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Schlechte Aussichten für Bushs Günstling

USA-Regierung: Ja zur Unterstützung für Bagdad, aber nicht für Ministerpräsident Maliki

Von Roland Etzel *

Die irakische Armee hat wieder die volle Kontrolle über die größte Ölraffinerie des Landes. Die USA sagten Bagdad zu Wochenbeginn Militärunterstützung zu, aber noch zögern sie.

Die Autoschlangen vor den Tankstellen in den von der Armee kontrollierten Gebieten Iraks, vor allem in Bagdad, hatten Mitte der Woche Kilometerlänge erreicht. Der Nachschub an Sprit in einem der ölreichsten Länder der Erde stockte, weil die größte Raffinerie des Landes heftig umkämpft war. Sie liegt 200 Kilometer nördlich Bagdads in der 60 000-Einwohner-Stadt Baidschi. Kämpfer von Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) waren bereits bis aufs Werksgelände vorgedrungen, wie ins Netz gestellte Videos zeigten.

Nun aber soll die irakische Armee die Stadt laut dpa wieder vollständig unter Kontrolle haben – ein bedeutender Erfolg für Bagdad, denn Baidschi belieferte auch ein dort befindliches Elektrizitätswerk, das Hauptversorger für die Hauptstadt ist. Die Armee hatte in Baidschi sogar die Luftwaffe eingesetzt. Solange aber die geflohenen Arbeiter nicht in die teilzerstörten Anlagen zurückgekehrt sind, nützt alles militärische Getöse wenig und fließen weder Benzin noch Strom nach Bagdad.

Schon vor einer Woche hatte US-Außenminister John Kerry ein militärisches Eingreifen amerikanischer Streitkräfte in Irak gegen ISIS in Aussicht gestellt und »eine zügige Entscheidung des Präsidenten« in der Sache versprochen. So leicht und ohne Bedingungen will es Barack Obama aber dem bedrängten irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki nicht machen. Der Günstling von Obamas Vorgänger George Bush jun. hat von seinen Versprechungen, die »nationale Einheit« nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 wiederherzustellen, nichts umgesetzt. Der Schiit Maliki und seine Politik der totalen politischen Ausgrenzung aller Sunniten sind Teil des irakischen Problems und nicht das geringste.

Inzwischen heißt es, Washington zweifle immer mehr daran, dass Maliki der richtige Mann für eine Versöhnung mit den Sunniten ist. Lau »Wall Street Journal« wollen die USA eine Regierung ohne Maliki. Man lässt ihn erst einmal weiter zittern. Generalstabschef Martin Dempsey ließ am Donnerstag laut dpa mitteilen, für Luftangriffe der USA sei es wegen der chaotischen Lage noch zu früh. Die Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des Senats, Dianne Feinstein, sagte vor dem Kongress, an Unterstützer Malikis gewandt: »Die Regierung Maliki muss gehen, wenn Sie eine Versöhnung wollen.«

Während Bundeskanzlerin Angela Merkel weiterhin so tut, als hätte Deutschland mit dem Krieg in Irak eigentlich nichts zu tun, sieht die Opposition das anders und erneuert seit langem gestellte Forderungen an Berlin; als erstes einen sofortigen Stopp von Waffenlieferungen an Katar und Saudi-Arabien, weil die beiden Staaten die sunnitische Terrorgruppe ISIS mit aufrüsteten. Der LINKE-Abgeordnete Wolfgang Gehrcke sagte, nötig seien eine internationale Konferenz einschließlich der Assad-Regierung in Syrien sowie eine Kooperation mit Iran.

* Aus: neues deutschland, Freitag 20. Juni 2014


Obama konzeptlos

Der US-Präsident weiß nicht, was er im Irak machen will. Aber er glaubt, dafür nicht die Zustimmung des Kongresses zu benötigen

Von Knut Mellenthin **


Die irakische Regierung hat die USA angeblich um den Einsatz ihrer Luftwaffe gebeten. Das teilte Generalstabschef Martin Dempsey am Mittwoch bei einer Anhörung im Senat mit. Eine offizielle Bestätigung aus Bagdad lag zunächst nicht vor. Dempsey ließ offen, welche Art von Unterstützung die irakische Regierung genau erwartet und wie Washington darauf reagieren will. Er trug dem für die Ausgabenbewilligung zuständigen Ausschuß des Senats jedoch seine Ansicht vor, daß gezielte Luftangriffe im Irak schwer durchzuführen sein würden, weil die sunnitischen Rebellen eng mit der örtlichen Bevölkerung verbunden seien. Das größere Problem, so Dempsey, sei, daß die Regierung des schiitischen Premiers Nuri Al-Maliki die »sektiererische« Spaltung zwischen den Religions- und Volksgruppen des Landes verschärft habe.

Vor Schwierigkeiten und Risiken eines direkten militärischen Eingreifens warnte am Mittwoch auch General David Petraeus, Oberkommandierender im Irak von Februar 2007 bis September 2008. Auf einer außenpolitischen Konferenz in London sagte er, die USA sollten Maliki keine militärische Unterstützung leisten, solange es in Bagdad keine »Regierung des gesamten Volkes« gebe, »die alle Elemente Iraks vertritt und ihnen gegenüber verantwortlich ist«. Die USA könnten nicht »die Luftwaffe für schiitische Milizen« sein. »Es muß ein Kampf des ganzen Iraks gegen die Extremisten sein.«

Das Wall Street Journal titelte am Mittwoch kurz und explizit: »Die USA signalisieren, daß Maliki gehen sollte.« Die Obama-Administration arbeite auf die Bildung einer Koalitionsregierung hin, der Maliki nicht mehr angehört, da sie überzeugt sei, daß er nicht fähig sei, sich mit der sunnitischen Minderheit zu versöhnen und die politische Landschaft des Iraks zu stabilisieren, behauptete die neokonservative Tageszeitung. Das war ein bißchen mehr interpretiert als referiert, entspricht aber im wesentlichen offenbar den Tatsachen. Das Blatt zitierte den Pressesprecher des Weißen Hauses, James Carney, mit der Aussage: »Das irakische Volk muß entscheiden, wie sich die nächste Koalitionsregierung zusammensetzt und wer Premierminister wird. Egal, ob das der derzeitige Premier sein wird oder ein anderer Führer, wir werden diesen Führer mit äußerstem Nachdruck auf die absolute Notwendigkeit hinweisen, die sektiererische Regierungsweise zu verwerfen.« Ganz deutlich sagte es die demokratische Senatorin Dianne Feinstein, die den Vorsitz im Geheimdienstausschuß des Senats führt, am Mittwoch bei einer Anhörung: »Die Maliki-Regierung, klar ausgesprochen, muß gehen, wenn es eine Versöhnung geben soll.«

Präsident Barack Obama hat anscheinend immer noch nicht entschieden, wie er vorgehen will. Die Tendenz der Aussagen aus dem Weißen Haus und dem State Department ist, daß man nichts überstürzen wolle und daß es eine ausschließlich militärische Antwort auf die Lage nicht geben könne. Am Mittwoch abend hatte Obama die vier Spitzenpolitiker des Kongresses zu Gast: die Sprecher von Mehrheit und Minderheit im Senat und im Abgeordnetenhaus. Die Dauer des Treffens, nur eine Stunde, deutet klar darauf hin, daß der Präsident keine Diskussion führen, sondern nur seiner Unterrichtungspflicht genügen wollte. Parlamentarier aus beiden großen Parteien haben wiederholt gefordert, Obama müsse dem Kongreß endlich seine Strategie und seine konkreten Pläne zur Irak-Krise präsentieren.

Erfahren haben die vier Kongreßmitglieder nichts Wesentliches. Die Fraktionschefin der Demokraten im Abgeordnetenhaus, Nancy Pelosi, sagte nach dem Treffen, der Präsident »trug uns keine Aufstellung von Aktionen vor, die er durchführen will. Er sprach nur über seine Sicht der Dinge, die dort geschehen.« Immerhin kennen die Abgeordneten und Senatoren nun aber die Überzeugung des Präsidenten, daß er für das, was er im Irak veranlassen wird, keine Autorisierung durch den Kongreß benötigen werde.

** Aus: junge Welt, Freitag 20. Juni 2014


Hilferuf an Ankara

Turkmenen im Irak gründen nach ISIL-Attacken Miliz. Kurden bilden Regierung

Von Nick Brauns ***


Die türkische Regierung gerät durch Meldungen über Massaker von Kämpfern der Gruppe »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS) an Turkmenen im Irak unter Druck. »Wir wollen eine türkische Intervention«, forderte der Sprecher der Irakischen Turkmenenfront (ITF), Ali Mahdi, der Tageszeitung Hürriyet Daily News zufolge am Dienstag offen ein militärisches Eingreifen Ankaras im Irak. Er warnte vor einer drohenden Eroberung der derzeit von kurdischen Peschmerga gehaltenen Erdölstadt Kirkuk durch ISIL.

Am Sonntag war bereits die mehrheitlich von Turkmenen bewohnte Stadt Tal Afar in die Hände der islamistischen Milizen gefallen. In der Region leben nach Angaben der türkischen Tageszeitung Today’s Zaman bis zu 450000 Turkmenen, mehrheitlich Schiiten, die von den Kämpfern der ISIL als Ketzer betrachtet und blutig verfolgt werden. Bis zu 100000 schiitische Turkmenen flohen in den vergangenen Tagen in das von den Peschmerga geschützte Gebiet Sinjar westlich von Mossul. Umgeben von bewaffneten Männern kündigte der Vorsitzende der Turkmenenfront von Kirkuk, Ersad Salihi, am Dienstag die Bildung einer Miliz zum Selbstschutz an. In der südlich von Kirkuk gelegenen Stadt Tus Khurmatu hätten sich bereits 1500 junge Männer bewaffnet, erklärte der dortige Kommandant der Miliz, Arjomend Mali. Mittlerweile sind auch Peschmerga in die von der irakischen Armee verlassene Stadt, in der außer Turkmenen auch Kurden und Araber leben, eingezogen und haben die kurdische Fahne gehißt.

Die Turkmenenfront lehnt eine kurdische Herrschaft über Kirkuk, das sie als eine ursprünglich turkmenische Stadt sieht, jedoch ab. Nach dem Golfkrieg 2003 wurde die ITF, die über enge Beziehungen zu den faschistischen Grauen Wölfen in der Türkei verfügt, von Ankara mit Geld und Waffen unterstützt. Ihre Mitglieder waren an Anschlägen auf kurdische Parteien beteiligt. Vor dem Hintergrund der durch wirtschaftliche Kontakte seit 2007 deutlich verbesserten Beziehungen der Türkei zu den irakischen Kurden ist die Bedeutung der ITF als fünfte Kolonne Ankaras allerdings zurückgegangen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat bezüglich der Bedrohung der irakischen Turkmenen durch die zuvor von Ankara in Syrien unterstützte ISIL bislang nur erklärt, die Gefahr für diese Bevölkerungsgruppe dürfe nicht unterschätzt werden.

Unter dem Eindruck der Bedrohung durch die ISIL wurde nach neunmonatigen Koalitionsverhandlungen am Mittwoch in Erbil, der Hauptstadt der autonomen »Region Kurdistan – Irak«, eine neue Regierung vereidigt. Ihr gehören neben der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) des kurdischen Präsidenten Masud Barsani und der seit Jahren mitregierenden Patriotischen Union Kurdistans (PUK) des seit anderthalb Jahren in einem Berliner Krankenhaus liegenden irakischen Staatspräsidenten Dschalal Talabani erstmals auch zwei islamische Parteien sowie die »Bewegung für den Wandel« (Gorran) an. Letztere ist eine Abspaltung der PUK, die mit ihrer Forderung nach transparenten Staatsfinanzen bei den Wahlen im September 2013 zur zweitstärksten Kraft wurde. Jetzt stellt Gorran den Peschmerga-Minister. Daß dieser tatsächlich Macht über die Streitkräfte hat, ist aber zu bezweifeln. Schließlich handelt es sich bei den Peschmerga faktisch um Parteimilizen der KDP und PUK, während Gorran über keine eigenen bewaffneten Kräfte verfügt.

In ihrer ersten Amtshandlung verkündete die neue kurdische Regierung die militärische Generalmobilmachung gegen ISIS. Zwar blieb die Autonomieregion bislang von Angriffen der Dschihadisten verschont, und die Peschmerga konnten in die von der irakischen Armee geräumten »umstrittenen Gebiete« vordringen. Doch Zehntausende Flüchtlinge aus Mossul sind nach Kurdistan geflohen, die Benzin- und Lebensmittelpreise sind massiv angestiegen. Zudem hatte die Bagdader Zentralregierung aus Protest gegen eigenständige Ölgeschäfte der Kurden mit der Türkei seit März nicht mehr den der Autonomieregierung zustehenden 17prozentigen Haushaltsanteil überwiesen. Nach der kampflosen Eroberung der Erdölmetropole Kirkuk könnte dieser Verlust zukünftig allerdings mehr als ausgeglichen werden.

*** Aus: junge Welt, Freitag 20. Juni 2014


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