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Ins Chaos gestürzt

Im Mittleren Osten verliert das Sykes-Picot-Abkommen seine Gültigkeit

Von Karin Leukefeld *

Rechtzeitig zu Beginn des Fastenmonats Ramadan hat der »Islamische Staat im Irak und in Syrien/Levante« ein »Islamisches Kalifat« in Syrien und im Irak ausgerufen. Sollten die nordirakischen Kurden nachziehen und ebenfalls einen eigenen Staat verkünden, müßte die Landkarte der Region neu gezeichnet werden. Sie entspräche zumindest in Teilen dem von der früheren US-Außenministerin Condoleezza Rice skizzierten »Neuen Mittleren Osten«. Rice hatte während des Krieges zwischen Israel und dem Libanon 2006 in Tel Aviv erklärt, daß »neue militärische Kräfte« die Region mit Gewalt und Krieg überziehen würden. In dem so entstehenden »kreativen Chaos« würden die bestehenden Grenzen neu gezogen. Den Krieg im Libanon hatte Rice damals als die »Geburtswehen des Neuen Mittleren Ostens« bezeichnet. Die USA müsse »vorwärts in Richtung des Neuen Mittleren Ostens« drängen, »nicht rückwärts, zu dem alten«, das wesentlich von den Abmachungen Frankreichs und Englands 1916 bestimmt ist und unter dem Namen Sykes-Picot-Abkommen bekannt ist.

Der »alte« Mittlere Osten

Der »alte« Mittlere Osten war während des Ersten Weltkrieges entstanden, als das Osmanische Reich auseinanderfiel und die ehemaligen osmanischen Provinzen der arabischen Halbinsel – Großsyrien/Palästina, Mesopotamien, Hedschaz – und Nordafrikas Kriegsbeute der Siegermächte wurden. Frankreich und Großbritannien ließen zwei Diplomaten den Kuhhandel austragen. Die Briten schickten den jungen Diplomaten Sir Mark Sykes, der im Dezember 1915 dem Kriegskabinett in London den Vorschlag machte, eine »Linie vom ›e‹ von Acre bis zum letzten ›k‹ von Kirkuk zu ziehen«. Alles was südlich davon sei, sollte unter britische Kontrolle kommen, während der Norden an Paris fiel. Für die Franzosen verhandelte der Diplomat François Georges-Picot nach der Maßgabe »nichts geben und alles fordern«, wie es in Verhandlungskreisen hieß.

Das Sykes-Picot-Abkommen wurde im Mai 1916 unterzeichnet. Es war ein geheimes Abkommen, denn die Beute, die London und Paris sich teilten, war von den Osmanen offiziell noch gar nicht verloren worden. Der Krieg dauerte noch bis 1918. Doch Frankreich und Großbritannien legten Grenzen fest.

Das Abkommen teilte die ehemaligen arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches in eine blaue (Frankreich) und eine rote Zone (Großbritannien) ein. Libanon und Mossul gehörten zum französischen Einflußbereich. Die Hafenstädte Haifa und Basra markierten die Ost-West-Ausdehnung des britischen Kontrollgebiets. Für Jerusalem war eine internationale Verwaltung vorgesehen. Der Völkerbund machte beide europäische Staaten schließlich zu Mandatsmächten über ihre jeweiligen Interessensphären.

Die Bewegung des arabischen Nationalismus, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer stärker geworden war und schließlich – unter Führung des Emirs von Mekka, Scheich Hussein Bin Ali – an der Seite der Briten gegen die Osmanische Armee kämpfte, ging leer aus. Die Briten hatten die Araber zwar bewaffnet und unterstützt, der britische Hochkommissar, Sir Arthur Henry McMahon, versprach Bin Ali auch die arabische Unabhängigkeit. Doch wollte London auf keinen Fall, daß die Araber so stark würden, daß sie britische Interessen in der Re­gion gefährden könnten. Auf der Pariser Friedenskonferenz 1919/20 wurde klar, daß nach 400 Jahren Bevormundung durch die Osmanen die Suche der Araber nach ihrer nationalen Identität »an den Mauern britischer und französischer Machtpolitik« endete, wie der große Chronist der Geschichte der arabischen Völker, Albert Hourani, schreibt.

Weil die Engländer den Franzosen nicht trauten und ihre Macht in der Region doppelt absichern wollten, nutzten sie das Drängen der Zionistischen Weltorganisation. Am 2. November 1917 versicherte der damalige britische Außenminister Arthur Balfour in einem Schreiben an den britischen Bankier Lionel Walter Rothschild, einem aktiven Zionisten, daß London eine »jüdische Heimstätte in Palästina« unterstütze, sofern die »bürgerlichen und religiösen Rechte« der dort lebenden »nichtjüdischen« Bevölkerung unbeeinträchtigt blieben. Als die Briten 1948 den Angriffen der jüdischen Untergrundbewegung wichen und Palästina verließen, rief diese – unter dem massiven Protest der arabischen Staaten – den Staat Israel aus. Erst später wurde klar, daß die Franzosen den jüdischen Kampfverbänden Waffen und Geld besorgt hatten, um die Briten zu bekriegen.

Geheimverhandlungen

Die Politik der USA war damals zurückhaltend. Präsident Woodrow Wilson hatte »das Recht auf Selbstbestimmung« für Völker und Nationen in die internationale Debatte eingebracht. Mit einer 14-Punkte-Erklärung skizzierte er 1918 im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz eine neue Ordnung für das vom Krieg verwüstete Europa. Punkt 1 dieser Erklärung forderte »offene, öffentlich abgeschlossene Friedensverträge«. Geheime internationale Abmachungen sollte es nicht mehr geben, die Diplomatie soll »immer aufrichtig und vor aller Welt getrieben werden«.

Wilson und seine Delegation erfuhren erst auf der Pariser Friedenskonferenz von dem geheimen Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und Großbritannien. Auf Drängen arabischer Delegationen in Paris stimmte er dem Vorschlag zu, daß eine Kommission entsandt werden sollte, die die Bewohner der arabischen Provinzen des ehemaligen Osmanischen Reichs nach ihren politischen Vorstellungen befragen sollte. Erst danach sollte über die mögliche Mandatsvergabe in der Region entschieden werden.

Unter Leitung der beiden US-Professoren Henry Churchill King und Charles R. Crane wurde die Bevölkerung in Syrien, Palästina und Antiochien befragt (siehe jW-Thema vom 9.8.2013). Der Bericht war eindeutig: Die Mehrheit von Hunderten gehörten Delegationen war gegen eine Teilung von Syrien/Palästina, gegen ein Mandat der Franzosen und gegen die in der Balfour-Erklärung versprochene »jüdische Heimstätte in Palästina«. Die Pariser Friedenskonferenz beschloß exakt das Gegenteil: Die Region wurde geteilt, neue Staaten entstanden, deren politische Institutionen und Ökonomien von den europäischen Mandatsmächten bevormundet wurden.

* Aus: junge Welt, Samstag 5. Juli 2014


Auflösung des Irak entlang ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten

Von Karin Leukefeld **

Der »Neue Mittlere Osten«, wie ihn Condoleezza Rice 2006 vorausgesagt hatte, wurde im Juni des gleichen Jahres auf einer Landkarte im US-Streitkräftejournal abgebildet. In den Grenzen des Irak findet man dort drei Staaten: ein »Freies Kurdistan«, einen »Sunnitischen Irak« und einen arabischen schiitischen Staat. Die Erdölmetropole Kirkuk soll dieser Karte zufolge dem »Freien Kurdistan« einverleibt werden. Bagdad, die irakische Hauptstadt, soll einen Stadtstaat bilden. Syrien soll seine Küste an einen »Großlibanon« verlieren, aus Saudi-Arabien sollen »Unabhängige saudische Homelands« werden.

Ob es so kommt, ist nicht ausgemacht. Doch wie schon vor fast 100 Jahren mischen auch heute wieder ausländische Interessen die Karten in der Region. Bei der Recherche zu seinem Buch »A Line in the Sand« wertete der britische Politologe und Journalist James Barr Dokumente aus, die von der britischen Regierung 2007 zur Veröffentlichung freigegeben worden waren. Darin berichtet ein Offizier des britischen Geheimdienstes MI5 Anfang des Jahres 1945, daß »wir von absolut geheimen Quellen wissen, daß französische Beamte in der Levante heimlich Waffen an die Hagana (zionistische Miliz; K. L.) verkauft haben«. Ziel sei gewesen, »Unruhen in Palästina zu schüren«.

Das Muster gilt bis heute. So wie während des Ersten Weltkrieges Großbritannien arabische Stämme, Frankreich christliche Milizen im Libanon und dann jüdische in Palästina bewaffnete, so werden heute Kampfverbände aller Art in Syrien und im Irak, im Libanon und in Jordanien von westlichen Staaten, der Türkei, Israel und den Golfstaaten unterstützt. Rußland und Iran – geostrategische Gegenspieler des Westens in der Re­gion – stärken militärisch und politisch den regulären Regierungen in Syrien und Irak den Rücken.

Die Grenzen, die Mark Sykes und François Picot 1916 zogen, werden seit der US-Invasion in den Irak 2003 sukzessive gelöscht. Der Irak wird entlang ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten (Kurden, Sunniten, Schiiten) geteilt, Syrien soll in vier Zonen (Kurden, Alawiten, Damaskus und Ostsyrien) zerschlagen werden. Auf dem Territorium beider Staaten wurde nun ein »Islamisches Kalifat« ausgerufen.

Während die arabischen Länder sich anscheinend langsam auflösen, dehnt Israel sein Einflußgebiet weiter aus: Ungebremster Siedlungsbau im besetzten Westjordanland geht mit systematischer Vertreibung und Verfolgung der Palästinenser einher. Auf dem besetzten Golan unterstützt Israel Kampfverbände, die gegen Syrien kämpfen. Die Kurden im Nordirak werden von Israel zur Staatenbildung ermuntert.

** Aus: junge Welt, Samstag 5. Juli 2014


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