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Kein Geld für Medikamente

Krankenhäuser im US-besetzten Irak mangelhaft ausgestattet und hoffnungslos überlastet

Von Karin Leukefeld *

Als bei vier Anschlägen in Bagdad in der vergangenen Woche mehr als 200 Menschen getötet und mehrere hundert weitere verletzt wurden, waren die Notaufnahmen der örtlichen Krankenhäuser überfordert. Die meisten Opfer wurden in das am schnellsten erreichbare Krankenhaus Sadr City gebracht. »Wir konnten die vielen Verletzten nicht behandeln, weil es uns an Ärzten, Krankenschwestern, Medizin und Verbandsmaterial fehlte«, erklärte Dr. Ali Haydar Azize gegenüber Reportern. Während der Notoperationen seien ihnen die Vorräte ausgegangen, man hätte Verletzte in andere Krankenhäuser schicken müssen.

Die irakischen Krankenhäuser werden wöchentlich vom Gesundheitsministerium nur mit kleinen Vorratsmengen versorgt. Alle Kliniken im Land müßten versorgt werden, sagt Ministeriumssprecher Barak Muhammad. »Die Notaufnahmen in den Hospitälern müssen Geduld haben, uns fehlt einfach das Geld.« Mit zunehmender Gewalt seien die Notaufnahmen mehr gefordert, meint Dr. Azize vom Sadr City Krankenhaus. Dutzende Menschen würden jede Woche sterben, weil es an Material und Ärzten fehle. »Manchmal übernehmen die Krankenschwestern und Pfleger die Arbeit von Ärzten, weil es ihre Pflicht ist, Leben zu retten.« Im Yarmuk-Krankenhaus auf der Westseite des Tigris müssen Angehörige von Patienten sogar Spritzen selber kaufen, erklärt Dr. Ibrahim Ahmed, die Lage würde von Tag zu Tag schlechter. Den Notfallambulanzen fehlt es zudem an Fahrzeugen, Fahrern, geschultem Personal und Ausrüstung. Nach dem großen Anschlag am Sadriya Markt am 18. April gab es nur drei Ambulanzen, erklärt Abu Safwat, einer der Fahrer. Man habe fünf oder sechs Verletzte aufnehmen müssen. »Taxifahrer und Privatleute halfen uns und nahmen Verletzte mit, aber wegen den vielen Absperrungen und den Staus waren die Menschen tot, als die Wagen endlich im Krankenhaus ankamen.«

Auch im »normalen« Alltag wird das Leben für die Iraker immer gefährlicher. Gegenüber dem UN-Informationsnetzwerk IRIN warnte ein Experte des irakischen Umweltministeriums kürzlich vor Verseuchungsgefahren durch Anlagen, die seit Beginn des Invasionskrieges 2003 weder gesäubert noch abgesperrt seien. Wegen der Gewalt gegen städtische Angestellte, Personal- und Geldmangel im Ministerium stagniere die Säuberungsarbeit, erklärte Fuad Abdelsattar. Viele der Anlagen lägen in oder nahe bei Wohngebieten und seien durch Chemikalien und abgereichertes Uran verseucht. Auch die Flüsse, Seen und das irakische Trinkwassersystem seien hochgradig verseucht. »Aber es fehlt an Strom in den meisten der dicht besiedelten Gebiete, also ist es unmöglich, das Schmutzwasser abzupumpen und das Trinkwassersystem zu reinigen.« Ahmed Salim, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Umweltministeriums, wurde bei einer Probenentnahme von bewaffneten Männern bedroht. »Sie meinten, ich würde die Proben der USA übergeben und ihnen helfen, neue und stärkere Waffen zu entwickeln«, so Ahmed Salim. Er habe versucht, seine Arbeit zu erklären, doch schließlich sei er gezwungen worden, den Ort ohne die Proben zu verlassen. Manche der Anlagen befänden sich inmitten von Kampfgebieten, erläutert Salim weiter: »die petrochemischen Anlagen in Khan Dhari, westlich von Bagdad, Al Mishrak, eine der größten Sulfatminen weltweit südlich von Mossul oder der militärische Schrottplatz in Quiriej, außerhalb von Bagdad, wo es von nicht explodierter Munition und verseuchten Panzerteilen nur so wimmelt.« In den letzten drei Jahren sei die Zahl der Krebskranken von 4000 auf 9000 pro Jahr gestiegen, sagt Bassima Juad, Onkologin aus Bagdad. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind 52 Prozent aller Krebspatienten Kinder unter fünf Jahren. Sie erkranken vor allem an Leukämie, Blutkrebs.

Im bevorstehenden Sommer mit Temperaturen bis zu 60 Grad Celsius wird der Mangel an sauberem Trinkwasser für Kinder und alte Menschen lebensbedrohlich. Ärzte warnen vor Dehydrierung, Cholera und bakteriellen Infektionskrankheiten. Gefährdet sind vor allem die Kinder und Alten von vertriebenen Familien, die teilweise in Zeltlagern leben müssen. Zahra Muhammad verlor im vergangenen Jahr ihre vierjährige Tochter und ihre Mutter aufgrund der Hitze. Wegen Strommangel »konnten wir unser Zelt nicht kühlen«, berichtet die 35jährige gegenüber Journalisten. Ihre zwei anderen Kinder litten bereits an Unterernährung, für sie sei sauberes Wasser und Kühle lebensnotwendig, doch ihre Wohnsituation habe sich nicht verbessert. Zahra Muhammad ist verzweifelt: »Wenn ich noch ein Kind verliere, weil es uns an Strom für Kühlung und sauberem Wasser fehlt, will ich auch sterben.«

* Aus: junge Welt, 28. April 2007

Hundert Tote pro Tag

US-Angriffe, Terroranschläge, Unterernährung und verseuchtes Wasser: Die Weltgesundheitsorganisation verweist auf die alltägliche Katastrophe im US-besetzten Irak

Von Rainer Rupp **

Vier Jahre nachdem US-Präsident George W. Bush die Hauptkampfhandlungen im Irak für beendet und das Land für befreit erklärt hat, warnt die Weltgesundheitsorganisation (WTO) vor einer humanitären Katastrophe. In einer neuen Untersuchung quantifiziert die UN-Untrorganisation, wie verzweifelt die Lage der Bevölkerung des Zweistromlandes seit dem unprovozierten US-Angriffskrieg 2003 geworden ist. Die Zahl der Toten und Verwundeten infolge der sogenannten US-Säuberungsaktionen, der Anschläge des Widerstandes gegen Militärziele, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen, sowie den Terroroperationen der Todesschwadronen und der von Provokateuren gelegten Autobomben auf belebten Straßen und Märkten steigt stetig. Die WHO spricht von 100 pro Tag im vergangenen Jahr. Das Gros der irakischen Opfer ist nach der Zerstörung der Infrastruktur jedoch von gewöhnlichen Krankheiten bedroht und taucht in den offiziellen Kriegsstatistiken erst gar nicht auf.

Die WHO hält in ihrem Bericht fest, daß nach über vier Jahren US-Besatzung 80 Prozent der Iraker von der Abwasser- und Fäkalienentsorgung abgeschnitten sind. Bei der daraus resultierenden hochgradigen Verseuchung der Umwelt wiegt es dann besonders schwer, daß 70 Prozent der Iraker keinen geregelten Zugang zu sauberem Wasser mehr haben. Zugleich sind 60 Prozent der Iraker inzwischen aus dem öffentlichen Verteilungssystem für Grundnahrungsmittel herausgefallen. Dies ist hauptsächlich auf den Druck der US-Besatzer zurückzuführen, die die Umstellung der staatlich subventionierten Lebensmittelversorgung und Verteilung zugunsten einer freien Marktwirtschaft nach US-Vorbild betreiben. Das Resultat von Unterernährung und verseuchtem Wasser sind Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen, oft mit tödlichem Ausgang, weil die rettende medizinische Versorgung fehlt.

Die WHO macht Unterernährung und die erschreckenden hygienischen Zustände im Irak inzwischen für den Tod von zwei Dritteln aller Kinder verantwortlich, die sterben, bevor sie das Alter von fünf Jahren erreicht haben. Dabei war der Irak noch vor dem ersten US-Angriff 1991 das medizinisch und sanitär flächendeckend am besten versorgte Land im Nahen Osten gewesen. Vor der jüngsten Invasion im Jahr 2003 litt das irakische Gesundheits- und Sanitärwesen zwar zunehmend unter dem US-Boykott, Iraks Ingenieure hatten allerdings wahre Wunder vollbracht, um den Menschen sauberes Wasser bereitzustellen. Nun, nach vier Jahren US-Besatzung kann die Lage kaum noch schlimmer werden.

Laut einer von UNICEF im Jahre 2006 landesweit durchgeführten Untersuchung sind 21 Prozent der irakischen Kinder chronisch unterernährt und durch erhöhte Neigung zu physischer und mentaler Verkrüppelung ernsthaft gefährdet. Die WHO-Statistiken waren in der vergangenen Woche anläßlich der Irak-Konferenz des UN-Hochkommissars für Flüchtlingsfragen in Genf präsentiert worden. Die desaströse Lage im irakischen Gesundheitswesen wird durch zwei Millionen Binnenflüchtlinge als Folge von Krieg und Besatzung zusätzlich verschlimmert. Weitere zwei Millionen Iraker haben ihr Land bereits verlassen (siehe Spalte rechts).

Auch Khalid Shibib von der WHO-Krisengruppe erwartet eine weitere Verschlechterung im Irak, »insbesondere wenn so viele entwurzelte Menschen in Lagern zusammengepfercht sind«. Er rechnet sogar mit einer Tuberkulose- und Choleraepidemie, falls die sanitären Bedingungen sich nicht verbessern. Letzteres hält Shibib jedoch für unwahrscheinlich, fliehen doch Monat für Monat weitere Ärzte, Krankenschwestern und anderes geschultes medizinisches Personal aus dem von den USA »befreiten« Land. So zitiert der WHO-Bericht die irakische Regierung, wonach 70 Prozent der schwerverletzt in die Krankenhäuser eingelieferten Patienten sterben, weil es an Personal, Medikamenten und Geräten mangelt.

Professor Les Roberts, der weltweit führende Spezialist auf dem Gebiet öffentlicher Erhebungen zur Gesundheitsversorgung und Sterblichkeit, geht jedoch davon aus, daß die neuen WHO-Zahlen das tatsächliche Ausmaß der menschlichen Tragödie im Irak noch weit unterschätzen. Dennoch lobte er die Weltgesundheitsorganisation für ihren »großartigen Hochseilakt«, nämlich die Weltöffentlichkeit zu alarmieren, »daß die Gesundheitssituation im Irak wirklich schlecht ist und wahrscheinlich noch schlechter wird«, ohne dabei den politischen Autoritäten in Bagdad auf die Füße zu treten. Daß die Lage tatsächlich viel schlimmer ist als im Bericht dargestellt, belegt Roberts mit einem Verweis auf die Zahl der Toten, die von der WHO genannt wird. Die tatsächliche Zahl liege um ein Vielfaches über dem von der UN-Organisation genannten Tagesdurchschnitt von 100. Unter der Führung von Roberts war im vergangenen Jahr eine Untersuchung über die Auswirkungen des US-Krieges im Irak durchgeführt und in der renommierten britischen Medizinerzeitschrift The Lancet veröffentlicht worden. Darin hatte Roberts die direkten und indirekten Todesopfer des US-Krieges im Irak auf 650000 beziffert.

** Aus: junge Welt, 28. April 2007




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