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Ein Tag der Freude - Nur gute Nachrichten oder auch Fragezeichen?

Die Wahl im Irak zwischen self fulfilling prophecy und Debakel

I. Was auf dem Spiel steht" - oder: self fulfilling prophecy

In diesem ersten Teil unserer Berichterstattung über die Wahl im Irak stehen Pressenotizen, in denen Erwartungen an die Wahl gestellt wurden. Sie waren in der Regel so formuliert, dass die Wahl ein Erfolg werden musste.
(Vgl auch: "Wahlen im Irak: Fortschritt, Augenauswischerei oder einfach nur Schwindel?"
)

"The Sunday Times" (London) am 30. Januar 2005:
"Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass heute nicht nur die Zukunft des Irak, sondern des gesamten Nahen Ostens auf dem Spiel steht. Es geht darum, ob der Nahe Osten eine offene und progressive Region werden oder in einer mittelalterlichen Zeitkapsel bleiben will. Wenn (Topterrorist Abu Mussab) al Zarqawi und seine Al-Kaida-Getreuen gewinnen, wird das den Nahen Osten um Jahrzehnte zurückwerfen. (...) Die Gestaltung des Übergangs mag ungeschickt gewesen sein, aber es geht um eine gute Sache. Wenn sie funktioniert, werden jedes tyrannische Regime und jeder Terroristenführer im Nahen Osten zurecht zittern. Und das ist genau der Grund, warum Al Zarqawi so beunruhigt ist und warum der Westen alles in seinen Kräften stehende tun muss, um sicherzustellen, dass Al Zarqawi besiegt wird und die Demokratie triumphiert."

"The Observer" (London):
"Der Tag, an dem eine Nation, die seit einer Generation unter despotischer Unterdrückung gelebt hat, ihre Regierung wählt, ist ein Tag zum Feiern. (...) Die Demokratie, wenn auch noch mit Mängeln behaftet, ist da. Das allein ist bereits ein Triumph. (...) Die Iraker werden noch für einige Zeit im Schatten des Krieges und der Besatzung leben müssen. Die Koalition kann sich jetzt nicht einfach davonstehlen, aber sie kann ein klares Signal dafür geben, dass ihre Soldaten nur noch auf Einladung einer souveränen irakischen Regierung bleiben."

"La Repubblica" (Rom):
"Das wirkliche Ergebnis wird die Zahl der Wahlbeteiligten sein. Es wird bereits ein mehr oder minder relativer Erfolg sein, wenn die Mehrheit der 15 Millionen Wahlberechtigten (auf dem Papier) an die Urnen geht. Sollte dies nicht geschehen, werden die Guerillakämpfer ihren Erfolg herausschreien, also diejenigen, die zuvor Wahlenthaltung befohlen hatten und zugleich damit drohten, die Straßen und Plätze mit dem Blut der Ungehorsamen zu waschen. Das ist das eigentliche harte Kriterium bei der ersten Bewertung der Wahlen im Irak."

"Il Messaggero" (Rom):
"Endlich Wahlen. Das bedeutet zugleich ein Aufatmen der westlichen Politiker, angefangen bei Tony Blair und George W. Bush. Insbesondere für den amerikanischen Präsidenten stellt allein die Tatsache, dass die Wahlen stattfinden, aus mindestens drei Gründen einen unverzichtbaren Schritt da: Einen Fortschritt gegen die Bedrohung des Terrorismus erzielen; der Welt beweisen, dass Demokratie und Freiheit auch mit Waffen geschaffen werden können; aber vor allem, um die Strategie des "Auszugs" aus dem irakischen Sumpf auf den Weg zu bringen. Dies letztere ist das wahre Ziel einer amerikanischen Regierung, die unfähig ist, dem Land nach dem schnellen militärischen Sieg Sicherheit und Wiederaufbau zu bescheren."

"Le Monde" (Paris):
"Darf man sich über diese Wahlen im Irak freuen? Ja, ohne jeden Zweifel. Es hat in diesem Land noch nie freie Wahlen gegeben. Nicht unter der Monarchie, die von den Briten 1919 eingerichtet wurde. Und auch nicht nach dem Sturz dieser Monarchie 1958, und ganz sicher nicht seit der Machtübernahme durch die Diktatur der Baath-Partei. Doch wie kann diese Wahl unter dem Druck der Besatzung und des Terrors die politische Realität der heutigen irakischen Gesellschaft widerspiegeln? Diese Frage ist schwer zu beantworten, dennoch muss man auf einen Erfolg, wenn auch auf einen relativen, setzen. Eine Perspektive sind die hoffentlich friedlichen Wahlen, die das Übergangsparlament im Dezember 2005 organisieren soll."

II. Erleichterte Politiker: Alle scheinen sie gewonnen zu haben

Im Wiener "Standard" (Online-Ausgabe am Wahlabend) waren einige Stimmen von Politikern eingefangen, die sich höchst zufrieden mit dem Wahlausgang (der freilich noch nicht feststeht) geben.

US-Präsident George W. Bush hat die Wahlen im Irak als durchschlagenden Erfolg bezeichnet. In großer Zahl und unter großem Risiko hätten die Iraker ein Bekenntnis für die Demokratie abgelegt, sagte Bush am Sonntag in Washington. "Im Namen der amerikanischen Bürger möchte ich den Irakern zu dieser großen und historischen Leistung gratulieren", sagte Bush. Bush würdigte die am Sonntag trotz Anschlägen abgehaltene Wahl im Irak als "Stimme der Freiheit im Zentrum des Mittleren Ostens" . Er versprach, die USA würden den Irakern weiter dabei helfen, Sicherheit in ihrem eigenen Land herzustellen. Bush lobte die Wähler, die trotz Anschlägen und massiver Einschüchterung wählen gegangen seien, als tapfer. Sie hätten mit ihrer Stimmabgabe "entschlossen die antidemokratische Ideologie" von Terroristen zurückgewiesen.

Als eine "gute Nachricht" und einen "Erfolg für die internationale Gemeinschaft" hat der französische Regierungssprecher Jean-Francois Cope (UMP) die Beteiligung an den Parlamentswahlen im Irak bezeichnet. "Falls sie sich bestätigen sollte, ist die Beteiligung an den Wahlen im Irak natürlich eine gute Nachricht, denn sie war eine der Unbekannten dieser Wahl", betonte Cope Sonntagabend im Radiosender "Europa 1". "Der erste große Test war jener der Beteiligung", sagte der Regierungssprecher und fügte hinzu, dass der Wahlgang "unter sehr schwierigen Verhältnissen" stattgefunden habe. Die irakischen Wahlbehörden hatten die Beteiligung zunächst auf 72 Prozent eingeschätzt, die Prognose dann aber auf etwas mehr als 60 Prozent nach unten revidiert.

Die deutsche Bundesregierung hat die Wahlen im Irak als "wichtige Etappe auf dem Weg zum Aufbau demokratischer Strukturen" in dem Land gewertet. Vor dem Hintergrund der gewalttätigen Einschüchterungsversuche durch extremistische Gruppen sei die nach ersten Berichten rege Wahlbeteiligung vor allem in den kurdischen und schiitischen Gebieten "als Ausdruck der festen Entschlossenheit der Mehrheit der Iraker zu werten, die Geschicke und die Zukunft ihres Landes in die eigenen Hände zu nehmen", teilte Regierungssprecher Bela Anda am Sonntag in Berlin mit.

De Hoop Scheffer nennt Wahlen "Meilenstein" Die NATO will die Ausbildung und Ausrüstung von irakischen Sicherheitskräften in den kommenden Monaten verstärken. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zeigte sich am Sonntagabend in Brüssel zuversichtlich, dass die gesamte internationale Gemeinschaft ihre Hilfe für die neue irakische Regierung ausweiten werde. De Hoop Scheffer nannte die Parlamentswahlen einen Meilenstein, doch ein langer Weg sei noch zu bewältigen. Er beglückwünschte diejenigen, die an dem demokratischen Prozess teilnahmen, und verurteilte gleichzeitig Gewalttäter. Die Iraker müssten nun eine Demokratie schaffen, die ihren Bedürfnissen und Wünschen entspreche, schrieb der zivile NATO-Chef in einer Erklärung. "Sie müssen auch so schnell wie möglich die Fähigkeit entwickeln, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen", erklärte De Hoop Scheffer.

Der britische Premierminister Tony Blair hat die irakische Parlamentswahl als großen Erfolg bezeichnet. Zu sehen, wie die irakische Bevölkerung dem Terror getrotzt habe, sei "bewegend" gewesen, sagte Blair am Sonntagabend in London. "Heute hat man im ganzen Irak die Kraft der Freiheit spüren können." Die starke Wahlbeteiligung sei ein "Schlag ins Gesicht des weltweiten Terrorismus".

Der EU-Außenbeauftragte Javier Solana hat die Iraker zu den ersten freien Wahlen seit einem halben Jahrhundert beglückwünscht. Solana würdigte am Sonntag den Mut und die Entschlossenheit derjenigen Iraker, die trotz Anschlägen und Drohungen ihre Stimme abgaben. Die Wahlen seien ein "wichtiger Schritt nach vorn" und bedeuteten einen Fortschritt auf dem Weg zu einem demokratischen, freien und friedlichen Irak, betonte der EU-Außenbeauftragte.

Der geistliche Schiitenführer Großayatollah Ali al-Sistani hat den Irakern für ihre Beteiligung an den Wahlen gedankt. Sistani danke den Irakern, dass sie den Weg in die Wahllokale gegangen seien, sagte sein Sprecher Ahmed al-Safi am Sonntag. Sistani selbst habe seine Stimme nicht abgeben können, weil er wegen seiner iranischen Staatsbürgerschaft nicht wahlberechtigt sei. "Sonst wäre er an der Spitze der Wähler gewesen", betonte Safi. Der Wahltag sei ein gutes Vorzeichen für den Aufbau eines neuen Irak. Sistani hatte den Urnengang im Vorfeld öffentlich unterstützt.

UNO-Generalsekretär Kofi Annan erklärte: "Die Iraker, die heute gewählt haben, sind mutig." Sie müssten ermutigt und unterstützt werden. Der für den Irak zuständige Wahlberater der Vereinten Nationen, Carlos Valenzuela, zeigte sich zurückhaltender. "Ich warte auf eine Bestätigung, bis ich ermutigt bin", sagte er. "Aber wenn die bisher eingegangenen Ergebnisse bestätigt werden, ist das sehr gut."

Quelle: Der Standard, 31. Januar 2005



Im Wortlaut: Stellungnahme der Bundesregierung zu den heutigen Wahlen im Irak

Der Sprecher der Bundesregierung, Béla Anda, teilt mit: Die heute stattgefundenen Wahlen zur Übergangs-Nationalversammlung, zu den 18 Provinzräten und zum kurdischen Regionalparlament markieren eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Aufbau demokratischer Strukturen im Irak.

Die Wahlen fanden trotz eines schwierigen Umfelds und zahlreicher Anschläge statt. Vor dem Hintergrund der gewalttätigen Einschüchterungsversuche durch extremistische Gruppen ist die - nach ersten Berichten - rege Wahlbeteiligung vor allem in den kurdischen und schiitischen Gebieten als Ausdruck der festen Entschlossenheit der Mehrheit der Iraker zu werten, die Geschicke und die Zukunft ihres Landes in die eigenen Hände zu nehmen.

Es kommt nach Auffassung der Bundesregierung jetzt darauf an, in der Nachwahl-Phase alle ethnischen und religiösen Gruppen des Landes in den weiteren politischen Prozess voll einzubeziehen. Nur durch einen solchen inklusiven Ansatz wird es gelingen, den von der internationalen Gemeinschaft angestrebten stabilen, sicheren und demokratischen Irak auf eine tragfähige Grundlage zu stellen.

Die Bundesregierung ist bereit, ihr Engagement für den Irak weiter fortzusetzen und den Prozess der zukünftigen demokratischen Institutionalisierung mit Rat und Tat zu unterstützen.

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressemitteilung, veröffentlicht am 30.01.2005




III. Kommentare aus der Tagespresse (31. Januar 2005)

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einer Reihe von Kommentaren, die am 31. Januar in der überregionalen Presse erschienen sind.

Gelungen

VON KARL GROBE

In einer Hinsicht ist das irakische Wahl-Experiment gelungen: Es hat stattgefunden. Doch die Wahlen waren weder frei noch fair noch demokratisch. Nicht frei, weil sie unter den Bedingungen des Ausnahmezustands und der Gewaltdrohung des Widerstands stattfanden. Nicht fair, weil die von der Besatzungsmacht handverlesenen Kandidaten nahezu ein Monopol auf die TV-Berichterstattung hatten. Nicht demokratisch, weil die Namen der meisten Bewerber den Wählern bis zuletzt verschwiegen wurden.

Den Mindestanforderungen, die internationale Beobachter für Neu-Demokratien aufgestellt haben, genügte der irakische Vorgang in keiner Weise. Für die Legitimierung der Besatzungs- und Transformationspolitik mögen sie knapp ausreichen; denn sie verletzten nicht die Interessen der Besatzungsmächte und der von ihnen bestallten Politiker. Nur insofern ist der Wahlgang gelungen.

Die Beteiligung lag, sofern man es schon bewerten konnte, in den kurdischen und schiitischen Gebieten höher als erwartet, erreichte aber in manchen sunnitischen Regionen kaum die Sichtbarkeitsgrenze. Die ethnischen Teilungen wurden bestätigt, so künstlich sie auch herbeigeführt worden sind. Diese Entwicklung bereitet die bittere Auseinandersetzung zwischen Bagdader und schiitischem Zentralismus gegen kurdischen dezentralistischen Föderalismus vor. Freude über das Votum der vielen Mutigen kann da nicht aufkommen.

Frankfurter Rundschau, 31. Januar 2005

Wahltheater wie geplant

Von Rüdiger Göbel

Bei Anschlägen im Zusammenhang mit dem von Washington inszenierten Wahlspektakel im besetzten Irak sind mehrere Dutzend Menschen getötet worden. Die US-Regierung zeigte sich mit der als »freie Wahlen« bezeichneten Veranstaltung am Sonntag dennoch zufrieden. Die Wahl sei besser verlaufen als erwartet, sagte US-Außenministerin Condoleezza Rice im Fernsehsender ABC. Es sei zwar noch nicht alles perfekt gewesen. Doch Washingtons eiserne Lady gab sich von Euphorie geradezu überwältigt: »Was wir hier sehen, ist die Stimme der Freiheit«, erklärte die neue Außenamtschefin.

Aus dem besetzten Irak wurde gestern indes – ungeachtet landesweiter Angriffe auf Wahllokale – Erfolgsmeldung über Erfolgsmeldung verbreitet. Von einem »Meilenstein« und »Thriumph«, gar von einem »historischen Wendepunkt in der Geschichte des Irak« war da die Rede. Gut 15 Millionen wahlberechtigte Iraker waren aufgerufen, im von US-Truppen besetzten Zweistromland eine Nationalversammlung zu wählen. Die Wählerresonanz sei größer als erwartet, hieß es von Anfang an. Zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale um 15 Uhr MEZ verbreitete ein Mitarbeiter der offiziellen Wahlkommission, es seien bereits 72 Prozent der Stimmberechtigten zu den Urnen gegangen. Tatsächlich mußte die Kommission später einräumen, mindestens zwei Provinzen mit niedriger Wahlbeteiligung bei der Erfolgsrechnung nicht berücksichtigt zu haben.

Während internationale Beobachter – die allerdings nicht im Irak, sondern überwiegend im Nachbarland Jordanien stationiert waren – von einer regen Wahlbeteiligung der Schiiten und Kurden im Süden und Norden des Landes berichteten, blieb das Gros der Sunniten westlich und nördlich von Bagdad wie angekündigt dem Spektakel fern. In den Städten Falludscha, Ramadi und Samarra, die als Zentren der Widerstandsbewegung gegen die US-Besatzung gelten, waren Straßen und Abstimmungslokale menschenleer.

Für Bush zählte ohnedies allein die Show, weniger die Beteiligung der Iraker. »Die Tatsache, daß sie wählen, ist schon ein Erfolg an sich«, hatte der US-Präsident in seiner wöchentlichen Radioansprache am Samstag gesagt. Die Besatzungstruppen gaben sich ebenfalls zynisch. »In 95 Prozent von 5500 Wahllokalen wird es keine Gewalt geben«, prophezeite US-Militärsprecher General Mark Kimmitt dem US-Nachrichtensender CNN. (...)

junge Welt, 31. Januar 2005

Nie wieder Knecht

Von Clemens Wergin

(...) Was die Wahl den Irakern bedeutete, ließ sich am ehesten dort sehen, wo sie keine Angst vor Anschlägen haben mussten: Im kurdischen Norden und im schiitischen Süden wurde vor und in den Wahllokalen ausgelassen gefeiert. Und im Ausland wählten die Exiliraker in einer Mischung aus banger Hoffnung, Jubel, demokratischer Ernsthaftigkeit und Gerührtheit angesichts des historischen Momentes. Es ist bedauerlich, dass sich gerade den Europäern so wenig von der Erhabenheit dieses Tages mitteilt, an dem sich ein von einem Diktator geknechtetes Volk daranmacht, über seine Zukunft selbst zu entscheiden. Als wenn wir nicht wahrhaben wollten, dass ein falscher Krieg auch einige positive Folgen haben kann – selbst inmitten des Nachkriegsdesasters, das der Irak noch immer darstellt.

Es passiert selten, dass historische Momente alle Versprechen einlösen, alle Hoffnungen, die damit verbunden waren. Und es gibt unzählige Gründe, warum das irakische Experiment scheitern könnte. Die fehlende demokratische Kultur, ethnische Zersplitterung, Stammesstrukturen und mangelnde Rechtstaatlichkeit – es mangelt nicht an Hindernissen beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Aber ein Volk, das seinen Willen zur Demokratie so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, verdient unsere Unterstützung. Es ist schließlich nicht die Schuld der Iraker, dass sie mit einem falsch begründeten Krieg befreit wurden.

Der Tagesspiegel, 31. Januar 2005

Mut zur Veränderung

Von Martina Doering

Jede Stimme, die gestern bei den Wahlen in Irak abgeben wurde, müsste eigentlich doppelt zählen. Denn jeder Mann, der sich in sein Wahllokal begab, und jede Frau, die sich ihr Kopftuch überwarf und auf den Weg machte, riskierte das Leben - vor allem in den gemischt besiedelten oder sunnitischen Regionen des Landes, aber auch in den relativ sicheren Gebieten der Kurden und Schiiten. (...)

Ein Votum für die Politik des US-Präsidenten und das Besatzungsregime sind diese Wahlen jedoch eben so wenig wie ein historischer Schritt zu demokratischen Verhältnissen im Irak. Sie werden auch keine Initialzündung für den Nahen Osten sein. Zu tief sitzt der Schrecken, dass ein Krieg diese Entwicklung angestoßen hat, der mit Lügen begründet wurde. Und zu enttäuschend sind die Erfahrungen, die die Iraker in den letzten zwei Jahren mit ihren Befreiern gemacht haben. Eine Mehrheit der Iraker hat den Sturz des Diktators begrüßt, sie wünschen sich ihn nicht zurück. Aber was erwarten Menschen, die unter einer Diktatur gelebt haben, von einer neuen, demokratischen Ordnung? Ein Leben in Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und menschenwürdige Verhältnisse. Auf vielen Gebieten aber haben die Besatzungsbehörden und ihre irakischen Statthalter versagt.

Die USA haben den Termin für diese Wahl bestimmt, sie haben alle Forderungen, die Wahlen zu verschieben, abgelehnt. Damit haben sie in Kauf genommen, dass die meisten Iraker in den sunnitischen Gebieten ihre Stimme nicht abgeben konnten oder wollten. Aber sie rechneten mit den Kurden, denen klar war, dass sie durch eine hohe Wahlbeteiligung ihr Gewicht in der künftigen Vertretung vergrößern. Ohnehin kann dank der Sperrklauseln in der geltenden Verfassung nichts gegen sie entschieden und auch kein neues Grundgesetz verabschiedet werden. Und zweitens setzten die USA auf die konservativ-religiösen Schiiten, die sicher sein durften, dass sie dank ihres Bevölkerungsanteils das künftige Parlament dominieren.

Alles läuft somit nach Plan: Irak wird ein gewähltes Parlament haben und eine neue Regierung bekommen. Die neue Regierung in Bagdad übernimmt die Verantwortung für den Kampf gegen die Terroristen und Aufständischen. Sie wird die langjährige Präsenz der Besatzungstruppen sanktionieren, die sich in ihre Stützpunkte zurückziehen. (...)

Auch die künftigen irakischen Mandatsträger werden den Schein wahren, ab und an zwar harsche Kritik an ihren Gästen üben, sie aber nicht herausfordern. Selbst das konservativ-religiöse Establishment der Schiiten wird sich an den Deal halten. (...)

Der Mut zur Stimmabgabe und die überraschend hohe Wahlbeteiligung, die sich in vielen Teilen des Landes abzeichnete, demonstrieren vor allem eine Absage an die Terroristen, die diese Wahlen verhindern wollten. Sie ist aber auch Ausdruck einer großen Hoffnung auf Veränderung. Die Beteiligung an der Wahl erschien den irakischen Wählern als das einzig Sinnvolle in dieser Situation. (...)

Berliner Zeitung, 31. Januar 2005

Votum mit Fragezeichen

Von Olaf Standke

»Besser als erwartet« nannte US-Außenministerin Rice gestern die Wahlen im irakischen Ausnahmezustand, Präsident Bush war hoch zufrieden. Angesichts Dutzender Anschläge und Selbstmordattentate mit vielen Todesopfern zeigt das, wie groß die Befürchtungen in Washington gewesen sein müssen. Das von Widerstands- und Terrorgruppen heraufbeschworene und von vielen Beobachtern befürchtete Desaster wurde der Wahlsonntag in der Tat nicht, auch wenn die schon bald vermeldete hohe Beteiligung an vielen Orten wohl mehr Wunschdenken war. Aber kann die Stimmabgabe in einem besetzten und praktisch kolonialisierten Land überhaupt demokratisch genannt werden? Gewalt und Chaos sind mit dem Urnengang so wenig zu den Akten gelegt wie die Besatzung. Die wirtschaftlichen Perspektiven bleiben schlecht und der Bevölkerung nur das Prinzip Hoffnung.

Ob sich die erfüllt, wird stark auch davon abhängen, wie es gelingt, jene Iraker, die sich dem Votum verweigert haben, in einen wirklichen Demokratisierungsprozess einzubeziehen. Die sunnitischen Araber etwa, denen unter Saddam Hussein einst die Macht im Staate gehörte, werden im Parlament kaum vertreten sein. In Bagdad will man das durch zusätzliche Ministerposten kompensieren. Wichtiger aber noch scheint, dass sie in der Kommission für eine neue Verfassung repräsentativ Sitz und Stimme finden. Die Lage ist viel schlechter, als so mancher gestern zu suggerieren versuchte.

Neues Deutschland, 31. Januar 2005


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