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Frischer Wind

Irakisch-Kurdistan vor Wahlen. Erstmals formiert sich eine Opposition gegen die korrupte Zweiparteienherrschaft

Von Nick Brauns *

Wandel« ist das wichtigste Schlagwort im laufenden Wahlkampf in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak. Große Teile der Bevölkerung haben Korruption, Ämterpatronage und schamlose Bereicherung auf Kosten der Masse satt. Sie erleben sie durch die seit 1991 bestehende Zweiparteienherrschaft der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) des Präsidenten der Autonomieregion, Masud Barsani, und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) des irakischen Präsidenten Jelal Talabani. Am 25. Juli sollen die 2,5 Millionen Bewohner in den drei kurdischen Provinzen des Nord­irak - Arbil, Sulaimania und Dohuk - ein neues Gebietsparlament und den Präsidenten der Region wählen. Von 111 Abgeordnetenmandaten sind elf für ethnische Minderheiten wie Turkmenen und Assyro-Chaldäer reserviert, es gibt eine Frauenquote von 30 Prozent.

Referendum vertagt

Wie schon bei den letzten Wahlen haben KDP und PUK eine gemeinsame »Kurdistani-Liste« gebildet. Doch erstmals sieht sich dieser Parteienblock mit einer ernsthaften Opposition konfrontiert. Größter Herausforderer ist die vom ehemaligen stellvertretenden PUK-Generalsekretär Nawshirwan Mustafa geführte »Liste des Wandels«. Die liberal ausgerichtete Gruppierung tritt für eine Regierung ein, die nicht von den Politbüros kontrolliert wird. Gefordert wird eine unabhängige Justiz und Transparenz im Staatshaushalt.

Chancen werden auch dem aus vier islamistischen und sozialdemokratischen Parteien gebildeten Wahlblock »Dienstleistung und Reform« eingeräumt, der sich Korruptionsbekämpfung auf seine Fahnen geschrieben hat. Die darin führende »Islamische Gruppe Kurdistans« soll Verbindungen zum Iran sowie zur bewaffneten Untergrundgruppe Ansar Al-Islam besitzen.

Der überwiegende Teil des kurdischen Etats stammt aus dem Budget der Bagdader Zentralregierung. Die Kontrolle dieses nicht öffentlichen Haushalts sowie der mangels eigener wirtschaftlicher Entwicklung notwendigen Lebensmittel- und Konsumgütereinfuhr in die Region Kurdistan stellen für die in KDP und PUK organisierte Staatsklasse die zentrale Quelle ihrer Bereicherung dar. Durch Umverteilung dieser Einkünfte in klientelistische Netzwerke sichern diese Parteien bislang ihre Macht. Solange die als Reformer antretenden Oppositionsparteien nicht grundsätzlich mit dem neoliberalen Kurs brechen, Privatisierungen im Bereich von Energie und Infrastruktur nicht rückgängig machen und nicht auf die Entwicklung einer eigenständigen kurdischen Industrie und Landwirtschaft setzen, laufen sie daher Gefahr, schnell selbst zum Teil dieses Systems zu werden.

Mit einem antineoliberalen Programm tritt dagegen die von der Kommunistischen Partei Kurdistans KPK angeführte »Liste für soziale Gerechtigkeit und Freiheit« an. So soll der Staat die Verantwortung für Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitswesen übernehmen und die Landwirtschaft fördern.

Während KDP und PUK die staatliche Infrastruktur für ihren Wahlkampf einsetzen, beklagen Oppositionsparteien Behinderungen durch Milizen und Geheimdienste bis hin zu Morddrohungen gegen Kandidaten. Da die Wiederwahl von Masud Barsani zum Präsidenten als sicher gilt, haben KDP und PUK angesichts des drohenden Verlustes ihrer absoluten Mehrheit im Parlament Ende Juni noch schnell einen Verfassungsentwurf für die Region Kurdistan verabschiedet. Sie stattet den Präsidenten mit einer besonderen Machtfülle wie einem Vetorecht gegen alle parlamentarischen Initiativen aus. Nach vehementen Protesten der Bagdader Zentralregierung wurde das zur Parlamentswahl geplante Verfassungsreferendum jedoch vorerst vertagt.

Bündnis mit Türkei?

Zwar bekennen sich alle kurdischen Parteien und auch der Verfassungsentwurf formal zu einem föderativen Irak. Doch in Bagdad herrscht wie in Washington die Sorge, daß kurdische Kräfte die kritische Phase während des Teilrückzugs der US-Truppen aus dem Zweistromland zur Erlangung einer weitergehenden nationalen Unabhängigkeit nutzen könnten.

Angesichts des Rückzugs ihres bisherigen Schutzpatrons USA gibt es bei irakischen Kurdenführern offenbar Ambitionen, sich ausgerechnet der Türkei, die blutig gegen die Kurden im eigenen Land vorgeht, anzudienen. Dies berichtet die International Crisis Group in einem vergangene Woche veröffentlichten Report. »Wenn die Schiiten den Iran wählen und die Sunniten die arabische Welt, dann werden sich die Kurden mit der Türkei verbünden müssen«, wird darin Barsanis Stabschef Fouad Hussein zitiert. »Im Gegenzug benötigt auch die Türkei in diesem Fall die Kurden. Aus türkischer Sicht gibt es keinen anderen Freund oder Partner im Irak.«

* Aus: junge Welt, 15. Juli 2009


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