Irak: "Massenverwirrungswaffen"
Untersuchungskommissionen in London und Washington prüfen, wie die Behauptungen über Saddams Waffenarsenale zustande kamen.
Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag aus einer interessanten österreichischen Online-Zeitung: "Profil" (www.profil.at). Es geht um die Instrumentalisierung realer oder vermeintlicher irakischer Massenvernichtungswaffen für Zwecke des Krieges.
Von Robert Treichler
In 45 Minuten detoniert eine Giftgasbombe. Die Zeit läuft. So ähnlich lauten
serienweise die Drehbücher von Thrillern, denn einem simplen und exakt
vorhersehbaren Bedrohungsszenario kann sich kein Kinobesucher entziehen.
Weil so etwas zieht, bedienten sich die britische und die amerikanische
Regierung ebensolcher dramaturgischer Kniffe, als sie in den Wochen und
Monaten vor dem Krieg gegen den Irak sowohl die eigene Bevölkerung als
auch den Rest der Welt davon überzeugen wollten, wie akut die Gefahr sei,
die von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen ausginge. In dem
Dossier, das die britische Regierung am 24. September des Vorjahres
herausgab, lautete die alarmierende Formulierung: "Innerhalb von 45
Minuten" könne der Irak chemische oder biologische Waffen einsetzen.
Der gewünschte Effekt stellte sich schließlich ein. Die Mehrheit der
Abgeordneten des britischen Unterhauses blickte sorgenvoll auf die Zeiger
von Big Ben und votierte für Tony Blairs Kriegskurs.
Nun aber, zwei Monate nach Kriegsende, erlebt die Öffentlichkeit die
Anti-Klimax des realen Thrillers. Die Bedrohung, welche die Welt erschauern
hatte lassen, existierte womöglich gar nicht. Punkt für Punkt erweisen sich die
Gefahren, die in den Dossiers der Briten und Amerikaner aufgelistet waren,
als erfunden oder übertrieben.
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Behauptung 1: Der Irak hat versucht, Uran vom afrikanischen Staat
Niger zu kaufen. - Der Bericht beruhte laut der Atomenergieagentur
IAEA auf gefälschten Dokumenten.
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Behauptung 2: Der Irak besitzt bis zu 20 Scud-Raketen mit unerlaubter
Reichweite. - Bisher wurde keine gefunden.
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Behauptung 3: Der Irak besitzt mobile Laboratorien zur Herstellung von
biologischen Kampfstoffen. - Drei derartige Fahrzeuge wurden
gefunden, es steht aber noch nicht zweifelsfrei fest, dass sie
tatsächlich dem vermuteten Zweck dienten.
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Behauptung 4: Der Irak produziert weiterhin chemische und
biologische Kampfstoffe. - Weder Senfgas noch Sarin, VX oder andere
Giftstoffe wurden entdeckt.
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Behauptung 5: Der Irak beherbergt al-Qa'ida-Kämpfer. - Kein Beweis
dafür konnte erbracht werden.
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Behauptung 6: Der 45-Minuten-Countdown. - Eine offensichtliche
Falschmeldung.
Wie konnten die mächtigsten Regierungen der Welt, unterstützt von den
besten Geheimdiensten der Welt, zu so falschen Schlüssen gelangen?
Lieferten die Geheimdienste falsche Daten, oder übertrieben Bush und Blair
die Szenarien, um die Bevölkerung mittels solcher Massenverwirrungswaffen
in einen Krieg zu treiben? Sowohl im Washingtoner Kongress als auch im
britischen Unterhaus wurden Untersuchungen eingeleitet, die diese Fragen
klären sollen.
Vergangene Woche sagten in Westminster zwei ehemalige
Kabinettsmitglieder von Tony Blair aus, die wegen des Irak-Krieges
zurückgetreten waren: Robin Cook, während der Irak-Krise Führer der
Labour-Partei im Unterhaus, und Claire Short, ehemalige Ministerin für
internationale Entwicklung. Cook sagte, weder London noch Washington
habe über gute Geheimdienstinformationen über den Irak verfügt. Das
Material sei so unklar gewesen wie "Buchstabensuppe". Die Regierung habe
die "sehr mehrdeutigen" Informationen ganz einfach passend zum
gewünschten politischen Resultat interpretiert - als Kriegsgrund.
Ex-Ministerin Short sagte aus, Tony Blair habe "Halbwahrheiten und
Übertreibungen" benutzt, um seine politische Überzeugung durchzusetzen,
wonach Großbritannien die USA in einem Krieg gegen den Irak in jedem Fall
unterstützen müsse. Die Entscheidung, im Februar oder März den Irak-Krieg
zu beginnen, sei, so Short, im Sommer vergangenen Jahres zwischen Blair
und Bush getroffen worden. Hohe Geheimdienstmitarbeiter hätten Short
darüber informiert.
Der britische Außenminister Jack Straw hingegen verteidigte die
Einschätzungen seiner Regierung bezüglich der Gefahren von Saddams
Waffenarsenalen. Die "45-Minuten-Information" habe zwar nur aus einer
einzigen Quelle gestammt, sei jedoch im Kontext anderer Informationen
schlüssig gewesen. Straw stritt ab, dass die Regierung diesen Passus
gegen den Willen des Komitees für geheimdienstliche Informationen (JIC) in
das Dossier reklamiert habe. Diese Woche wird die für Blair höchst
unangenehme Untersuchung fortgesetzt.
In Washington beschuldigte der demokratische Senator John Kerry den
US-Präsidenten der Irreführung. Sowohl im Senat als auch im
Repräsentantenhaus laufen Untersuchungen. George W. Bush hatte sich
noch Anfang Juni zuversichtlich gezeigt, im Irak auf
Massenvernichtungswaffen zu stoßen. Mittlerweile spricht er nur noch
unpräzise von einer "Bedrohung durch Iraks Diktator", auf die die USA reagiert
hätten.
Nach 45 Minuten macht es plopp.
Aus: Profil, das Online-Magazin Österreichs, Heft 26/2003
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