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US-Spezialeinheit nach Irak entsandt

Anhaltende Kämpfe vor Bagdad *

Rund eine Woche nach Beginn des Islamistensturms in Irak wächst die Gegenwehr auch international. Die US-Regierung entsendet eine 275 Mann starke Spezialeinheit in den Irak. Die Truppe sei wenn nötig auch zum Kampf gerüstet, teilte US-Präsident Barack Obama mit. Die Islamisten versuchten am Dienstag weiter, nach Bagdad vorzudringen, wurden aber teils zurückgeschlagen. Eigenen Äußerungen zufolge behalten sich die USA ein militärisches Eingreifen in Irak vor, um den Vormarsch der Sunnitenmiliz Islamischer Staat im Irak und in Syrien auf Bagdad zu stoppen. Als Optionen gelten Luftangriffe sowie ein umfassenderes Training irakischer Sicherheitskräfte. Der Einsatz von US-Bodentruppen wurde bis jetzt ausgeschlossen.

Zur entsandten Spezialeinheit teilte Obama dem Kongress mit, sie solle die Botschaft in Bagdad und die dort arbeitenden US-Amerikaner schützen. Die Bagdader Vertretung ist allerdings weit mehr als eine Botschaft. In der weltweit größten US-Vertretung in Irak sind rund 5000 US-Amerikaner tätig; die meisten von ihnen auf militärisch und politisch höchst sensiblen Feldern.

Vor der Gefahr eines noch größeren Krieges in der Region warnte am Dienstag der UN-Menschenrechtsrat in Genf, der die Konflikte in Irak und Syrien erstmals öffentlich im Zusammenhang behandelte. Der Bürgerkrieg in Syrien und die Kämpfe im benachbarten Irak könnten nach Einschätzung von UN-Ermittlern rasch auf die gesamte Region übergreifen. »Ein regionaler Krieg im Nahen Osten rückt immer näher«, warnte der Leiter der unabhängigen Syrien-Untersuchungskommission, Paulo Sérgio Pinheiro. 60 Kilometer nördlich von Bagdad scheiterten die Dschihadisten mit einer Gefängnisbefreiung. Bei dem Angriff nahe der Stadt Bakuba wurden laut einem Medienbericht mindestens 44 Häftlinge getötet.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 18. Juni 2014


Washington will in Irak mehr als nur drohen

USA schicken Spezialeinheit nach Bagdad / Bombardierungen werden vorbereitet / Teilungspläne auf dem Tisch

Von Roland Etzel **


Angesichts des Vormarsches der Dschihadisten schicken die USA Soldaten nach Irak. Es heißt, sie sollen US-Bürger in Irak schützen, seien aber auch für Kampfeinsätze ausgerüstet.

Es wird wie eine Selbstverständlichkeit verkauft: Angesichts der bedrohlichen Offensive fanatischer sunnitischer Kampfverbände in Nordwestirak habe die US-Regierung eine 275 Mann starke Spezialeinheit nach Irak entsandt, um die Botschaft in Bagdad und die dort arbeitenden Amerikaner zu schützen. 170 davon sind nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums bereits seit dem Wochenende in der irakischen Hauptstadt, erfährt man noch. Die Truppe sei, wenn nötig, auch für den Kampf gerüstet.

Sollte eventuell jemand der besorgte Gedanke befallen, hier gehe nicht alles nach Recht und Gesetz, wusste ihn US-Präsident Barack Obama zu beruhigen: Dies alles sei bereits vorab dem Kongress mitgeteilt worden – dem US-Kongress versteht sich. Wann und ob überhaupt ein Einvernehmen mit den regulären irakischen Gremien hergestellt wurde, wird nicht mitgeteilt. Die USA sorgen sich eben um die Stabilität der Region und fürchten einen Zerfall des irakischen Staates, heißt es lapidar.

Nun darf man zwar annehmen, dass Iraks Ministerpräsident Nuri al-Maliki gegen die Intervention nichts einzuwenden hat, aber gefragt hat man ihn eben nicht. Bagdad habe im Nachhinein zugestimmt. Das sagt einiges aus über Rang und tatsächliche Bedeutung der Bagdader Regierung gegenüber Washington, obwohl zum Ende 2011 alle US-Besatzungstruppen aus Irak abgezogen sind. Es wäre übrigens nicht abwegig gewesen, im UN-Sicherheitsrat über die Lage in Irak zu beraten, zumal zwischen den Vetomächten in Bezug auf Irak – anders als bei Syrien – offensichtlich keinerlei Dissens besteht.

Die USA-Verantwortlichen ziehen es vor, sich mit Iran abzustimmen, wobei immer wieder betont wird, es gebe trotzdem keine militärische Zusammenarbeit. Aber die ist gegen die Sunnitentruppe Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) unmittelbar ohnehin nicht erforderlich. Dafür, was die US-Amerikaner vorhaben, ist schon ein informeller Abgleich logistischer Erkenntnisse recht wertvoll.

Was aber wollen die USA perspektivisch in Irak? Sicherlich schwebt Obama kein vieljähriges neues Besatzungsabenteuer vor. Aber mehr als drohen will er schon. Nach Einschätzung des deutschen Nahostexperten Michael Lüders bereiten die USA wahrscheinlich Militärschläge auf ISIS-Stellungen vor. Beim angekündigten Einsatz der Spezialeinheit gehe es jedenfalls nicht nur darum, amerikanische Bürger zu schützen, sagte Lüders dem Sender n-tv.

Was genau – das hängt sehr davon ab, wofür Obama Mehrheiten im Kongress findet. Sollen die ganzen an Malikis Armee gelieferten hochwertigen Waffen nicht für die Katz gewesen sein oder gar bei ISIS landen, muss deren Führern kräftig auf die Finger geklopft werden. Das hat aber nur Sinn, wenn es auch in deren zweitem »Stammland« Syrien geschieht. Wohl oder übel – für Washington – dürfte damit aber die Position von Syriens Präsident Baschar al-Assad entscheidend gestärkt werden. Schließlich müsste auch den Ölmonarchen auf der Arabischen Halbinsel die Rote Karte gezeigt werden. Ansonsten bliebe es für die USA bei der skurrilen Situation, dass die radikalsunnitischen Emire und Könige mit Washingtons Waffen Washingtons – schiitische – Verbündete wie den Bagdader Ministerpräsidenten bekämpfen. Aber dass Obamas Administration für einen solchen Befreiungsschlag auch die nötigen Mehrheiten im Kongress findet, ist nicht ausgemacht.

Das wollen nicht alle Verbündeten Washingtons abwarten und drängen zu Entscheidungen. Die jüngste Eskalation dürfte die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten in Irak erheblich vertieft haben. Die zahlreichen Bürgerkriege und Kriege des vorigen Jahrhunderts haben zudem verhindert, dass sich eine »irakische Identität« herausbilden konnte. Teilungsgedanken führen deshalb nicht zu einem sofortigen Aufschrei.

Der Regierungschef der kurdischen Provinzen in Nordirak schlug am Dienstag laut dpa Autonomieregionen für sunnitische Muslime in dem arabischen Land vor. Der kurdische Ministerpräsident Nechirvan Barsani sagte gegenüber BBC, der beste Weg aus der Krise wäre die Einrichtung einer eigenständigen Sunnitenregion – ähnlich den autonomen kurdischen Gebieten. Dem schiitischen irakischen Regierungschef Nuri al-Maliki warf er vor, die Sunniten mit seiner Politik systematisch ausgeschlossen zu haben.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 18. Juni 2014


Nicht haltbar

Iranisch-amerikanische Gedankenspiele

Von Knut Mellenthin ***


Die Sensation lebte nur wenige Stunden. »Der Vormarsch der islamischen Terrorgruppe ISIL im Irak bringt die politischen Allianzen in Bewegung. Inzwischen hält die US-Regierung sogar eine militärische Kooperation mit dem iranischen Regime für denkbar, um das Vorrücken der Dschihadisten zu stoppen«, hatte es am Montag für kurze Zeit auf Position eins der Website von Spiegel online geheißen.

Kurz darauf mußte mit voller Kraft zurückgerudert werden. Nun hieß es plötzlich: »Pentagon schließt militärische Kooperation mit Iran aus.« Zitiert wurde der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Admiral John Kirby, mit der definitiven Aussage: »Es gibt absolut keine Absicht und keine Pläne, um Militäraktionen zwischen den Vereinigten Staaten und Iran zu koordinieren. Es gibt auch keine Pläne für Konsultationen mit Iran über militärische Aktivitäten im Irak.«

Zur Rettung der eigenen Ehre setzte Spiegel online hinzu: »Das Pentagon widerspricht damit Außenminister Kerry.« – Aber stimmt das wirklich? John Kerry hatte zuvor ein ungewöhnlich langes Interview mit Yahoo-News geführt, das auf der Website des State Department nachzulesen ist. Auf die Frage »Sehen Sie die Möglichkeit einer militärischen Kooperation mit Iran?« hatte Kerry geantwortet: »Ich … – In diesem Moment müssen wir, denke ich, Schritt für Schritt vorgehen und sehen, was tatsächlich zur Realität werden könnte, aber ich würde nichts ausschließen, was konstruktiv dazu beitragen könnte, für reale Stabilität zu sorgen, für Respekt vor der Verfassung.« Auf die Nachfrage »Falls Iran das anerkennt, wären Sie dann bereit, mit diesem Land zusammenzuarbeiten?« sagte der Außenminister: »Warten wir ab, was Iran bereit oder nicht bereit sein könnte zu tun, bevor wir anfangen, irgendwelche Stellungnahmen abzugeben.«

Daß dies keine Regierungserklärung war, in der völlig überraschend eine totale Kursänderung der US-Politik bekanntgegeben wurde, sondern nur ein nicht sehr präzises Herumgestotter eines manchmal überforderten Politikers, dessen Äußerungen schon häufiger durch seine Pressesprecherin ausgebügelt werden mußten, ist offensichtlich. Daß die USA mit dem Iran, gegen den sie einen historisch beispiellosen Wirtschaftskrieg führen, plötzlich militärisch kooperieren wollen, ist äußerst unwahrscheinlich. Welche Strukturen und welche Interessen konnten trotzdem dazu führen, aus diesem Interview eine Mediensensation zu machen, deren äußerst kurze Verweildauer auf den Online-Seiten voraussehbar war?

Offenbar senken die Arbeitsbedingungen des Internet die Hemmschwelle, Gerüchte ungeprüft weiterzuverbreiten, die Ansprüche an Nachrichtenquellen auf null zu reduzieren, und journalistische Schnellschüsse zu produzieren, die man wenige Stunden später widerrufen muß. Entsprechend vorsichtig, ja mißtrauisch, sollten diese Medien zur Kenntnis genommen werden.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 18. Juni 2014


UNO gibt Bagdad Mitschuld an Irak-Krise

Generalsekretär Ban fordert Regierungschef Maliki zu Dialog auf. Türkei verhängt Nachrichtensperre ****

Der Generalsekretär der UNO, Ban Ki Moon, hat der Regierung in Bagdad indirekt eine Mitschuld an der Eskalation der Gewalt im Irak gegeben. »Ich habe Iraks Premier Nuri Al-Maliki dringend dazu geraten, einen umfassenden Dialog zur Lösung des Konflikts aufzunehmen», sagte Ban am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Genf.

Ban forderte die Einbeziehung aller Volksgruppen in die Suche nach einer politischen Lösung. »In einem irakischen Staat muß gewährleistet sein, daß alle Menschen friedlich zusammenleben können, egal ob sie Sunniten, Schiiten oder Kurden sind.«

Scharf verurteilte der UN-Generalsekretär Massenhinrichtungen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen durch die islamistische Gruppierung ISIL. Vergeltungsschläge gegen bestimmte Volks- oder Religionsgruppen müßten jedoch unterbunden werden. »Es gibt ein konkretes Risiko wachsender konfessionsgebundener Gewalt massiven Ausmaßes, im Irak und jenseits seiner Grenzen«, warnte Ban.

Kampfverbände der ISIL stießen bei ihrer Offensive mittlerweile bis nach Bakuba vor. Die Aufständischen übernahmen zeitweise die Kontrolle mehrerer Viertel der Provinzhauptstadt. Nach heftigen Gefechten gelang es der Armee aber, sie wieder zu vertreiben. Während des Angriffs wurden in einer Polizeiwache 44 Gefangene getötet. Unklar ist, von wem.

Ein Gericht in Ankara hat derweil jede weitere Berichterstattung über die Geiselnahme im türkischen Generalkonsulat im irakischen Mossul verboten. Die Zensur sei verhängt worden, um die Sicherheit der Geiseln nicht zu gefährden, zitierte der türkische Rundfunk aus der Urteilsbegründung. Bei der Erstürmung der zweitgrößten irakischen Stadt durch Islamisten waren in der vergangenen Woche fast 50 türkische Staatsbürger in der diplomatischen Vertretung als Geiseln genommen worden. Berichten zufolge war der türkische Geheimdienst über den Vorstoß der ISIL-Kämpfer informiert.

**** Aus: junge Welt, Mittwoch, 18. Juni 2014


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