Die Rolle der UNO und des Sicherheitsrates im Irakkonflikt
Von Norman Paech*
Die folgende Analyse der UN-Politik gegenüber dem Irak wird demnächst in der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" der Zeitschrift "Das Parlament" erscheinen und wurde in gekürzter Form am 19. April 2003 auf der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau veröffentlicht. Wir dokumentieren den vollständigen Text, wie er uns vom Autor dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurde.
Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach, ob die weitverbreitete Kritik an der Erfolglosigkeit, Ineffektivität und Schwäche der UNO sich im jüngsten Irakkonflikt bewahrheitet hat. Dazu geht er zurück auf die insgesamt erfolgreiche Reaktion auf den Überfall auf Kuwait, als die UNO innerhalb kurzer Frist die Ermächtigung für eine gewaltsame Befreiung Kuwaits gab. Das anschließende Sanktionssystem zur Entwaffnung des Iraks, der Schutz der Kurden und der zweite, diesmal nicht autorisierte Angriff auf Bagdad 1998 legen allerdings entscheidende Defizite des Sicherheitsrats offen. Der kompromisslosen Strategie der USA gegenüber, in Bagdad einen Regimewechsel mit präventiven militärischen Einsätzen auch ohne Mandat der UNO herbeizuführen, ist der Sicherheitsrat schließlich machtlos. Die Resolution 1441 gibt definitiv kein Mandat zur militärischen Intervention. Allerdings konnte sich die UNO-Generalversammlung auch nicht zu einer Notstandssondersitzung zusammenfinden. Die offene Missachtung des Sicherheitsrats ist eine schwere Niederlage für die UNO, sie ist aber auch ein Desaster für die anglo-amerikanische Politik.
Wie eine "self-fulfilling prophecy" scheint sich die Kritik an der UNO und ihrer mangelnden Effektivität mit dem Angriff auf Bagdad bewahrheitet zu haben. Da die US-Administration unter allen Umständen zur militärischen Beseitigung des Regimes in Bagdad entschlossen war, worüber sie nie einen Zweifel hat aufkommen lassen, hatte der Sicherheitsrat ohnehin nur die Chance der Verzögerung aber wohl nie der Verhinderung dieses einseitigen Krieges. Nach dieser Niederlage wird umso deutlicher, dass der UN-Sicherheitsrat nur deswegen von den USA so lange als Forum und Bühne des Ringens um eine ermächtigende Resolution benutzt bzw. geduldet wurde, um ihre relative Isolation in der Kriegsfrage zu durchbrechen und die Legitimation für ihr einseitiges Vorgehen zu erweitern. Sie erreichte allerdings das Gegenteil: je mehr der Sicherheitsrat zum Forum der Berichte der Inspektoren wurde, je mehr die verschiedenen Resolutionsentwürfe die Beratungen verlängerten und die USA den Druck auf die Mitglieder des Sicherheitsrats erhöhten, desto einsamer wurde ihre Position der absoluten Kriegslösung.
Hauptziel und -funktion des UN-Sicherheitsrates ist die Sicherung das Friedens, was ihm trotz Veto nicht gelang. In der Interpretation der US-Administration allerdings versäumte er seine Aufgabe gerade dadurch, dass er den Krieg nicht legitimierte, der in ihrer paradoxen Logik der alleinige Garant eines zukünftigen Friedens im Mittleren Osten sein soll. Von welcher Seite man den Sicherheitsrat auch betrachtet, von dem Standpunkt einer friedlichen und politischen oder einer militärischen Lösung des Irakkonfliktes, er hat im Ergebnis in jedem Fall versagt. US-Präsident George W. Bush und Außenminister Colin Powell hatten der UNO für diesen Fall wiederholt mit ihrer Bedeutungslosigkeit gedroht und damit die US-amerikanische Absicht der weitgehenden Trennung und Unabhängigkeit ihres politischen Handelns von multilateralen Bindungen und Beschränkungen unterstrichen. Nun stellt sich definitiv die Frage, ob damit das endgültige Urteil über die UNO und ihre Hauptinstitutionen gesprochen worden ist und sie das gleiche Schicksal ereilt wie seinerzeit der Völkerbund - allerdings in der pikanten Variante, dass in den zwanziger Jahren die faschistischen Achsenmächte Spanien, Italien, Japan und Deutschland Schritt für Schritt das kollektive Sicherheitssystem bis zum Kollaps unterminiert hatten, nun aber die einstigen antifaschistischen Alliierten USA und Großbritannien dafür die Verantwortung tragen. Ist der Widerstand des "alten Europas" (D. Rumsfeld) vergeblich gewesen und hat es sich mit dem Zusammenbruch des UNO-Systems in Zukunft abzufinden?
1. Die UNO am Beginn des Irakkonfliktes
Wir müssen zu dem Ausgangspunkt des gegenwärtigen Konfliktes zurückgehen, um diese Frage beantworten zu können. Damals im Sommer 1990, als der Irak Kuwait überfiel und annektieren wollte, schien die Welt der UNO noch in Ordnung. Der Sicherheitsrat reagierte sofort. Er verurteilte die irakische Invasion mit seiner Resolution 660 (1990) am 2. August sofort, stellte nach Art. 39 UNO-Charta eine Verletzung des internationalen Friedens fest, verlangte unter Berufung auf Art. 40 UNO-Charta den sofortigen Rückzug der irakischen Truppen aus Kuwait und forderte beide Staaten zur friedlichen Beilegung ihrer Streitigkeiten auf. Als der Irak dieser Forderung nicht nachkam, griff der Sicherheitsrat am 6. August 1990 zum nächst schärferen Mittel und verhängte mit der Resolution 661 (1990) unter Berufung auf Artikel 41 UNO-Charta ein totales Wirtschaftsembargo gegen den Irak, um ihn zum Rückzug seiner Truppen und zur Respektierung der Souveränität Kuwaits zu zwingen. Wenig später verfügte der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 665 (1990) sogar die Durchsetzung des Embargos mit militärischen Mitteln der Marine, wobei man darüber hinweg sah, ob diese Maßnahme nicht evtl. schon als militärische Sanktion in den Rahmen des Art. 42 UNO-Charta gehörte.
Von diesem Embargo waren praktisch nur medizinische Artikel ausgenommen sowie Lebensmittel, wenn aus humanitären Gründen erforderlich. Darüber hatte ein Sanktionskomitee zu entscheiden, welches zur Überwachung des Embargos eingesetzt worden war und noch heute faktisch über die Versorgung der irakischen Bevölkerung bestimmt. Obwohl das Embargo nahezu vollständig eingehalten wurde, drängten die USA auf eine militärische Verschärfung der Sanktionen, was sie am 27. November mit der Resolution 678 (1990) erreichten. Die Frist war zweifellos zu kurz, um die Wirksamkeit des Embargos einschätzen zu können. Aber der Sicherheitsrat ist in dieser Einschätzung autonom und auch der massive Druck der von den USA auf einige Länder mit oder auch ohne Erfolg (Jemen, Kuba) ausgeübt worden ist, hat keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit einer Resolution, wenn sich ihre Aussage nur im Rahmen der Art. 39 ff. des VII. Kapitels der UNO-Charta hält.
Die Resolution ermächtigte die UN-Mitgliedstaaten, "für den Fall, dass Irak die oben genannten Resolutionen (660 ff.) bis zum 15. Januar 1991 nicht ... vollständig durchführt, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um der Resolution 660 (1990) und allen dazu später verabschiedeten Resolutionen Geltung zu verschaffen und sie durchzuführen und den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in dem Gebiet wiederherzustellen." Dieses war die erste ausdrückliche Ermächtigung zu militärischen Sanktionen seit dem Koreakrieg und wiederum nicht so unproblematisch wie gemeinhin unterstellt. Denn sie beugte sich dem Druck der USA und verzichtete auf jegliche Aufsicht und Kontrolle der unter dem Kommando der USA handelnden Militärallianz durch den Sicherheitsrat, wie sie Art. 43 ff. UNO-Charta eigentlich vorsehen. Überliefert ist der Satz des damaligen UN-Generalsekretärs Perez de Cuellar, den er am ersten Tag der Luftangriffe auf Bagdad äußerte: "Dies ist eine Niederlage der Vereinten Nationen." Er schien zu ahnen, was sich in den nächsten 42 Tagen der Bombardierungen an zivilen Opfern, Zerstörungen ziviler Einrichtungen bis hin zu Kriegsverbrechen seitens der US-amerikanischen Truppen unter den Augen der UNO abspielte - ohne eine Möglichkeit einzugreifen.
Dennoch, das Ziel, die Wiederherstellung der uneingeschränkten Souveränität Kuwaits, wurde erreicht. Als am 2. März 1991 der UNO-Sicherheitsrat mit der Resolution 686 (1990) das Ende der Militäraktionen und die Bedingungen des Waffenstillstandes feststellte, war der Irak nach den Worten des UNO-Beauftragten Ahtisaari in ein "vorindustrielles Zeitalter" zurückgebombt worden und "die meisten Mittel moderner Lebenshaltung zerstört oder geschwächt worden." Mit der Annahme dieser Resolution durch den Irak war das Ziel der militärischen Intervention, die Durchsetzung der Resolution 660 erreicht. Damit war der Grund für das umfassende Handelsembargo der Res. 661 entfallen und es hätte aufgehoben werden müssen. Allein Maßnahmen der Wiedergutmachung, der Abrüstungskontrolle und eines Waffenembargos wären zur Sicherung des Friedens und der Verhinderung einer neuen Aggression noch gerechtfertigt gewesen.
2. Ein problematisches Sanktionssystem
Doch die schon vorher in den USA entwickelten Pläne zur Beherrschung der zentralen Ölregion erforderten weitergehende Maßnahmen. Präsident Georg Bush sen. war wiederholt kritisiert worden, dass er nicht im Anschluss an die Vertreibung der irakischen Truppen aus Kuwait den Angriff auf Bagdad und die Beseitigung Saddam Husseins befohlen habe. Der Oberkommandierende Norman Schwarzkopf hat später zu verstehen gegeben, dass man dazu vorbereitet und in der Lage gewesen wäre. Abgesehen davon, dass dieser Schritt in keiner Weise von der Resolution 678 gedeckt gewesenen wäre, hatte die US-Administration aber offensichtlich auf interne Kräfte des Umsturzes gesetzt und später Saddam Hussein als Garanten der Stabilität und gegen die befürchtete Desintegration der ganzen Region geschont. Und so etablierte man mit der Resolution 687 (1991) vom 3. April 1991, die die endgültige Einstellung der Kampfhandlungen verkündete und keinerlei Vollmacht für militärische Gewalt mehr enthielt, ein System der Kontrollen, Überwachung und ökonomischen Sanktionen, das praktisch das gesamte wirtschaftliche Leben einem protektoratsähnlichen Regime unterwarf.
Die Resolution ist überwiegend von den USA formuliert worden und enthält einen Diktatfrieden, der in diesem Umfang und der Härte der Bedingungen bis dahin keinem Land nach 1945 zugemutet worden ist. Sie enthielt nicht nur die Fortsetzung des Waffenembargos und umfassende Abrüstungs- und Demobilisierungsmaßnahmen (Abschnitt C Abs. 7 ff.), sondern auch die Aufrechterhaltung der im August 1990 durch die Resolution 660 verhängten Wirtschaftssanktionen, die trotz mehrfacher Anträge seitens des Iraks vom Sanktionsausschuss des Sicherheitsrates nicht gelockert wurden (Abschnitt F Abs. 20 ff.). Hinzu kamen umfangreiche Rückgabe-, Restitutions- und Reparationspflichten. Sind die militärischen Embargo- und Abrüstungsmaßnahmen sowie die Reparationspflichten aus der vorangegangenen völkerrechtswidrigen Aggression und der Friedenssicherungsaufgabe des VII. Kapitels zu begründen, so fehlt es jedoch an einer juristischen Grundlage für die Fortdauer der ökonomischen Sanktionen. Ahtisaari hatte in seinem Bericht die Aufhebung der Sanktionen empfohlen, da sie ganz offensichtlich allein die irakischen Bevölkerung trafen. Bei den Beratungen der Resolution hatten sich insbesondere Indien und Zimbabwe neben Kuba, Ecuador und Jemen für die Aufhebung der nichtmilitärischen Sanktionen ausgesprochen. Doch bestanden die USA nicht nur auf ihrer Fortdauer, sondern knüpften ihre Lockerung oder Aufhebung an ein Genehmigungsverfahren, welches sie jeweils mit ihrem Veto blockieren konnten.
Was ursprünglich als Druckmittel zur Durchsetzung des irakischen Rückzugs aus Kuwait (Res. 660, 661) konzipiert war und seine rechtliche Grundlage in Art. 39, 41 UNO-Charta fand, mutierte mit der Resolution 687 im April 1991 nach Einstellung der Kämpfe zum Hebel und Druckinstrument für zweifelhafte Ziele. Jede Einfuhr lebenswichtiger Lebensmittel und Medikamente aber auch jedes Ersatzteil für die Wasser- und Stromversorgung oder das Transportsystem hing seitdem von der Zustimmung des Sanktionskomitees ab, das durch die weitgehende Verweigerung (z.B. mit dem sog. dual-use-Argument) nicht nur den Wiederaufbau der Wirtschaft, sondern auch des einstmals hoch entwickelten und leistungsfähigen medizinischen Systems verhindern konnte. Dieser Zustand änderte sich auch nicht durch das sog. Oil for Food-Programm, welches mit den Resolutionen 705 (1991) und 706 (1991) vom 15. August 1991 eingerichtet wurde. Im wesentlichen sollten die auf ein Sperrkonto der UN eingehenden Exporterlöse für Reparationen und die Finanzierung der verschiedenen UN-Überwachungs- und Genehmigungsaktivitäten verwandt werden. Selbst wenn sich der Anteil für die humanitäre Versorgung der Bevölkerung im Laufe der Jahre erhöhte, die fortschreitende Verelendung und Mangelwirtschaft wurde damit nicht behoben, sondern hat vielmehr das Ausmaß einer humanitären Katastrophe angenommen.
3. Vom "Save Haven" für die Kurden zur "Operation Wüstenfuchs" gegen Bagdad
Ein neues Kapitel hingegen schlug der UN-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 688 am 5. April 1991 auf, mit der er die Souveränität des Iraks im Norden drastisch beschränkte und den gefährdeten Kurden einen sog. save haven einrichtete, der nur für durch die UNO autorisierten Hilfsorganisationen zugänglich sein sollte. Diese Resolution könnte durchaus epochemachende Wirkung haben, da sie zum ersten Mal die interne Situation eines Staates zum Anlass nahm, das absolute Prinzip der Nichteinmischung in interne Angelegenheiten eines Staates gem. Art. 2 Z. 7 UNO-Charta zu durchbrechen. Die irakische Regierung hatte die Rebellion des kurdischen Volkes nach dem Ende des Golfkrieges trotz ihrer vernichtenden Niederlage blutig niederschlagen können und einen gewaltige Flüchtlingstragödie erzeugt, in der fast die Hälfte der in Nordirak lebenden Kurden in die Nachbarländer floh. Dies war in der Tat eine humanitäre Katastrophe, die von den Staaten im Sicherheitsrat als eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit i.S. Art. 39 UNO-Charta angesehen wurde und ihnen damit das Sanktionsrepertoire der Artikel 40 bis 42 UNO-Charta eröffnete. Der Sicherheitsrat hatte damit zum ersten Mal eine "humanitäre Intervention" in Reaktion auf innere Unruhen und Bürgerkrieg praktiziert und damit den Weg gewiesen, auch in anderen Fällen interner humanitärer Katastrophen (Kampuchea, Ruanda, Jugoslawien/Kosovo) wirksam eingreifen zu können.
Doch waren die Staaten in diesen Fällen zu ähnlichem gemeinsamem Vorgehen nicht bereit. Sie blieben auch beim Schutz der Kurden inkonsequent. Hatten sie zwar in der Präambel der Resolution 688 alle Staaten nachdrücklich an die Verpflichtung erinnert, "die Souveränität, territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit Iraks" zu beachten, zeigten sie aber keine Reaktionen, als in den Folgejahren die Türkei wiederholt mit ihrem Militär die Grenze zum Nordirak überschritt, in den kurdischen Siedlungsgebieten intervenierte und sich dort seit Oktober 1997 schließlich militärisch fest installierte. Auch die anschließend von den USA, Großbritannien und Frankreich zum Schutz der Kurden im Norden und der Schiiten im Süden eingerichteten sog. Flugverbotszonen, die 1996 von den USA im Süden bis zum 33. Breitengrad 45 km vor Bagdad ausgedehnt wurde, finden keine Grundlage in Resolution 688 oder gar 687, wie des öfteren behauptet. Es sind einseitige Verletzungen der Souveränität und territorialen Integrität des Iraks, die vom Sicherheitsrat nie genehmigt allerdings auch nie gerügt worden sind.
Im Herbst 1998 eskalierten die Auseinandersetzungen um die Inspektionen der UNSCOM, der Spionagetätigkeit und die Weitergabe von Informationen an den israelischen Geheimdienst Mossad vorgeworfen wurde. Bagdad stellte zunächst die Zusammenarbeit ein, lenkte aber nach militärischen Drohungen der USA im November wieder ein und die zeitweise abgereisten UN-Inspekteure kehrten zurück. Nachdem der australische UNSCOM-Exekutivsekretär Richard Butler jedoch Anfang Dezember Bagdad mangelnde Kooperationsbereitschaft vorgeworfen hatte, forderten die USA die Inspekteure zum Verlassen des Landes auf und starteten am 16. Dezember 1998 ihre "Operation Wüstenfuchs" mit heftigen Luftangriffen gegen den Irak. Der US-Generalstab sprach im Januar 1999 von ca. 1600 Toten auf irakischer Seite. Das viertägige Bombardement konnte sich auf keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrats berufen, allerdings fand sich in ihm auch keine Mehrheit von Staaten, die die Operation als das verurteilten, was sie ist: völkerrechtswidrig. Der Irak kündigte danach am 27. Dezember endgültig jegliche Zusammenarbeit mit der UNSCOM auf und erklärte seinen Widerstand gegen die sog. Flugverbotszonen. Das Pentagon genehmigte daraufhin auch Präventivschläge gegen die Radarabwehrstellungen des Iraks.
1998 ist dem UN-Sicherheitsrat entgültig die Kontrolle über den Irakkonflikt entglitten, der sich seitdem vor allem als Konfrontation der USA mit dem Regime Saddam Husseins darstellt. Sie intensivierten ihre Bemühungen um den Aufbau einer schlagkräftigen Opposition, stellten in dem vom US-Kongress Ende 1998 verabschiedeten Iraq Liberation Act erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung und richteten in Prag den Oppositionssender "Radio Free Iraq" ein. Der UN-Sicherheitsrat beschränkte sich darauf, Ende 1999 mit der Resolution 1284 (1999) ein neues Waffeninspektionssystem UNMOVIC mit dem Vorsitzenden Hans Blix zu etablieren, die Höhe der Ölexporte nicht mehr zu begrenzen und die Einfuhr von Lebensmitteln zu erleichtern. Die Aufhebung der Sanktionen war aber nach wie vor von der Zustimmung der USA abhängig, die in dieser Frage zu keiner Konzession bereit waren. Frankreich enthielt sich deshalb bei der Abstimmung der Stimme, weil es voraussah, dass auch diese Resolution die Aufhebung des Embargos nicht erleichtern werde. Und so blieben die Sanktionen auch 2000 weiter bestehen, als der Sicherheitsrat mit den Resolutionen 1302 und 1330 (2000) das Inspektionssystem und das Oil-for-Food-Programm verlängerte.
Angesichts der unbestreitbar katastrophalen Auswirkungen des gesamten Sanktionssystems auf die Bevölkerung des Irak und seiner Nutzlosigkeit für die Entwaffnung und vollkommene Abrüstung des Iraks spricht vieles für die Einschätzung kritischer Betrachter, dass seine weitere Aufrechterhaltung jeglicher Rechtsgrundlage entbehrte, ja, das Sanktionssystem des Artikel 41 UNO-Charta geradezu pervertierte. Auch der UN-Sicherheitsrat ist an die Normen des Völkerrechts gebunden und hat insbesondere die Menschenrechte der von seinen Sanktionen betroffenen Bevölkerung zu beachten. Er hat zwar einen sehr weiten Spielraum bei der Einschätzung der Friedensgefahr nach Art. 39 UNO-Charta, hat sich jedoch bei den nachfolgenden Sanktionen der Art. 40 ff. strikt an die zwingenden Prinzipien des Völkerrechts zu halten, zu dem auch der Maßstab der Verhältnismäßigkeit gehört. Die Völkerrechtskommission hat im Falle des Iraks insbesondere auf das Schicksal der Kinder hingewiesen: "a long-standing embargo which, imposed for political reasons, for example on Iraq, forced sacrifices on the most vulnerable part of the population, the children. If an embargo went on too long, it might well be asked whether it was compatible with basic human rights of children."
4. Regimewechsel und Präventivstrategie der USA
Dem Irak gelang es in der Folgezeit nur in wenigen Fällen, das Sanktionssystem zu unterhöhlen, so mit der Durchbrechung und faktischen Aufhebung des UN- Flugembargos im Laufe des Jahres 2000 und dem zeitweisen illegalen Export von Rohöl nach Syrien. Die Inspektionen der UNMOVIC blockierte es erfolgreich, indem es die Einreise der Inspektoren verweigerte. Dafür musste es eine erhebliche Verstärkung der US-amerikanischen und britischen Luftangriffe auf Flugabwehr- und Raketenstellungen in den nördlichen und südlichen Flugverbotszonen hinnehmen, die seitdem fast täglich erfolgten. Die USA gestanden nun auch offiziell ein, dass es nicht mehr um das ursprüngliche Ziel des Schutzes der kurdischen und schiitischen Zivilbevölkerung ginge, sondern um die Zerstörung militärischer Einrichtungen. Sie hielten sich auch nicht mehr an die offiziellen Flugverbotszonen, sondern reichten bis vor die Tore Bagdads und verursachten immer wieder zivile Opfer. Frankreich, welches sich Mitte der neunziger Jahre von den Luftangriffen zurückgezogen hatte, unternahm allerdings auch keinen Versuch, die Illegalität der Flugverbotszonen und des unerklärten Krieges durch den UN-Sicherheitsrat verurteilen zu lassen.
Mit Übernahme des US-Präsidentenamtes durch George W. Bush rückten die alten von Paul Wolfowitz, Douglas Feith und Richard Perle schon lange vor dem 11. September 2001 vertretenen Pläne zur gewaltsamen Beseitigung Saddam Husseins wieder in den Vordergrund. Über die juristischen Fragen einer solchen militärischen Lösung verlautet wenig, da ein gewaltsam von außen herbeigeführter Regimewechsel ganz offensichtlich gegen das zwingende Interventionsverbot des Art. 2 Z. 7 UNO-Charta verstößt. Hin und wieder wird auf die Novemberresolution 678 von 1990 zurückgegriffen, deren Ermächtigung zur Waffengewalt mit der erfolgreichen Vertreibung der Iraki aus Kuwait und der anschließenden Waffenstillstandsresolution 687 (1991) jedoch ohne Zweifel erloschen ist. Aber auch die Resolution 687 (1991) gibt keine Ermächtigung für militärische Sanktionen, selbst wenn man feststellen muss, dass der Irak die darin enthaltenen Waffenstillstandsbedingungen wie die vollständige Zerstörung der Massenvernichtungsmittel und die ungehinderte Kontrolltätigkeit der Inspekteure nicht erfüllt hat. Aktualität aber bekamen die Pläne mit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 und der anschließenden militärischen Beseitigung des Taliban-Regimes in Afghanistan. Wenn auch das Ergebnis der Militäraktionen nicht in allen Teilen den Vorstellungen der US-Administration entsprach, so schufen sie überhaupt erst die politischen und strategischen Voraussetzungen dafür, nun auch den Regimewechsel im Irak mit allen Konsequenzen in die Wege zu leiten. Denn definitives Ziel der mit der "Demokratisierung" der Öl-Regime vorgegebenen Strategie, ist der problemlose Zugang zu den lebenswichtigen Ressourcen dieser Region. Dieses Ziel ist jedoch erst dann erreicht, wenn nicht nur der Irak, sondern auch Syrien, der Iran und damit die OPEC dem atlantischen Einfluss unterworfen, d. h. der ganze Mittlere Osten einer zweiten Kolonisierung unterzogen worden ist.
Trotz mancher Differenzen in der US-Administration über den gegenüber Saddam Hussein einzuschlagenden Weg, war auch für den eher dem Lager der Tauben zuzurechnenden US-Außenminister Colin Powell immer klar, dass ein Regimewechsel nur mittels einer militärischen Intervention zu erreichen sei. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg, den schließlich auch Powell gewillt war einzuschlagen, markierte die Verabschiedung der "National Security Strategy of the United States of America" im September 2002, ein Jahr nach dem Terroranschlag und die US-amerikanische Vergeltung gegen Afghanistan. Sie propagiert nicht nur das Konzept militärischer Präventivschläge gegenüber Staaten mit Massenvernichtungsmitteln, sondern beinhaltet auch den Ersteinsatz von Nuklearwaffen und den Verzicht auf eine Legitimation militärischer Gewalt durch die Vereinten Nationen. Am 10./11. Oktober ermächtigte der US-Kongress daraufhin den Präsidenten zum Einsatz von Waffengewalt gegen den Irak - eine weitere Missachtung des Sicherheitsrats und der UNO-Charta.
Die Umgehung des UN-Sicherheitsrats kennzeichnete bereits den Angriff der NATO auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 und konnte nur durch die mühselige und heftig kritisierte völkerrechtliche Rechtfertigung als "humanitäre Intervention" aufgefangen werden. Die Tatsache allerdings, dass sich die USA sofort nach dem Terroranschlag im September 2001 an den UN-Sicherheitsrat wandten, um sich eine militärische Reaktion absegnen zu lassen, unterstreicht nicht nur das Legitimationsbedürfnis, welches selbst die einzig verbliebene Weltmacht noch im Kriegsfall hat, sondern wiederspricht auch der immer wieder bespöttelten Bedeutungslosigkeit, ja Überflüssigkeit des UN-Sicherheitsrats.
5. Der Weg zum Krieg - die Sicherheitsrats-Resolution 1441
Das letzte Kapitel im Kampf um den Irakkrieg ist trotz der Niederlage der Mehrheit der kriegskritischen Staaten in der UNO dennoch nicht auf ihrer Sollseite abzubuchen. Das zähe Ringen um die Resolution 1441 vom 9. November 2002 und die monatelangen Versuche, mittels Inspektoren und neuen Resolutionsentwürfen, den offensichtlich schon im Frühjahr 2002 definitiv beschlossenen Krieg doch noch zu verhindern, wären ohne die Institution des Sicherheitsrats und ihren Veto-Mechanismus nicht möglich gewesen. Der Wortlaut der Resolution ist eindeutig genug, um aus ihm keine Ermächtigung für einen Krieg herauslesen zu können, selbst im Falle ihrer eindeutigen und nachhaltigen Verletzung durch den Irak. Das wochenlange Ringen um den Wortlaut, das durch die klare Weigerung der Franzosen und Russen, keinen Automatismus für eine Kriegsermächtigung in der Resolution zu akzeptieren, notwendig geworden war, ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass die schließlich einstimmig angenommene Resolution auch ihren Intentionen entsprochen hat und jetzt nicht als gültiges Mandat für den Krieg zählen kann. Alle Verhandlungen hinter den Kulissen des Sicherheitsrats, der Einsatz und die Konsultation der UN-Inspektoren zielten auf eine zweite Resolution. Sie wurde von den USA schließlich nur deshalb fallen gelassen, weil sie eine Ermächtigung für ihren beschlossenen Krieg definitiv auf Grund des zu erwartenden Veto der Franzosen nicht erhalten konnten.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die USA zur Durchsetzung ihrer Interessen in jüngerer Zeit außerhalb der Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen und gegen das Völkerrecht setzen mussten. Interessen allerdings, die so wenig mit den Interessen der übrigen Staaten in Übereinstimmung zu bringen sind, werden selbst vor dem Hintergrund absoluter militärischer Überlegenheit immer schwieriger unilateral durchsetzbar. Deutschland, Frankreich und Russland sind zwar nicht in der Lage ein militärisches Gegengewicht gegen die USA aufzubauen, ihr gemeinsames Beharren jedoch auf den Prinzipien der UNO-Charta, dem Sicherheitsrat und dem Kontrollsystem der UNMOVIC, hat nicht nur ihnen breitere Zustimmung unter den Staaten eingebracht, sondern auch dem System der kollektiven Sicherheit insgesamt neue legitimatorische Kraft zugeführt. Einer der Hauptpunkte der Kritik an der Ineffizienz und Schwäche des Sicherheitsrats war das unter demokratietheoretischen Aspekten zweifellos problematische Vetorecht ausgewählter Staaten. Seine Berechtigung als ein kriegsverhindernder Mechanismus dürfte er im Verlauf dieses Konfliktes aber besser bewiesen haben als in so mancher alter Vetokonstellation auf der Basis des Kalten Krieges. Selbst wenn Sicherheitsrat und Veto letztlich den Krieg nicht verhindern konnten, so waren sie doch die einzigen diplomatischen Institutionen, über die der Widerstand gegen die Kriegspolitik artikuliert, organisiert und verbreitert werden konnte.
6. UNO-Generalversammlung: "Uniting for Peace"
In dieser Situation äußerster Kriegsgefahr und faktischer Missachtung des Sicherheitsrats hätte den Staaten noch ein letzter Weg offen gestanden, den sie allerdings nicht beschritten haben. Sie hätten die UNO-Generalversammlung zu einer Debatte und Resolution einberufen können, um alle Staaten an die grundlegenden Prinzipien der UNO-Charta zu erinnern und zur strikten Einhaltung des Völkerrechts sowie der Entscheidungen des Sicherheitsrates aufzufordern. Das Vorbild dieses nicht unproblematischen Flurwechsels im UNO-Gebäude ist eine Resolution der Generalversammlung aus dem Jahre 1950 (Res. 377 V, v. 3. November 1950), die auf die Initiative des damaligen US-Außenministers Dean Acheson zurückging, und mit der Bezeichnung "Uniting for Peace" Geschichte gemacht hat. Sie sollte die Handlungsfähigkeit der UNO in der Korea-Krise wiederherstellen, die durch das Veto der Sowjetunion faktisch lahmgelegt war. Im Hauptstück, dieser aus drei Einzelentschließungen bestehenden Resolution heißt es:
"Falls der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit seiner ständigen Mitglieder es in einem Fall offenbarer Bedrohung des Friedens, eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung unterlässt, seine primäre Verantwortung für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit auszuüben, (soll) die Generalversammlung unverzüglich die Angelegenheit beraten..., um den Mitgliedern geeignete Empfehlungen für Kollektivmaßnahmen zu geben, im Falle des Friedensbruches oder einer Angriffshandlung auch für den Gebrauch bewaffneter Kräfte, wenn das nötig ist, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen."
Zu diesem Zweck soll die Generalversammlung auch außerhalb der Sitzungsperioden zu einer Notstandssondertagung binnen 24 Stunden zusammengerufen werden können, gegen die auch der Sicherheitsrat kein Veto einlegen kann. Eine solche Sondertagung können entweder neun Ratsmitglieder oder eine Mehrheit der Mitglieder der UNO verlangen. Vor dem Hintergrund des eindeutigen Kräfteverhältnisses in der damaligen 59 Mitglieder umfassenden Generalversammlung war die Resolution für die Sowjetunion ein schwerer Rückschlag, da auf diesem Weg ihr Vetorecht außer Kraft gesetzt werden konnte. Sie ist auch kaum mit der klaren Kompetenzverteilung der UNO-Charta zu vereinbaren, die dem Sicherheitsrat eindeutig den Vorrang in Fragen der Friedenssicherung gibt und in Art. 12 ausdrücklich bestimmt, dass "die Generalversammlung zu einer Streitigkeit oder Situation ohne Ersuchen des Sicherheitsrats keine Empfehlung abgeben (darf), solange der Sicherheitsrat die ihm in dieser Charta zugewiesenen Aufgaben wahrnimmt".
Die Befürchtung der Sowjetunion, dass die Resolution ausschließlich gegen sie verwendet würde, erfüllte sich allerdings nicht. Bei der ersten Gelegenheit ihrer Anwendung, als Jugoslawien 1956 zur Beilegung der Suezkrise eine Sondersitzung der Generalversammlung beantragte, da Frankreich und Großbritannien den Sicherheitsrat mit ihrem Veto boykottierten, wurde die Sitzung mit der Stimme der Sowjetunion einberufen. Die Generalversammlung beschloss daraufhin Maßnahmen zum Rückzug der französischen und englischen Truppen sowie die Stationierung der UN-Friedenstruppen in Ägypten. Auf diese Weise wurden neun weitere Notstandssondertagungen auf der Basis der "Uniting for Peace"-Resolution einberufen: zur Beilegung der Ungarn-Krise 1956, der Libanon-Krise 1958, der Kongo- Krise 1960. 1967 war es die Sowjetunion dann selbst, die den Generalsekretär ersuchte, die fünfte Notstandssondertagung der Generalversammlung einzuberufen, um den Ausbruch des Nah-Ost-Krieges zu behandeln, was dieser auch tat. Es folgten weitere Sondertagungen zu Bangladesh, Afghanistan, Südafrika und mehrfach zu Palästina. Die letzte Tagung im Jahr 1997 galt den Vorgängen in Ost-Jerusalem.
Diese Praxis der Notstandssondertagungen auf der Basis der Resolution 377 V über fünf Jahrzehnte wird heute überwiegend trotz ihres schwerwiegenden Eingriffs in die Struktur der UNO-Charta als gewohnheitsrechtliche Abänderung akzeptiert. Dagegen spricht, dass die Generalversammlung genügend Gelegenheit gehabt hätte, eine Neuabgrenzung der Kompetenzen mit Zweidrittel-Mehrheit in die Charta zu übernehmen. Dennoch hat sich die Problematik des Verstoßes bisher nicht in aller Schärfe gestellt, da die Generalversammlung in keiner der zehn Sitzungen in die Sanktions-Kompetenz des Sicherheitsrats eingegriffen, sondern sich auf Diskussionen und Empfehlungen beschränkt hat.
Darauf hätte sich die Generalversammlung auch jetzt im Falle des drohenden Irakkrieges beschränken können. Sie hätte noch einmal die Staaten an das absolute Gewaltverbot erinnern müssen, das nur im Falle eines Mandats des Sicherheitsrates oder bei einem unmittelbaren Angriff durch Selbstverteidigung eine Ausnahme erlaubt. Sie hätte daran erinnern müssen, dass die territoriale Integrität und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fundamentale Prinzipien der UNO-Charta und des Völkerrechts sind. Sie hätte klarstellen müssen, dass die Resolution 1441 kein Mandat für eine militärische "Abrüstung" gibt und die Beseitigung eines Regimes auch nicht in der Befugnis der Vereinten Nationen liegt (Art. 2 Z. 7 UNO-Charta). Sie hätte fordern sollen, dass die Inspektoren ihre Mission in angemessener Frist beenden können, und sie hätte den Irak noch einmal zu bedingungsloser Zusammenarbeit mit der UNMOVIC auffordern können.
Die Generalversammlung hätte sich mit einer solchen Resolution auf die Darlegung der völkerrechtlichen Koordinaten des Konfliktes beschränkt und nicht in die Kompetenzen des Sicherheitsrats eingegriffen, ihm vielmehr wieder Handlungsraum auch über den Irakkonflikt hinaus zurückgewonnen. Denn die Umgehung des Sicherheitsrats und die Verletzung des Gewaltverbots ist ein tiefer Eingriff in das gesamte Sicherheitssystem der UNO und liefert jedem Staat die billige Rechtfertigung für beliebige Interventionen und Kriege. Es wäre also um mehr gegangen als das ohnehin wichtige Ziel, einen unmittelbar bevorstehenden Krieg noch abzuwenden. Es wäre um die Erhaltung einer zwar unvollkommenen aber bisher durch keine bessere Alternative ersetzbare kollektive Sicherheits- und Friedensordnung gegangen, für die die "Uniting for Peace"-Resolution vielleicht einen letzten Mechanismus der Rettung bereit gehalten hätte.
7. Die Rückkehr der UNO
Mit dem Rückzug der UNMOVIC-Inspekteure aus dem Irak und dem Verzicht auf eine zweite Resolution des UN-Sicherheitsrats, die die Anwendung militärischer Gewalt ausdrücklich gem. Art. 42 UNO-Charta hätte ermächtigen müssen, war das Scheitern der UNO auch in diesem Konflikt besiegelt. Nehmen wir die Organisation der UNO als den institutionellen Ausdruck des gegenwärtigen Völkerrechts, so müssen wir dieses Urteil auf den gesamten rechtlichen Rahmen der in den letzten neunzig Jahren unter dem Namen "kollektives Sicherheitssystem" entwickelten Friedensordnung erstrecken. Der Untergang des sozialistischen Systems in der Gestalt der Sowjetunion und des Warschauer Paktes wird nicht überinterpretiert, wenn man auch den Untergang des VII. Kapitels der UNO-Charta als eine seiner Folgen ansieht. Darin liegt zugleich das Eingeständnis, dass das Wilson'sche Modell einer juristischen Weltordnung gleicher Staaten jenseits des zweifelhaften Gleichgewichts der Kräfte auch in seinem zweiten Anlauf mit dem Zusammenbruch dieses Gleichgewichts gescheitert ist. Was ohne die wechselseitige Zähmung der Großmächte auf der Basis und mit den Institutionen der Vereinten Nationen eine allgemeine Friedensordnung garantieren sollte, erweist sich heute offensichtlich immer noch als zu schwach, dem entfesselten Hegemoniestreben einer Großmacht zivilisierende Grenzen zu setzen.
Die Erosion der UNO-Friedensordnung kündigte sich schon Ende der neunziger Jahre vor allem mit dem Angriff auf Jugoslawien und der im April 1999 noch während des Krieges verkündeten neuen NATO-Strategie an. Das grundlegend Neue in der jüngsten Entwicklung ist das Auseinanderbrechen der schon seit 1991 (2. Golfkrieg) aufgebauten Kriegskoalition. So tief dieser Riss auch ist, wenig spricht jedoch derzeit dafür, dass daraus ein neues Gleichgewicht der Kräfte entsteht, auf dessen Basis die UNO eine wirksamere Friedensrolle wiedererlangen könnte. Der nukleare Hintergrund des alten Kräftegleichgewichts taugt heute nicht mehr zum Aufbau eines neuen Gleichgewichts, zumal es die Spaltung der NATO voraussetzen würde. Wenn es auch nicht ausgeschlossen ist, dass die VR China einmal die Rolle einer wirksamen countervailing power übernehmen könnte, muss die UNO für absehbare Zeit versuchen, wieder eine zentrale Ordnungsfunktion zurückzugewinnen und die Staaten ohne dieses alte Gleichgewichtsprinzip aus dem "Ausnahmezustand als Weltordnung" in eine neue Friedensordnung zurückzuführen.
Wichtig ist dabei derzeit vor allem, aus dem Abseits im Mittleren Osten herauszukommen, in dem sie von den USA ja nicht nur im Irakkonflikt, sondern auch in der Palästinafrage gehalten wird. Die Pläne der USA, das alte Regime Saddam Husseins wegen vergangener Verbrechen gegen ihre eigene Bevölkerung sowie wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen und juristisch zur Verantwortung zu ziehen, begegnen dabei - obwohl eine genuine Aufgabe des neu gegründeten Weltstrafgerichtshofs - zahlreichen Schwierigkeiten. Wie und wo tritt ein Ankläger auf, der nicht nur mit dem Krieg gegen den Irak selbst einen schweren Völkerrechtsverstoß gegen Art. 2 Z. 4 UNO-Charta begangen hat und zudem dem einzigen legitimen internationalen Gericht, dem Weltstrafgerichtshof, die Anerkennung verweigert?
Dieser Weltstrafgerichtshof wird über Taten, die vor seiner Entstehung am 1. Juli 2001 begangen worden sind, ohnehin nicht richten können. Bei der Frage der Kriegsverbrechen wird er - anders als das Jugoslawien-Tribunal es getan hat - berücksichtigen müssen, dass die Angeklagten zunächst auf ihr legitimes Selbstverteidigungsrecht gem. Art. 51 UNO-Charta verweisen werden. Die schließlich zur Verhandlung stehenden Kriegsverbrechen dürften auf der Seite des Iraks (bisherige Vorwürfe: Vorzeigen amerikanischer Gefangener im Fernsehen, Selbstmordattentäter gegen Interventionstruppen) vergleichsweise unbedeutend sein gegenüber den Vorwürfen gegen die US-Truppen (Einsatz von Napalm, Streubomben und abgereichertem Uran, gezielte Angriffe auf zivile Objekte wie Rundfunk- und Fernsehstation, Marktplatz etc., Verletzung der Besatzerpflichten durch Passivität gegenüber Plünderern). Der Weltstrafgerichtshof könnte es sich nicht mehr - wie noch das Jugoslawien-Tribunal - leisten, die Kriegsführung nur einer Seite zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.
Kommt also der Weltstrafgerichtshof für die USA als Ort der Rechtssuche nicht in Betracht, verbleiben nur die Militärgerichte, wie sie nach dem Kriegsrecht vorgesehen sind. Diese haben sich aber in der US-amerikanischen Praxis in "military commissions" verwandelt, die dadurch gekennzeichnet sind, "dass sie den Rechtsstatus eines Individuums sowohl mit Rücksicht auf das internationale Recht wie auf die amerikanischen Gesetze radikal suspendiert und ein juristisch nicht benennbares Wesen schaffen." Würden sich die USA jedoch von diesem völlig inakzeptablen Guantanamo-System des Ausnahmezustandes trennen und zu anerkannten Militärgerichten zurückkehren, würden sie sich in der Zwickmühle der eigenen Kriegsverbrechen verfangen. Spätestens hier würden sie von der Mahnung des US-amerikanischen Anklägers Jackson in den Nürnberger Prozessen wieder eingeholt werden: "Denn wir dürfen niemals vergessen," hatte er seinerzeit in seiner Anklageschrift betont, "dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Den Angeklagten einen Giftbecher reichen, heißt, ihn auch an unsere eigenen Lippen setzen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit soviel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge."
Dem engen Geflecht anerkannter juristischer Normen und Institutionen können sich die USA nur schwer und unter offener Missachtung entziehen. Das ist anders bei der Frage, welche Befugnisse sie der UNO beim Wiederaufbau des Irak in der Nachkriegsära einräumen. Als Besatzer sind sie einem feststehenden Kodex Genfer Regelung in der Verwaltung des besiegten Landes unterworfen, gleichgültig ob die Besatzung rechtmäßig oder nicht erfolgte. In der 4. Genfer Konvention von 1949 sind die Versorgungs-, Verwaltungs- und humanitären Pflichten der Besatzungsmacht klar festgelegt, die sich an der Wiederherstellung der vollen Souveränität des besetzten Landes und nicht an den Interessen der Besatzungsmacht orientieren. Eine Beteiligung der UNO ist darin ebenso wenig festgelegt wie eine zeitliche Begrenzung des Besatzungsregimes. Um jedoch eine völkerrechtlich nicht mehr vertretbare Dauer der Besatzung mit den katastrophalen Folgen wie in Palästina zu vermeiden, muss sich die UNO so schnell wie möglich wieder ins Spiel bringen. Mit der Resolution 1442 vom 28. März hat der Sicherheitsrat bereits auf die Pflichten des Besatzungsregimes im Rahmen der IV. Genfer Konvention in allerdings sehr allgemeinen Formulierungen hingewiesen. Als Nächstes müsste er die Aufhebung der Embargosanktionen der alten Resolution 687 beschließen, die die Hilfslieferungen der humanitären Organisationen und jeglichen Wiederaufbau behindern. Auch hätte er auf die Rückkehr der UNMOVIC-Inspekteure zu dringen, die gegenüber den von der US-Administration entsandten Kontrolleuren den Vorteil der Glaubwürdigkeit besitzen. Eines allerdings müsste der Sicherheitsrat auf jeden Fall vermeiden, dass das Nachkriegsengagement der UNO - wie nach dem Überfall auf Jugoslawien - als nachträgliche Legitimation des Krieges gegen den Irak interpretiert wird. Der sicherste Weg, dies zu vermeiden, führt über einen Antrag des Sicherheitsrates oder der Generalversammlung an den Internationalen Gerichtshof, ein Gutachten über die Rechtswidrigkeit des Krieges zu erstellen. Das Ergebnis ist voraussehbar, wie es der ehemalige Präsident des IGH Christopher Weeramantry bereits angedeutet hat. Trotz einer eindeutigen Verurteilung der Kriegskoalition, sollte es ein zentrales Ziel der UNO sein, die USA wieder fest in den rechtlichen und institutionellen Rahmen ihrer Organisation einzubinden.
* Prof. Dr. Norman Paech, Prof. für öffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik. Veröffentlichungen zu Fragen des Verfassungs- und Völkerrechts, der politischen Justiz, Menschenrechte und internationalen Beziehungen des Mittleren Ostens.
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