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Ringen um Einfluß

Irak: Todesurteil gegen Exvizepräsidenten ist Ausdruck regionalen Machtkampfes

Von Karin Leukefeld *

Nachdem ein irakisches Gericht am vergangenen Sonntag den früheren Vizepräsidenten Tarik Al-Haschimi zum Tode durch den Strang verurteilt hatte, hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Dienstag dem verfolgten Politiker Schutz angeboten. Al-Haschimi, der sich seit April »aus gesundheitlichen Gründen« in der Türkei aufhält, könne »so lange bleiben, wie er will«, erklärte Erdogan in Ankara, »wir werden ihn nicht ausliefern«. Das Todesurteil war in Abwesenheit Al-Haschimis nach einer 30minütigen Verhandlung verhängt worden. Das Gericht befand, der frühere Vizepräsident sei für den Tod eines Anwalts und eines Generals verantwortlich, und sprach ihn schuldig. Der Verurteilte habe 30 Tage Zeit, in den Irak zurückzukehren. Al-Haschimi wies Prozeß und Urteil als »politisch motiviert« zurück.

Die Vorwürfe gegen den prominenten irakischen Politiker waren erstmals im Dezember 2011 bekanntgeworden. Danach soll Al-Haschimi mit seinen Leibwächtern Todesschwadronen unterhalten und diese zum Mord an politischen Gegnern angeleitet haben. Die nun erstmals gerichtlich verhandelte Anklage umfaßt insgesamt 150 Einzelfälle. Al-Haschimi setzte sich zunächst in die kurdischen Gebiete im Nordirak ab, besuchte anschließend auf Einladung die Golfmonarchien und hält sich seit April in der Türkei auf.

Tatsächlicher Hintergrund dürfte eine Fehde zwischen Al-Haschimi und Nuri Al-Maliki, dem irakischen Regierungschef, sein. Al-Haschimi, ein moderater sunnitischer Politiker, hatte parallel zum Abzug der US-Truppen aus dem Zweistromland Ende 2011 seine politische Rhetorik gegen den nationalistisch-schiitischen Al-Maliki erheblich verschärft. Er warf diesem politische Verfolgung und Unterdrückung der oppositionellen Sunniten im Irak vor. Die Kritik gipfelte in dem Vorwurf, Al-Maliki, der sich die Kontrolle über drei Schlüsselministerien – Verteidigung, Nationale Sicherheit, Inneres – angeeignet hat, sei »schlimmer als Saddam Hussein«.

Der Streit ist Ausdruck des Wettbewerbs der regionalen Sponsoren – Iran steht hinter Al-Maliki und Saudi-Arabien hinter Al-Haschimi – um die Kontrolle des Irak nach dem Abzug der US-Truppen. Obwohl das Land in seiner Infrastruktur wirtschaftlich und gesellschaftlich weitgehend zerstört ist, hat es aus geopolitischen Gründen noch immer große Bedeutung. Konnte der Iran nach der US-Invasion im Jahr 2003 seine Macht im Irak deutlich ausbauen, versucht Saudi-Arabien diesen Einfluß mit allen Mitteln zurückzudrängen.

Die irakische Bevölkerung hat mit diesem Machtkampf wenig zu tun. Die überwiegende Mehrheit lehnt jegliche Gewalt ab und kämpft mit Alltagsproblemen. In der irakischen Fernsehsendung »Das offene Mikrofon« beklagte kürzlich eine Frau, daß sie und ihre Familie von der kleinen Jahresrente ihres Mannes höchstens zwei Monate leben könnten. Sie frage sich, was das für Politiker seien, die der Bevölkerung nicht einmal sauberes Wasser, Strom, ordentliche Wohnungen und Arbeit beschaffen könnten.

Anläßlich einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf rief der Sprecher der UN-Kommissarin für Menschenrechte, Rupert Colville, Irak auf, ein offizielles Moratorium für die Todesstrafe zu erlassen und diese vollkommen abzuschaffen. Seit Anfang des Jahres 2012 wurden 96 zum Tode verurteilte Gefangene hingerichtet, allein im August starben 26 Menschen, davon 21 an einem einzigen Tag. Angesichts undurchsichtiger Gerichtsverfahren und der Sorge über unfaire Prozesse sei die Zahl der Hinrichtungen »schockierend«, sagte Colville. Unakzeptabel sei auch, daß die Todesstrafe für eine Vielzahl an Vergehen verhängt werde.

Mit einer landesweiten Anschlagsserie hat sich Al-Qaida, die im Zweistromland unter dem Namen »Islamischer Staat Irak« operiert, für hingerichtete Mitkämpfer gerächt. Per Interneterklärung übernahm die Gruppe die Verantwortung für mehr als 30 Attacken, bei denen am vergangenen Wochenende fast 100 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden waren. Man habe die Anschläge als Vergeltung für die »Kampagne der Vernichtung und Folter von sunnitischen muslimischen Gefangenen in den Gefängnissen der Safawiden« verübt, hieß es in der Erklärung. Der Name »Safawiden« wird neuerdings von Salafisten und Dschihadisten benutzt, um den Einfluß des Iran, dem zwischen 1501–1722 von den Safawiden regierten Persien, herauszustellen. Etliche der im August hingerichteten Gefangenen sollen Al-Qaida angehört haben. »Dieser Botschaft wird eine weitere folgen«, schließt die Internetdrohung der Al-Qaida. »Heute wird ein neuer schwarzer Tag«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. September 2012


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