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"Sie demütigen uns täglich"

Zur Lage im besetzten Irak acht Monate nach offiziellem Kriegsende

Von Karin Leukefeld

"Er hätte kämpfen müssen oder Selbstmord begehen", so das Fazit vieler Iraker wenige Tage nach der Festnahme ihres einst so stolzen Präsidenten Saddam Hussein in einem Erdloch nahe seines Heimatdorfes Ajwar.

Ob Anhänger oder Gegner, nur selten sind sich die Menschen nach der Eroberung des Irak durch die britisch-amerikanischen Truppen im April so einig gewesen. Die Vorführung des gebrochenen, wirr dreinblickenden Saddam Hussein mit ungepflegten Haaren und Bart hat ihre Wirkung nicht verfehlt. "Es ist eine Erniedrigung für uns alle, ihn so zu sehen", sagt Mona Al Safeer, die in der Rezeption eines Hotels arbeitet. "Immerhin war er unser Präsident." Für die Iraker ist unfaßbar, daß der Mann, der drei Jahrzehnte lang mit eiserner Faust den Irak zusammenhielt, wie ein Maulwurf aus seinem Loch gegraben wurde.

Mehr als 50 Prozent der Iraker sind jünger als 20 Jahre, sie haben nie einen anderen Präsidenten als Saddam Hussein gekannt. Doch für die jungen Leute, von denen sich jetzt viele an den neuen Freiheiten von Chatrooms im Internet oder Satellitenfernsehen erfreuen, ist der Schlag leichter zu verkraften. Schwerer ist es für die älteren Generationen. Sie profitierten in den 70er Jahren von den Neuerungen der Revolution, den Ölgeldern und dem wirtschaftlichen Aufschwung. Doch seit dem Iran-Irak-Krieg (1980-88) hat das Land nur noch Niedergang erlebt. Wie erstarrt versuchen die Älteren nun damit fertigzuwerden, daß der starke Mann des Irak sich scheinbar sang- und klanglos ergeben hat.

"Wenn er überhaupt noch bei Sinnen ist", meint nachdenklich der Taxifahrer Rafid. Er habe so merkwürdig ausgesehen auf dem amerikanischen Video, "doch vielleicht hat man ihn auch unter Gas gesetzt oder ihm Drogen injiziert", überlegt er in Anspielung auf Meldungen verschiedener arabischer Medien, wonach die US-Soldaten bei ihrem Vorrücken auf das Versteck Gas eingesetzt haben sollen. "Immer wollte er, daß wir kämpfen", erinnert sich Rafid. In der nationalen und der Al-Quds-Armee, in den Streitkräften des Volkes. Als Rafid heiratete, war er Soldat, als seine Töchter geboren wurden und aufwuchsen, war er immer noch Soldat. Zehn Jahre hat Rafid beim Militär gedient, und doch ist sein Land heute besetzt und sein geliebtes Bagdad verwahrlost in Trümmern und Abfall. "Uns hat er immer befohlen zu kämpfen, und nun hat er uns alle in dem Erdloch begraben."

In den kurdischen Städten im Norden und den schiitischen Städten im Süden des Landes fielen die Freudenfeiern üppiger aus als im Zentrum des Landes. Die Gründe dafür sind vielfältig. Kurden und Schiiten hatten vor allem die gewalttätige Seite von Saddam Husseins Politik kennengelernt, als er ihre Aufstände gegen die Zentralregierung blutig niederschlagen ließ. In Bagdad und den zentralirakischen Städten hingegen verfügte der frühere irakische Präsident über eine Art Glaubwürdigkeit. Auch wenn viele vor allem mit seiner aggressiven Außenpolitik nicht übereinstimmten, fanden sie doch in Nischen des Regierungsapparates ihr Auskommen. Vorausgesetzt, sie überschritten nicht die "rote Linie", d. h. mischten sich politisch nicht ein. Es war also nicht nur Benzinmangel, der die Menschen daran hinderte, zu Freudenkonvois aufzubrechen. Die Festnahme hat ihnen einfach die Sprache verschlagen.

Inzwischen haben viele ihre Sprache wieder gefunden. Hunderte Unterstützer von Saddam Hussein haben in den letzten Tagen gegen die Festnahme und öffentliche Vorführung protestiert, drei Menschen wurden dabei von US-Soldaten in Ramadi, einer Stadt westlich von Bagdad, getötet. Und auch die Aufständischen melden sich mit neuen Angriffen zu Wort. Ziele sind US-Konvois, Polizeistationen und die "Grüne Zone". So heißt das frühere Regierungsviertel, wo heute Mitarbeiter der US-Besatzungsverwaltung und deren Leiter, Paul Bremer, leben. Während westliche Politiker und Mitglieder des provisorischen Regierungsrates nach der Festnahme von Saddam Hussein voraussagten, die Sicherheitslage werde sich rasch beruhigen, sagten Kenner des Landes eine mögliche Steigerung von Angriffen voraus. Die Aufständischen setzen sich aus vielen verschiedenen Kreisen zusammen, die vielleicht gerade jetzt ihre Schlagkraft beweisen wollen. Es geht "nicht um Unterstützung von Saddam Hussein, sondern gegen die Besatzungsmächte", so der Politikwissenschaftler Hassan Al Ani, der an der Bagdad-Universität unterrichtet. "Die Gegner der Besatzung können jetzt kämpfen, ohne für Unterstützer von Saddam gehalten zu werden", sagt er.

Ein Zentrum von Aufständischen ist der kleine Ort Albu Hishma in der Nähe von Samarra, nördlich von Bagdad. Zwischen Baumwoll-, Tomaten- und Wassermelonenfeldern leben hier verschiedene Stämme auf ihren einfachen Höfen. Fließendes Wasser und asphaltierte Straßen gibt es nicht. Der Ort liegt am Ufer des Tigris, zum Süden hin erstreckt sich der Militärstützpunkt Al-Bakr, heute Basis und Flughafen für das amerikanische Militär.

In der Mitte des Fastenmonats Ramadan haben die US-Soldaten den Ort vollständig mit Stacheldraht abgesperrt. Sie wollten damit Angriffe auf ihr Militärcamp stoppen, die ihrer Meinung nach von den Leuten aus Albu Hishma ausgingen. Die Einwohner erhielten einen Passierschein, mit dem sie an einem Kontrollpunkt vorbei nach draußen gelangen können. Das Papier ist in englischer Sprache verfaßt. Ein großes Schild am Zaun verkündet: "Der Stacheldraht ist zu eurer Sicherheit da, spielt nicht damit." Von 17.00 bis 8.00 Uhr morgens setzen amerikanische Soldaten am Kontrollpunkt eine rigorose Ausgangssperre durch, tagsüber kontrollieren Iraker der neu gegründeten Zivilen Verteidigungskorps jeden, der nach Albu Hishma möchte.

Sabah Ibrahim Mahmoud ist Chef des Bani-Tamim-Stammes, der in Albu Hishma lebt. Sein Stamm ist nur klein, sagt er bescheiden, wir sind 250 Personen. Sabah Ibrahim gehört zum Nationalen Komitee der Führer und Scheichs der Irakischen Stämme, stolz zeigt er seine irakische Identitätskarte. Der Mann freut sich, daß endlich einmal ausländische Journalisten in den Ort kommen und steigt ins Auto. "Ich zeige ihnen, was bei uns los ist", sagt er hilfsbereit. Die Fahrt geht über die einzige Straße des Ortes, einen schmalen Feldweg. Rechts und links sieht man frisch renovierte Mauern, die von amerikanischen Panzern und bei Razzien zerstört worden waren. Ganze Familien seien verhaftet worden, viele seien noch immer nicht nach Hause gekommen, erzählt Sabah Ibrahim. Manche Gefangenen werden sogar bis nach Umm Qasr an die irakisch-kuwaitische Grenze gebracht. "Die Amerikaner respektieren unser Leben nicht, sie bombardieren auch unsere Felder", berichtet Sabah Ibrahim und stellt Fellah Meja Ibrahim Taha vor. Der Bauer ist 70 Jahre alt, erst vor wenigen Tagen schlugen in seinem Baumwollfeld fünf Granaten ein.

Eine Frau kommt aufgeregt angelaufen und schwingt eine Axt, mit der sie die Stümpfe der Baumwollpflanzen klein hakt. Warda Hussein Ahmed ist erst 30 Jahre, doch sieht sie um Jahre älter aus. "Wir bekommen kein Gas, kein Benzin", sprudelt es wütend aus ihr heraus. "Die Amerikaner haben gesagt, sie bringen uns die Freiheit, aber sie lügen, das sehen wir doch alle!" Auf die Frage, ob die Einwohner die Amerikaner angreifen würden, antwortet Sabah Ibrahim ausweichend. "Wir lieben die Amerikaner nicht, aber die Angreifer sind andere. Nachts kommen sie mit ihren Kastenwagen, bauen ihre Granatwerfer auf, feuern auf die Amerikaner und verschwinden wieder. Was können wir dafür!"

Mitte Dezember haben die Amerikaner nun die Stammesführer auf den Militärstützpunkt eingeladen und ihnen ein Friedensabkommen vorgeschlagen: Ihr schießt nicht mehr auf uns, dann schießen wir auch nicht mehr auf euch, steht sinngemäß darin. Die hundert Stammesführer aus Albu Hishma haben unterschrieben. Anschließend gab es ein großes Essen, und man trennte sich fast freundschaftlich, erzählt Sheik Majid Musla Jassem. Sheik Majid ist Chef eines Stammes mit 3 000 Personen und der Mukhtar von Albu Hishma, der Dorfvorsteher. "Die Amerikaner haben gesagt, einen Monat muß es ruhig bleiben, dann wird der Stacheldraht entfernt", berichtet er. Außerdem habe der zuständige Colonel Sassaman ihnen versprochen, eine Wasserleitung zu bauen und die Straße zu asphaltieren, wenn die Angriffe aufhörten. Ob sie das glauben sollen, weiß er auch nicht. "Saddam hat für uns auch nichts getan", sagt ein Mann, der sich als Abu Albu Hishma vorstellt. Ein Phantasiename, entschuldigt er sich. "Er hat unsere Felder genommen und den Militärstützpunkt draufgebaut." Niemand von ihnen hätte auf dem Flughafen Arbeit gefunden. Ausschließlich Soldaten seien dort gewesen. "Nie hat dieser Flughafen uns was Gutes gebracht."

Die Iraker stecken in einer Sackgasse. Die Menschen auf dem Land können sich meist irgendwie behelfen. Doch die anhaltenden Versorgungsprobleme in den großen Städten frustrieren und machen wütend. Acht Monate nach dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen funktionieren im Zentrum von Bagdad noch immer nicht die Telefone. Die Haushalte sind oft tagelang ohne Strom und Wasser, nicht jede Familie kann sich einen Generator leisten. Doch auch für den Generator braucht man Öl, was seit gut drei Wochen wie das Benzin extrem knapp geworden ist. Kilometerlang stauen die Autos sich vor den Tankstellen des Landes.

"Seit zwei Tagen haben wir keinen Strom gehabt, nur gestern für 15 Minuten, wie sollen wir da zurechtkommen?" Mona Al Safeer in der Hotelrezeption sieht mit unbewegter Miene auf den Bildschirm, wo an diesem Morgen zum ungezählten Mal die Bilder von dem Erdloch gezeigt werden, aus dem die US-Soldaten Saddam Hussein zogen. Frau Al Safeer ist Christin und gehört zu einer der Minderheiten, die durch die säkulare Verfassung des alten Irak besonderen Schutz genossen. Saddam Hussein schätzte die Zuverlässigkeit und Weitsicht christlicher Berater. Tarik Aziz, heute in US-Gefangenschaft, war der bekannteste von ihnen. Nun haben die Christen Angst, islamistische Kräfte unter den Schiiten könnten die Regierung übernehmen und aus dem Irak einen islamischen Gottesstaat nach dem Vorbild des Iran machen.

Spricht man mit Schiiten in Nadschaf, der "Heiligen Stadt" mit dem Schrein von Imam Ali, den sie als wahren Nachfolger des Propheten Mohammed verehren, scheint sich diese Ansicht zu bestätigen. Die Grabmoschee ist noch gezeichnet von den Folgen des Anschlags Ende August, bei dem der Führer des Hohen Rates für eine Islamische Revolution im Irak (SCIRI), Mohammed Bakir Al Hakim ums Leben kam. Mit ihm starben 95 Menschen. Am Ort der Explosion erinnern schwarze Spruchbänder an die Toten, die Mauer ist nur provisorisch repariert. Absperrgitter sind vor den Haupttoren aufgestellt, jeder Gläubige, der die Moschee betreten will, wird sorgfältig durchsucht. "Früher haben wir unter Saddam gelitten", schimpft ein Mann, und jetzt sei es auch nicht viel besser geworden.

Ein Zug junger Männer biegt um die Ecke und singt zum rhythmischen Klatschen der Hände Lobgesänge auf Schiitenführer Muqtada Al Sadr, dessen Bilder sie über ihren Köpfen schwenken. Viele ältere Männer sehen dem Treiben wortlos zu. "Früher konnte niemand hier sagen, was er dachte", sagt schließlich ein älterer Mann auf die Frage, was er von dem Auftreten der jungen Muqtada-Anhänger denkt. "Heute herrscht hier Meinungsfreiheit, das ist gut so." Alle umstehenden Männer sind sich einig, daß sich die Lage sehr verbessert hat. Besonders die Religionsfreiheit sei wichtig. Und wenn sie in einer Woche einen Präsidenten wählen sollten, wen würden sie wählen? "Abdul Aziz Al Hakim", sagen sie ohne zu zögern. Der Bruder des getöteten Ajatollahs Mohammed Bakir Al Hakim vertritt den SCIRI im von den Amerikanern eingesetzten Provisorischen Regierungsrat. Und weil Al Hakim die letzten 20 Jahre im Iran gelebt hat, wünschen sich die Leute gleich noch die Islamische Republik dazu.

Besonders die städtischen, aufgeklärten Schiiten sehen das ganz anders. Mohammed Ghani, mit 74 Jahren ein ebenso hochbetagter wie angesehener Bildhauer aus Bagdad, lehnt solche Ideen ab. "Alle vier Jahre Wahlen und ein säkulares System", fordert er. "So ist es in den meisten Ländern, so etwas brauchen wir auch im Irak." Die Festnahme von Saddam sei gut, vielleicht sollte man einen nationalen Feiertag daraus machen, überlegt er. Doch über die Zukunft des Landes macht er sich Sorgen. "Ich bin Shia, meine Frau ist Sunni, und viele unserer besten Freunde sind Christen", zählt er auf. Die Trennung der Iraker in verschiedene Volks- und Religionsgruppen sei ein großer Fehler der Amerikaner und der ausländischen Politiker. "Wir haben hier immer zusammengelebt, nur politische Interessen stecken hinter dem Versuch, uns voneinander zu trennen." Ghani, der nie Auftragsarbeiten für das alte Regime erledigte, wollte seine Heimat nie verlassen. Im Bagdader Museum der Modernen Künste hatte er eine eigene Ausstellung im 3. Stock. "Das ist davon übriggeblieben nach den Plünderungen Mitte April", zeigt er auf einen Schutthaufen im Hof hinter seinem Atelier. Skulpturen mit abgerissenen Gliedmaßen und zertrümmerten Köpfen liegen da. Plünderer hatten alles zerstört. Seine Skulpturen aus der alten mesopotamischen Mythologie zieren Plätze wie den vor dem Palestine-Hotel. "Der fliegende Teppich", auf dem zwei irakische Frauen hoffnungsvoll in eine neue Zukunft aufbrechen, steht heute in enger Nachbarschaft zu einem US-Abrahms-Panzer, der sich seit April unter einem Tarnnetz in den Grünstreifen vor dem Hotel eingegraben hat. Seit die Amerikaner in der Stadt seien, gehe er nicht mehr dorthin, meint der alte Mann mit den lebhaften braunen Augen. "Sie respektieren uns nicht, demütigen uns täglich."

Bitter registriert Mohammed Ghani, daß Iraker, die nach 20 oder 30 Jahren aus dem Exil zurückkehren, ihn und alle, die im Land geblieben sind, heute wie Kollaborateure des alten Regimes behandeln. "Nur weil wir hier gelebt haben! Sie wissen nicht, wie schwer das für uns alle war." Vielleicht ist die Festnahme von Saddam Hussein ja ein neuer Anfang, meint Ghani. Doch wirkliche Freude mag nicht aufkommen. Die Alltagsprobleme ohne Strom, Gas und Benzin, die Unsicherheit vor kriminellen Banden machen auch vor seiner Haustür nicht halt. Erst vor drei Wochen hatte man seinen Sohn entführt. Ein Lösegeld von 30000 US-Dollar wurde gefordert. Mit Mühe konnte Ghani 10000 Dollar von Freunden und Verwandten borgen, womit die Entführer sich schließlich zufriedengaben. Nach einer Woche hatte er seinen Sohn wieder.

Aus: junge Welt, 20.12.2003


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