juli 2014

Irakischer Staat im Chaos

Parlament vertagte sich Kurden planen ohne Bagdad

Die konstituierende Sitzung des irakischen Parlaments ist am Dienstag vor dem Hintergrund der Dschihadistenoffensive im Land gescheitert. Die Abgeordneten in Bagdad konnten sich nicht auf die von der Verfassung vorgeschriebene Wahl eines Parlamentspräsidenten einigen und vertagten sich auf kommende Woche. Angesichts der Kämpfe entsandten die USA 200 weitere Soldaten nach Irak, um, wie es heißt, ihre dortige Botschaft zu schützen. Die US-Vertretung in Bagdad gilt mit ihren knapp 10 000 Geheimdienstlern, Militärs und sonstigen Mitarbeitern als logistisches Zentrum des Pentagons in Mittelost.

Nach tagelangen Kämpfen hat ISIS die strategisch wichtige syrische Stadt Abu Kamal an der Grenze zu Irak eingenommen. Die Milizen hätten volle Kontrolle über Abu Kamal, teilte die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Dienstag unter Berufung auf Bewohner des Ortes mit. ISIS-Kämpfer hätten zudem in dem Ort Al-Bab mehr als 100 Gefangene freigelassen, nachdem ISIS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi eine »Amnestie« erlassen habe.

Anlass der Begnadigung sei die Errichtung des »Islamischen Kalifats«. Mit der Freilassung der Gefangenen wolle die Gruppe die Sympathien der Bevölkerung gewinnen. Es sei zu erwarten, dass demnächst weitere Hunderte Gefangene auf freien Fuß kämen. In der vergangenen Woche hatten ISIS-Kämpfer in dem nordsyrischen Ort Deir Hafir acht Männer gekreuzigt, weil sie für andere Rebellengruppen gekämpft haben.

Die Kurden in Nordirak wollen nach den Worten ihres Präsidenten Massud Barsani ein Referendum über die Unabhängigkeit abhalten. Ein eigener Staat sei ein »natürliches Recht« der Kurden, sagte Barsani gegenüber BBC, wie der Sender am Dienstag berichtete. Der Irak sei schon jetzt geteilt, sagte Barsani. Es sei nur »eine Frage von Monaten. Man werde für niemanden eine Bedrohung sein.

(nd, 2. Juli 2014)




Moskau springt ein

Während die US-Regierung versprochene Waffenlieferungen verzögert, treffen russische Kampfflugzeuge im Irak ein. Kurden drohen mit Unabhängigkeitsreferendum

Von Knut Mellenthin **


Die US-Regierung schickt noch mehr Militärpersonal in den Irak. Barack Obama teilte dem Kongreß am Montag die Entsendung von weiteren 200 Soldaten nach Bagdad mit. Aufgabe der zusätzlichen Kräfte, bei denen es sich mehrheitlich um Angehörige der Marines und verschiedener Spezialtruppen handeln dürfte, soll angeblich die Verstärkung des Schutzes der US-Botschaft in der irakischen Hauptstadt und von US-amerikanischen Bürgern sein. Die Soldaten sollen außerdem Versorgungseinrichtungen der Botschaft und den Internationalen Flughafen von Bagdad bewachen. Zu ihrer Unterstützung verlegen die USA auch eine nicht genannte Zahl von Hubschraubern und Drohnen in den Irak.

Damit erhöht sich die Zahl der Soldaten, die Obama in den vergangenen zwei Wochen in den Irak geschickt hat, auf 775. Am 16. Juni hatte der Präsident schon einmal das zur Sicherung der Botschaft eingesetzte Militärpersonal um 275 Männer und Frauen verstärken lassen. In der vergangenen Woche ordnete Obama die Entsendung von 300 »Militärberatern« an. Ihre Aufgabe soll zunächst darin bestehen, sich ein Bild von der Lage im Lande und insbesondere von der Stärke und Einsatzbereitschaft der irakischen Streitkräfte zu machen. Darüber hinaus führen die USA täglich 35 bis 40 Aufklärungsflüge mit Düsenjägern und unbemannten Flugkörpern über dem Irak durch. Seit einigen Tagen sind auch bewaffnete Drohnen im Einsatz – ausschließlich zum Schutz US-amerikanischer Soldaten, wie es offiziell heißt.

Dagegen muß Irak weiter auf die Apache-Kampfhubschrauber und die F-16-Düsenjäger warten, die die US-Regierung schon im vorigen Jahr versprochen hatte. Derzeit heißt es in Washington, daß die Lieferung im Herbst beginnen soll. Allerdings müßten dann noch irakische Piloten für diese Maschinen ausgebildet werden.

Schneller ist Rußland, das nach irakischen Angaben am Wochenende und am Montag insgesamt zwölf Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi SU-25 in den Irak transportiert hat. Die SU-25 dient zur Luftunterstützung von Bodenoperationen. Ihr Erstflug fand 1975 statt. Seit 1978 wurde sie in der Sowjetunion in Serie produziert. Die irakische Luftwaffe war unter Saddam Hussein mit diesem Flugzeug ausgerüstet worden, verlor die meisten aber schon im ersten Krieg gegen die USA 1991. Spätestens seit dem zweiten Krieg 2003 ist diese Maschine im Irak nicht mehr im Einsatz. Iraker, die an der SU-25 ausgebildet wurden und sie selbst geflogen haben, sind mittlerweile in fortgeschrittenem Alter. Außerdem muß zunächst mit Hilfe russischer Berater die erforderliche Logistik eingerichtet werden.

Die optimistische Aussage der Regierung in Bagdad, daß die eben angelieferten Maschinen schon in den nächsten drei oder vier Tagen eingesetzt werden könnten, ist daher trotz des Zusatzes »Inschallah« (so Gott will) mit Vorsicht zu genießen.

Am Dienstag trat erstmals das am 30. April neu gewählte Parlament zusammen. Nach der Verfassung müßte es jetzt einen Sprecher wählen und damit einen Prozeß von maximal 60 Tagen zur Wahl eines Präsidenten und zur Einsetzung einer Regierung einleiten. Das wird aber von sunnitischen, kurdischen und anderen oppositionellen Politikern blockiert, die als erstes den Rücktritt von Premier Nuri Al-Maliki erzwingen wollen.

Zur gestrigen Eröffnungssitzung waren zwar immerhin 255 der insgesamt 328 Abgeordneten erschienen. Nach einer Pause kehrten allerdings nur noch 75 in den Saal zurück, so daß die Beschlußfähigkeit nicht mehr gegeben war. Das Parlament vertagte die Sitzung um zunächst eine Woche.

Der britische Sender BBC meldete am Montag, daß der Präsident der autonomen irakischen Region Kurdistan, Masud Barsani, für die nächsten Monate eine Volksabstimmung über die staatliche Unabhängigkeit angekündigt habe. Als einziges Land der Welt hat Israel die Bildung eines Kurdenstaates und damit die Spaltung Iraks vorauseilend begrüßt.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 2. Juli 2014


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