Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein schlimmer Ort

Nichts ist gut im von den USA »befreiten Irak«: Lage der Kinder nach zwei Jahrzehnten Sanktionen, Krieg und Besatzung verheerend

Von Karin Leukefeld *

Im Mai 1996 wurde die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright im US-TV-Magazin »60 Minutes« zu den Folgen der auf Druck Washingtons verhängten UN-Sanktionen gegen den Irak befragt. 500000 Kinder seien gestorben, »mehr als in Hiroschima«, hieß es in der Moderation. »Glauben Sie, daß es den Preis wert ist?« Es sei eine »sehr schwere Entscheidung«, meinte Albright und bekräftigte dann: »Wir denken, es ist den Preis wert.« Bis heute sterben jedes Jahr mehr als 300000 Kinder im Irak.

Am vergangenen Mittwoch (13. Juni) wurden bei der Explosion von Autobomben in Bagdad, Hilla und Kerbala mindestens 84 Menschen getötet, Hunderte weitere verletzt. Wie viele Kinder bei Anschlägen sterben, wird in den Medien in der Regel nicht extra erwähnt. Lediglich der vor einer Woche vorgelegte UN-Bericht über Kinder in bewaffneten Konflikten erwähnt diese. International Beachtung fanden allerdings einzig die Ausführungen zur Lage in Syrien, das Nachbarland Irak interessierte weniger.

Der UN-Report macht als Täter im Zweistromland einseitig nur die dubiosen Gruppen »Al-Qaida im Irak« und »Islamischer Staat Irak« (ISI) verantwortlich. Im Jahr 2011 seien demnach Kinder bei 342 Angriffen betroffen gewesen. Beide Gruppen hätten Minderjährige rekrutiert und ausgebildet und schließlich für bewaffnete Aktionen eingesetzt. Wegen der Sicherheitsprobleme im Irak seien Zahlen nicht verifizierbar, doch seien Fälle bekannt, in denen Kinder als Spione und Späher eingesetzt worden seien. Außerdem hätten sie militärischen Nachschub transportiert, Angriffe mit Videokameras dokumentiert und Sprengladungen an Straßenrändern vergraben. Die »Jugendorganisation« von »Al-Qaida im Irak« mit dem poetischen Namen »Paradiesvögel« habe allerdings aus unerfindlichen Gründen ihre Tätigkeit eingestellt. 294 Kinder, darunter auch Mädchen, seien nach Artikel 4 des Antiterrorgesetzes aus dem Jahr 2005 von den zuständigen Stellen verurteilt worden. Mindestens 146 Kinder wurden infolge bewaffneter Auseinandersetzungen im vergangenen Jahr getötet, 265 verletzt. Die Zahl der Entführungen von Minderjährigen – meist wegen Lösegeld – nehme zu. Der Gang zum Unterricht sei für viele gefährlich geworden, 45 Mal seien Schulen angegriffen worden.

Für Kinder im Irak birgt der Alltag weit mehr Gefahren. Darüber berichtete kürzlich vor dem alternativen Kriegsverbrechertribunal in Kuala Lumpur (7.–12. Mai 2012) Bie Kentane. Die belgische Aktivistin des »BRussells Tribunal«, das sich seit 2004 mit Kriegsverbrechen im Irak befaßt, machte deutlich, daß den Kindern im Zweistromland seit zwei Jahrzehnten massiv Unrecht angetan wird. Jahrzehnte des Krieges, ausländische Besatzung und internationale Sanktionen hätten ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen zugefügt. Nachdem der Irak 1981 von der UNESCO als erstes Entwicklungsland für seine Fortschritte bei der Alphabetisierung ausgezeichnet worden war, ist das Land heute nach zwei US-Militärinterventionen und jahrelangen Sanktionen »einer der schlimmsten Plätze für Kinder im Mittleren Osten und Nordafrika«, so Kentane. »3,5 Millionen Kinder leben in Armut, 1,5 Millionen unter fünf Jahren sind unterernährt und 100 Kinder sterben pro Tag.« In keinem Land der Welt steige die Kindersterblichkeit so rapide wie im Irak, heißt es auch in einer Studie von »Save the Children« (2005). Zwischen 1990 und 2005 wuchs sie um 150 Prozent.

Während der Zeit der US-Besatzung (2003–2011) waren 39 Prozent der bei US-Luftangriffen getöteten Iraker minderjährig (www.iraqbodycount.org). Bei Artillerieattacken der US-Koalitionstruppen, von irakischen Streitkräften und von Aufständischen waren 42 Prozent der Opfer Kinder. Die Jüngsten leiden an Unterernährung und Krankheit, sie leiden unter Armut, fehlender wirtschaftliche Entwicklung und dem Mangel an öffentlichen Dienstleistungen (sauberes Wasser, Strom, Wohnung, Bildung). Sie erkranken und sterben an den Folgen einer massiven Umweltverschmutzung. Ärzte in Falludscha stellten 2010 einen drastischen Anstieg von Krebserkrankungen, Mißbildungen bei Neugeborenen und Totgeburten fest. Die Ursachen werden im Einsatz illegaler Waffen der Besatzungstruppen während der Belagerung 2004 vermutet. Kinder werden bedroht durch Streubomben und Landminen, die aus Kriegen und Angriffen der letzten Jahre übriggeblieben sind. In einer Studie der UN-Mission im Irak aus dem Jahr 2011 heißt es, daß 24 Prozent aller Minenopfer Kinder unter 14 Jahren sind. Die Zahl der durch diese Sprengkörper Verletzten und Getöteten stieg demnach von 5500 (1991) auf 80000 (2007) an. 45,7 Prozent der Opfer gehören der Altersgruppe zwischen 15 und 19 Jahre an. Sowohl die UN-Kinderhilfsorganisation (UNICEF) als auch das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) gehen davon aus, daß diese Zahlen untertrieben sind.

Weitere Informationen: www.un.org/children/conflict www.brussellstribunal.org

* Aus: junge Welt, Montag, 18. Juni 2012


Statt Arztbesuch Exekution durch den Henker

Zahl der Hinrichtungen im Irak laut Amnesty »alarmierend« hoch. Angehörige bangen um das Leben des Inhaftierten Tarik Aziz

Von Karin Leukefeld **


Als die von den USA, Großbritannien und Australien geführten Besatzungstruppen im März 2003 den souveränen Staat Irak überfielen, hatten die Herren des »neuen Irak« einen zynischen Steckbrief im Gepäck. In Form eines Kartenspiels waren Iraker zur Fahndung ausgeschrieben, als Herz-As (Saddam Hussein) oder Pik-Acht (Tarik Aziz) wurden sie gesucht, »tot oder lebend«. Die Nummer Vier auf der Liste war Abid Hamid Hamoud, persönlicher Sekretär und Mitarbeiter des damaligen Präsidenten Saddam Hussein. Hamoud wurde im Juni 2003 festgenommen, sieben Jahre später, im Oktober 2010 wurde er – zusammen mit Tarik Aziz und dem ehemaligen Geheimdienstchef Sadoun Schakir – zum Tode verurteilt. Tarik Aziz war von 1983–1991 Außenminister, zwischen 1979 und 2003 Vizepräsident des Irak. Er hatte sich den US-Besatzungsbehörden am 24. April 2003 gestellt.

Ohne daß die irakische Regierung seine Familie oder Anwälte informiert hätte, wurde Hamid Hamoud am 7. Juni 2012 hingerichtet. Als man ihn an diesem Tag aus seiner Zelle holte, war der Gefangene Hamoud der Meinung, er werde zu einer medizinischen Untersuchung geführt. Tatsächlich brachte man ihn zum Henker, berichtete eine gut informierte Person, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, gegenüber junge Welt. Offenbar hege die Regierung von Ministerpräsident Nuri Al-Maliki »so tiefe Rachegefühle, daß sie die vorgeschriebenen Formalitäten (im Falle einer Hinrichtung, jW) einfach ignorierte«. Angehörige, Anwälte und Freunde von Tarik Aziz und Sadoun Schakir äußerten nun die Sorge, daß es beiden ebenso ergehen könne, wie Hamoud. Saad Yousif Al-Muttalib, ein Berater Malikis, hatte bereits früher öffentlich erklärt, daß Aziz exekutiert werde. »Nichts könne sie mehr stoppen, wo sie nun alle Formalitäten offen ignorieren«, so der jW-Informant. Es gelte, »die Welt zu informieren« über das Vorgehen der irakischen Regierung und Bagdad daran zu hindern, weitere Gefangene zu töten.

Amnesty International (USA) bezeichnete die Zahl von Hinrichtungen im Irak als »alarmierend«. Allein in der ersten Jahreshälfte 2012 sollen mindestens 70 Personen exekutiert worden sein, genaue Zahlen sind nicht bekannt. 35 Personen wurden an einem einzigen Tag im Januar getötet, was die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay als »erschreckend« bezeichnete. Angesichts der ›unklaren Verfahren‹ äußerte sie große Bedenken, »daß die Prozesse fair« verlaufen seien. Pillay kritisierte, daß die Todesstrafe für sehr viele verschiedene Taten vorgesehen sei. Obwohl bekannt sei, daß viele Geständnisse unter Folter abgelegt würden, sei »nicht ein einziger Fall von Begnadigung« bekanntgeworden.

Laut Amnesty gibt es Berichte, wonach Folter und Erniedrigung der Gefangenen vor allem in den Haftzentren von Verteidigungs- und Innenministerium an der Tagesordnung seien. Beide Ressorts werden von Ministerpräsident Maliki geleitet. Die Organisation geht von etwa 30000 Inhaftierten aus, genaue Zahlen seien nicht bekannt. Die Gefängnisse seien überfüllt, viele würden ohne Anklage und Verfahren jahrelang festgehalten.

Exiliraker haben sich nun an den Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, gewandt, um die drohende Hinrichtung von Tarik Aziz, einem chaldäischen Christen, zu stoppen.

Die britische Journalistin Felicity Arbuthnot, die über den Irak seit Jahren ausführlich berichtet, verweist in einem Beitrag für das Internetportal Global Research darauf, daß Nuri Al-Maliki Mitglied der Dawa-Partei sei, die 1982 versucht hatte, Saddam Hussein und Tarik Aziz zu ermorden. Dawa war daraufhin im Irak verboten und deren Mitglieder massiv verfolgt worden. Maliki wurde damals in Abwesenheit zum Tode verurteilt und lebte bis zu seiner Rückkehr in den Irak 2003 im Exil im Iran und in Syrien

* Aus: junge Welt, Montag, 18. Juni 2012


»Illegale Aktivitäten«

Hintergrund: Irak-Aktivistin Ayse Berktay wird Prozeß gemacht ***

Die Friedensaktivistin Ayse Berktay wurde im Oktober 2011 in Istanbul verhaftet. Mit ihr wurden 144 Personen, die meisten von der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), festgenommen. Berktay ist in Istanbul im Frauengefängnis Bakirköy inhaftiert. Ihr wird vorgeworfen, »illegale Aktivitäten« begangen zu haben. Gemeint sind Reisen nach Spanien, Schweden, Japan und Belgien, wo sie an Treffen des Welttribunals zum Irak (WTI) teilgenommen hatte. Ayse Berktay ist Mitorganisatorin des WTI, das 2004 in Anlehnung an die »Russell-Tribunale« über den Vietnamkrieg gegründet wurde. Ziel ist, Informationen über verschwiegene Kriegsverbrechen im Irak öffentlich zu machen, weniger, Schuldsprüche zu fällen.

Bei Massenfestnahmen in der Türkei im vergangenen Jahr wurden mindestens 6000 politische Aktivisten verschiedener Parteien, Journalisten, Anwälte, Bürgermeister und Politiker verhaftet. All das lief unter der Rubrik »Antiterrorkampf«. In den Ländern der arabischen Umbrüche wird das »türkische Modell« einer »islamischen Demokratie« bejubelt, in der Türkei halten derweil willkürliche Verhaftungen, politische Repression Oppositioneller und militärische Zerstörung an. Fast zehntausend Menschen haben bisher eine Petition zur Freilassung der Gefangenen unterschrieben.

Das Verfahren gegen Ayse Berktay und andere wird vom 3. bis zum 13. Juli in Silivri stattfinden. WTI-Aktivisten und Abgesandte der belgischen Gruppe »BRussells Tribunal« werden den Prozeß besuchen, um den Gefangenen ihre Verbundenheit zu zeigen. Sie rufen zur Solidarität mit Ayse Berktay und den anderen Inhaftierten auf. Als Partnerin des »BRussells Tribunal« sei Ayse Berktay eine engagierte Friedens- und Menschenrechtsaktivistin und gehöre nicht ins Gefängnis, schrieben vor wenigen Tagen Lieven de Cauter und andere Aktivisten an den türkischen Botschafter in Belgien.

Petition: www.ipetitions.com/­petition/detentionsinturkey/

Informationen zur Delegation und dem Prozeß von Ayse Berktay: www.brussellstribunal.org


* Aus: junge Welt, Montag, 18. Juni 2012


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