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Gespenster des Terrors

Nordirak: Zehntausende Menschen auf der Flucht vor Gotteskriegern des IS

Von Karin Leukefeld *

Mit der Einnahme des Ortes Karagosch im Nordirak haben Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) Zehntausende Menschen in die Flucht getrieben. Nach Angaben des chaldäischen Patriarchen vom Irak, Louis Sako, haben die Kämpfer in den Kirchen der mehrheitlich von Christen bewohnten Stadt Kreuze, religiöse Schriften und Bilder zerstört. Karagosch liegt wenige Kilometer südlich der Hauptverbindungsstraße zwischen Mossul und Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak. Weder die irakische noch die kurdische Regierung seien in der Lage, die Menschen zu schützen, sagte Sako. »Wir rufen alle Völker guten Willens, den UN-Sicherheitsrat, die Europäische Union und Hilfsorganisationen auf, den Menschen in ihrer Todesnot zu helfen.«

Nach der Einnahme von Mossul durch die Gruppe, die sich damals noch »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIS/ISIL) nannte, waren Zehntausende Menschen nach Karagosch geflohen in der Hoffnung, daß der Spuk in Mossul bald ein Ende haben würde. Das Gegenteil geschah. ISIL/ISIS rief einen »Islamischen Staat« aus und ordnete an, daß dieses fortan auch ihr Name sein solle. Weil die Kämpfer zusammen mit irakischen Widerstandskämpfern der früheren Baath-Partei und der westirakischen Stämme auftraten, erhofften sich viele eine »Revolution« gegen die von Nuri Al-Maliki dominierte Regierung in Bagdad.

Doch um Politik geht es dem »Islamischen Staat« nicht. IS terrorisiert die schwächsten und verletzlichsten Teile der über Jahrtausende gewachsenen Gesellschaften im Irak und in Syrien. Frauen werden gezwungen, im Haus zu bleiben, Christen, ihrem Glauben abzuschwören. Schiiten werden als »Ungläubige« ermordet. Kirchen und schiitische Moscheen werden ebenso zerstört, wie Denkmäler von Dichtern, Geistlichen oder historischen Persönlichkeiten aus vorislamischer Zeit.

In Sinjar (Nordirak) greifen die Gotteskrieger Jesiden an. In Salamiye, einer mehr als 5000 Jahre besiedelten Stadt in der syrischen Provinz Hama, ermordeten sie vor wenigen Tagen eine Familie, darunter zwei Kinder. Die Familie zählt zu der religiösen Minderheit der Ismailiten, einer Strömung des schiitischen Islam. In der kleinen Stadt Amerli südlich von Kirkuk leisten Kurden und Turkmenen, die zu einer schiitischen Minderheit zählen, Widerstand gegen einen »Islamischen Staat«, der ihnen aufgezwungen werden soll. Bereits 2007 war Amerli durch eine riesige Autobombe schwer verwüstet worden. Verantwortlich für den Anschlag, bei dem fast 200 Menschen starben, war der Vorläufer des heutigen IS. Damals nannte die Gruppe sich »Islamischer Staat im Irak«, ein Ableger der Al-Qaida im Irak.

Kern von IS sind Personen, die als Al-Qaida in Afghanistan und später im Irak gekämpft haben. Zulauf bekommen sie von jungen Männern aus Syrien und Irak, denen sie Waffen, Kleidung, Essen und Geld geben. Mit einer effektiven Medienarbeit, die in vielen Sprachen die »sozialen Medien« aktuell bedient und die über direkte Kontakte zu großen Nachrichtenagenturen wie Reuters und AFP verfügt, bestimmt IS die Berichterstattung arabischer und westlicher Leitmedien und erreicht potentielle Kämpfer und Sponsoren in aller Welt. 400 Deutsche sollen sich in den Reihen von IS und ihrer Konkurrenzorganisation Al-Nusra-Front aufhalten. Zu den Ausbildern gehören ehemalige Elitesoldaten der französischen, niederländischen oder britischen Streitkräfte. Als IS-Kämpfer kürzlich ein Gasfeld in der syrischen Provinz Homs eroberten, rief einer von ihnen, der zwischen Leichen vor einer Kamera hockte, in deutscher Sprache Gleichgesinnte auf, ihm zu folgen.

Die Hintermänner dieser Terrortruppe sitzen in den Golfstaaten. Der NATO-Partner Türkei läßt die Terroristen im Namen des Islam bis heute ungehindert die Grenze passieren. Anfang der Woche hat das US-Finanzministerium Sanktionen gegen drei Personen verhängt, die sowohl IS als auch die Nusra-Front finanziert, bewaffnet und den Zustrom von Kämpfern organisiert haben sollen. Nach Angaben der kuwaitischen Nachrichtenagentur KUNA soll es sich bei den Männern um Kuwaitis handeln.

* Aus: junge Welt, Freitag 8. August 2014


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