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Der Fall eines Bündnisses

Türkei/USA: Neckischer Umgang unter Verbündeten. Und ein Nachspiel

Im Folgenden dokumentieren wir einen Kommentar, der sich mit dem nicht sehr freundlichen Zwischenfall zwischen US-Streitkräften und türkischen Soldaten in Nordirak Anfang Juli befasst. Der Beitrag erschien in der kritischen Schweizer Wochenzeitung WoZ.
Im Anschluss daran dokumentieren wir noch einen aktuellen Artikel zu dem Vorfall.



Von Ömer Erzeren, Istanbul

Dass US-Truppen im Nordirak türkische Militärs überfielen, blamiert die türkischen Generäle gehörig.

Alles hatte den Anschein eines Freundschaftsbesuches. US-Soldaten klopften vergangenen Freitag an die Tür des Verbindungsbüros des türkischen Generalstabes im kurdischen Suleimanija im Nordirak und wurden willkommen geheissen. Doch der Freundschaftsbesuch entpuppte sich als Razzia. Die rund hundert US-Soldaten stürmten das Quartier, schossen um sich, fesselten die türkischen Offiziere und stülpten ihnen Säcke über den Kopf. Die Telefonverbindungen wurden gekappt, der Safe aufgebrochen, und Dokumente und Geld – insgesamt 106'000 US-Dollar – wurden beschlagnahmt. Die Streitkräfte eines Nato-Staates überfielen Angehörige der Streitkräfte eines anderen Nato-Staates. Koch und Kochgehilfen sowie zwei türkische Handelsvertreter kamen bald frei. Drei Offiziere und acht Unteroffiziere wurden zuerst zu einem US-Stützpunkt in Kirkuk und von dort an eine als Verhörzentrale dienende Militärbasis in Bagdad überstellt und tagelang verhört. Wäre der Vorfall ein Missverständnis in den politischen Wirren im Irak unter US-Besatzung gewesen, hätten JournalistInnen kaum davon erfahren. Die Militärmaschinerien und die DiplomatInnen hätten es wohl erfolgreich vertuscht. Doch die Zeichen, dass der «hässliche Vorfall», so der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan, von langer Hand vorbereitet war, sind deutlich. Weder die US-Militärverwaltung im Irak noch der US-Generalstab reagierten auf die Bitten der gedemütigten Türken. Es bedurfte eines Gesprächs des türkischen Aussenministers Abdullah Gül mit seinem Amtskollegen Colin Powell und eines Telefonats des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan mit US-Vizepräsident Dick Cheney, bis die türkischen Offiziere freikamen. Sechzig Stunden waren inzwischen vergangen. Während der gesamten Zeit gab es keine einzige Stellungnahme der US-Regierung. Der türkische Generalstabschef Hilmi Özkök sprach von der schwersten Vertrauenskrise zwischen den beiden Staaten. Es falle ihm schwer, zu glauben, dass es sich um ein «lokales Ereignis» handle.

Wie Terroristen

Türkische Politiker und Militärs gehen – wahrscheinlich zu Recht – davon aus, dass die Razzia von höchster Stelle, vielleicht gar von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, abgesegnet war. Nach der Freilassung der türkischen Offiziere kam die erste Stellungnahme vom Sprecher des US-Aussenministeriums Richard Boucher. Die US-Streitkräfte seien aufgrund von Erkenntnissen, dass die Türken in unerwünschte Aktivitäten verwickelt sein könnten, aktiv geworden. Nun soll eine Kommission, die sich aus amerikanischen und türkischen Militärs zusammensetzt, den Vorfall untersuchen.

Mag sein, dass die Strategen im Pentagon, die sich um regionale Kräfteverhältnisse recht wenig scheren, die Wirkung des Vorfalles in der Türkei unterschätzten. Selbst die mit der US-Besatzungsmacht verbündeten irakischen KurdInnen distanzieren sich. Dschalal Talabani von der Patriotischen Union Kurdistans war «beunruhigt» über die «unkluge Aktion» und sprach sich für die Präsenz türkischer Verbindungsoffiziere im Nordirak aus. Nach tagelangen Berichten über türkische Offiziere, die «wie Al-Kaida-Terroristen behandelt» und «Folter nach Guantŕnamo-Art» ausgesetzt würden, ist in der Türkei eine breite antiamerikanische Front entstanden. Die türkische Regierung versucht derweil den Vorfall zu relativieren. Sie steht unter gewaltigem innenpolitischem Druck, da sie keine offizielle Protestnote verfasste und den Vorfall in den Nato-Gremien nicht zur Sprache bringen will.

Das Verbindungsbüro der türkischen Armee ist seit sieben Jahren im Nordirak präsent. Es unterhält Beziehungen zu den kurdischen Parteien im Nordirak sowie zu den türkisch sprechenden TurkmenInnen und observiert die Aktivität der Guerilleros der in der Türkei verbotenen kurdischen PKK, die sich in Kadek umbenannt hat. Solche Büros sind immer auch geheimdienstlich tätig. Das Verbindungsbüro wurde sowohl von den irakischen KurdInnen als auch von der US-Besatzung geduldet. Die USA wollten mit der Razzia im Verbindungsbüro der Türkei womöglich endgültig klar machen, dass sie bei der politischen Gestaltung des Nordirak nicht die geringste Rolle einnehmen werde. Regierung und Militär der Türkei wollen eine kurdische Autonomie oder Sezession im Irak verhindern und pochen auf die Partizipation der TurkmenInnen im mehrheitlich kurdischen Norden. Ausserdem wollen sie verhindern, dass die PKK/Kadek den Nordirak als Ausgangsbasis für Attacken im kurdischen Südosten der Türkei nutzt. Doch um türkische Verbindungsoffiziere loszuwerden, muss man nicht gleich in Rambomanier ihr Büro stürmen. «Einziger Trost des widerwärtigen Vorfalls ist», so der Oberkommandant der ägäischen Truppen, General Hursit Tolon, der sich zum Zeitpunkt des Überfalls in Washington befand, «dass die türkischen Soldaten kühlen Kopf bewahrt und nicht zurückgeschossen haben.»

Späte Rache?

Auch der Zeitpunkt des Zwischenfalls wirft Fragen auf. Die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei, die im März an einem Tiefpunkt angelangt waren, nachdem das türkische Parlament die Stationierung von US-Truppen für den Irak-Krieg ablehnte, begannen sich zu normalisieren. Ende Monat soll der türkische Aussenminister Gül nach Washington reisen. In der Kurdenpolitik der Türkei macht sich die demokratische Öffnung bemerkbar. Das bevorstehende Amnestiegesetz, das bis auf die Führungsspitze alle PKK/Kadek-PartisanInnen umfasst, führte noch vor Inkrafttreten zu Auflösungserscheinungen in der Organisation, der noch mehrere tausend Bewaffnete im Nordirak angehören.

Vielleicht war der Vorfall nur die späte Rache für die Nichtbeteiligung der Türkei am Irak-Krieg. Die einst in der Türkei von den herrschenden Ideologen viel gerühmte «strategische Partnerschaft mit den USA» ist nach dem Irak-Krieg und der Razzia in Suleimanija ein Trümmerhaufen.

Aus: WoZ, 10. Juli 2003


Nachspiel zum "Raub" von Sulaimanija
Verhaftung von 11 türkischen Soldaten in Nordirak trübt Beziehungen Ankara-Washington nachhaltig
Von Jan Keetman, Istanbul

Die Festnahme von drei türkischen Offizieren und acht Unteroffizieren durch USA-Soldaten im irakisch-kurdischen Sulaimanija ist jetzt Gegenstand einer gemeinsamen Untersuchung beider NATO-Staaten in Ankara.

Dabei geht es der türkischen Regierung unter Premier Recep Erdogan – er hatte das Vorgehen der USA als »üblen Vorfall« verurteilt – nicht nur um eine Entschuldigung für die einem NATO-Verbündeten angetane Beleidigung und die schlechte Behandlung der Festgenommenen. Auch von der Forderung nach Bestrafung der Verantwortlichen ist die Rede. Von USA-Seite wird dagegen vorgebracht, man habe die Soldaten quasi auf frischer Tat ertappt. In dem Gebäude des türkischen Verbindungsbüros in Sulaimanija wurde nämlich der Plastiksprengstoff C-4 gefunden, der sich zum Ausführen terroristischer Anschläge besonders eignet. Angeblich sollten damit irakische Turkmenen ausgebildet werden, die mit der Türkei zusammenarbeiten. Die Türkei bestreitet den Fund des Sprengstoffes nicht, gibt aber vor, die USA seien über die Ausrüstung der türkischen Truppen in Nordirak informiert gewesen und hätten auch von dem Sprengstoff gewusst. In der US-amerikanischen Presse ist allerdings auch noch von Scharfschützengewehren die Rede und ein konkreter Verdacht steht noch immer im Raum, der Plan eines Mordanschlages auf den vor anderthalb Monaten gegen den Willen der Türkei, aber mit Unterstützung der USA gewählten kurdischen Gouverneur der Ölstaat Kirkuk, Abdurrahman Mustafa.

Wie türkische Zeitungen berichten, hatte es in den Wochen vor der Festnahme der 11 türkischen Soldaten stille diplomatische Bemühungen der USA gegeben, die Türkei zum Rückzug ihrer rund 2000 Soldaten aus Nordirak zu bewegen. Die Türkei habe aber eine Auflösung der zwar nicht mehr aktiven und in KADEK umbenannten, aber noch immer existenten PKK-Truppe in Nordirak verlangt. Außerdem wollten sie eine schriftliche Zusicherung, dass die USA die Gründung eines kurdischen Staates in Nordirak verhindern. Washington war aber nur zu mündlichen Versicherungen zu bewegen.

Die USA drängen nach dem Fund des Plastiksprengstoffes nun nicht weniger als zuvor auf einen Abzug der Türken. In der Türkei schlagen andererseits wegen der Festnahme der Soldaten, die erst in der Nacht auf Montag in Bagdad freigelassen wurden, die emotionalen Wellen gegen die Amerikaner hoch. In dieser Situation wird es türkischen Politikern und selbst den Militärs schwer fallen, einfach aus dem Irak abzuziehen. Selbst wenn sie das wollten, was keineswegs sicher ist. Wie sich unter diesen Umständen die seit der Entscheidung des türkischen Parlaments gegen eine Nordfront im Krieg gegen Saddam Hussein stark gespannten Beziehungen zu Washington wieder entspannen sollen, steht in den Sternen. Dabei könnte demnächst noch Sprengstoff ganz anderer Art in den beiderseitigen Beziehungen hochgehen.

Wahrscheinlich im Herbst wird dem USA-Kongress ein Resolutionsentwurf vorliegen, der die damalige osmanische Türkei indirekt des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges bezichtigt. Ähnliche Resolutionen waren von den jeweiligen USA-Regierungen aus außenpolitischen Gründen immer verhindert worden. Diesmal wird der Entwurf auch von führenden Demokraten wie Hillary Clinton unterstützt. Ob sich angesichts armenischer Wählerstimmen bei den Präsidentenwahlen nächstes Jahr die Republikaner noch einmal für den Bündnispartner in Ankara quer legen, ist ungewiss. In der einen oder anderen Weise könnte dabei auch die Situation im Nordirak eine Rolle spielen.

Aus: Neues Deutschland, 12. Juli 2003


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